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16 December 2022

Flensburger Einhorn

Klimaschutz als rechtfertigender Notstand – ein Follow up

Das Urteil des Amtsgerichts Flensburg zu Klimaschutz als rechtfertigendem Notstand stößt auf Begeisterung und scharfe Ablehnung. Nachdem der Freispruch eines Klimaaktivsten durch das Gericht bereits im November bekannt wurde, sind nun die Urteilsgründe veröffentlicht worden. Inmitten der zunehmend intensiver geführten Debatte um den juristisch „richtigen“ Umgang mit Klimaaktivismus schlägt das Urteil eine ebenso ungewohnte wie mutige Richtung ein.

Ein Klimaaktivist, der einen Baum besetzte und so dessen Rodung zu verhindern suchte, wurde vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB) freigesprochen. Aus folgendem Grund: Der Angeklagte handelte zwar tatbestandsmäßig, jedoch im Ergebnis nicht rechtswidrig. Vielmehr war er nach Auffassung des Gerichts aufgrund eines Notstands gem. § 34 StGB gerechtfertigt. Auf allgemeine strafrechtliche Erwägungen im Zusammenhang mit diesem Urteil und der Rechtfertigung klimaaktivistischer Protestaktionen wurde bereits eingegangen. Anders als die bisher auf dem Verfassungsblog erschienen Texte zu dem Urteil (s. dazu hier und hier) sollen im Folgenden jedoch noch einmal Schritt für Schritt die Urteilsgründe nachgezeichnet und besprochen werden. Dabei zeigt sich, dass die Erwägungen des Gerichts aus strafrechtlicher Perspektive nicht abwegig sind, sondern vielmehr spezifische Besonderheiten des Klimawandels beachten.

Das Urteil

Beinahe lehrbuchartig prüft das Gericht die Voraussetzungen des § 34 StGB, der als Rechtfertigungsgrund Situationen berücksichtigt, in denen „der Verstoß gegen ein Verbot die einzige Möglichkeit zur Abwendung drohender Schäden darstellt, deren Hinnahme für die Rechtsordnung im Einzelfall weitaus schwerer zu ertragen wäre.“1) Das Gericht bejaht u.a. sowohl, dass eine Notstandslage vorliegt, als auch, dass die Besetzung des Baums eine geeignete Notstandshandlung darstellt. Auffällig ist die klimaspezifische und verfassungsrechtliche Argumentation des Gerichts, die sich darum bemüht, die Kernaussagen des Klimabeschlusses des BVerfG (s. hierzu die zahlreichen erschienen Beiträge) für die strafrechtliche Prüfung des § 34 StGB fruchtbar zu machen. Und schließlich ist auch die explizite Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Besonderheiten der anthropogenen Erderwärmung erfreulich.

Die Notstandslage

Das Gericht bejaht zunächst, dass eine Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut vorliegt und stellt dabei auf den Klimaschutz selbst als kollektives Rechtsgut ab. Dessen  verfassungsrechtliche Grundlage liege in Art. 20a GG, der  „als unmittelbar geltende und justiziable Rechtsnorm alle staatlichen Organe [bindet].“2) Diese konstitutionelle Verankerung und die damit einhergehende Verpflichtung, „unbestimmte Rechtsbegriffe des einfachen Rechts (…) iSd § 34 StGB im Lichte und unter Berücksichtigung einer effektiven Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Klimaschutzverpflichtung gem. Art. 20a GG auszulegen“ (S. 6), bildet nach Ansicht des Gerichts die Grundlage des Klimaschutzes als notstandsfähiges Rechtsgut. An dieser Stelle wird bereits deutlich, wie sich das Gericht um eine verfassungskonforme, die Wertungen des Art. 20a GG berücksichtigende Auslegung des § 34 StGB bemüht, auf die es auch in der weiteren Erörterung des Notstands zurückgreift.

Dass für das Rechtsgut „Klimaschutz“ auch eine Gefahr besteht, wird relativ zügig unter Rückgriff auf naturwissenschaftliche Grundlagen und die Weite des Gefahrenbegriffs des § 34 StGB bejaht. Wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über die „negativen Folgen wie Hitzewellen, Überschwemmungen oder Wirbelstürme“ (S. 7) seien hierfür ein Beispiel. An dieser Stelle zeigt sich jedoch eine gewisse Unstimmigkeit zum eingangs herangezogenen Rechtsgut des Klimaschutzes – nicht der Klimaschutz ist es, der durch die Erderwärmung in Form von Natur- und Extremwetterereignissen bedroht ist, sondern vielmehr das humane Klima als Kollektivrechtsgut selbst.3) Überzeugender und stimmiger scheint es daher, auf das für das menschliche Leben, für die menschliche Zivilisation4) geeignete Klima als bedrohtes Rechtsgut abzustellen – die Gefahr ist selbstredend der Klimawandel selbst.

Dass auch eine gegenwärtige Gefahr (für den Klimaschutz bzw. für das Rechtsgut „humanes, die menschliche Zivilisation erlaubendes Klima“, s.o.) besteht, bejaht das Gericht recht zügig und in der Argumentation erfreulich wissenschaftlich. Die drohenden Folgen der aktuellen Erderwärmung sind hinreichend belegt, sodass „ein Zustand, bei dem es nach den konkreten tatsächlichen Umständen wahrscheinlich ist, dass es zum Eintritt eines schädigenden Ereignisses kommt“ (S. 7), mithin eine Gefahr, vorliegt. In Bezug auf das Kriterium der Gegenwärtigkeit wird überzeugend klargestellt, dass eine Gefahr nicht nur dann gegenwärtig ist, wenn der Schadenseintritt unmittelbar bevorsteht, sondern auch dann, „wenn zwar der weitere Schadenseintritt möglicherweise nicht unmittelbar bevorsteht, er jedoch nur noch durch sofortiges Handeln abgewendet werden kann (S. 8). Der Gegenwärtigkeit steht also nicht entgegen, dass die derzeitige Erderwärmung 1,5 bzw. 2 Grad noch nicht erreicht hat.5)

In dieser Hinsicht berücksichtigt das Gericht, dass die derzeitigen Klimaschutzbemühungen „in vertretbarer Weise als insgesamt unzureichend“ wahrgenommen werden können (S. 7) und betont dabei, dass den „mit hoher Wahrscheinlichkeit vielfach irreversiblen Schäden durch entsprechende Maßnahmen des Klimaschutzes (…) [nicht mehr] wirksam begegnet werden könnte“ (S. 8). Das sofortige und unbedingte Interventionsbedürfnis zur Eindämmung des Klimawandels rechtfertigt damit, die Gegenwärtigkeit der Gefahr zu bejahen.

Die Notstandshandlung

Ferner muss die Notstandshandlung – das Besetzen des Baumes – geeignet zur Abwehr der Gefahr – dem Klimawandel – sein, was das Gericht zugunsten des Baumbesetzers bejaht.

Zu diesem Ergebnis kommt das Gericht, indem es einen konkreten „unmitttelbare[n] Wirkungszusammenhang zwischen der Tat des Angeklagten und der Abwendung der Gefahr für das notstandsfähige Rechtsgut“ (S. 9) bejaht. So ist das Fällen des einzelnen Baumes bzw. des durch die Rodung bedrohten Waldes insgesamt als klimaschädliche Maßnahme anzusehen, denn die „zentrale Bedeutung von Bäumen (…) zur Bindung des Treibhausgases CO2 und damit zur Verhinderung des Klimawandels ist wissenschaftlich erwiesen“ (S. 9). Die Besetzung des Baumes zur Verhinderung seiner Rodung leistet damit einen Beitrag zu Eindämmung des Klimawandels. Das Gericht gesteht zwar zu, dass jener Beitrag nur als vergleichsweise gering zur Abwendung der globalen Gefahr des Klimawandels einzuordnen ist. Allerdings wird an dieser Stelle dessen komplexe und multidimensionale Gefahreneigenschaft erkannt. Auch nur geringfügig wirkende Rettungshandlungen können daher geeignet sein. Dem Klimawandel ist es nämlich gerade immanent, dass er „nur noch durch eine Vielzahl von Maßnahmen und Einschränkungen bewältigt werden kann“ (S. 10). Einzelne Maßnahmen sind für sich genommen damit nie geeignet, den Klimawandel als solchen aufzuhalten. Dieses Erfordernis eines langfristigen, komplexen Vorgehens zur Eindämmung der Erderwärmung wird damit erfreulicherweise bei der Beurteilung der individuellen Notstandshandlung berücksichtigt. Die rein physikalische Argumentation, die Rettung eines einzelnen Baumes sei als nur unwesentlicher Beitrag zum Schutz des Klimas ungeeignet, kann damit bei solch komplexen Vorgängen wie dem Klimawandel nicht überzeugen.

Im Rahmen der Erforderlichkeit stellt das Gericht fest, dass das Besetzen des Baumes auch das relativ mildeste Mittel zur Gefahrenabwehr war. Dies gelingt vorliegend (nur) mit einigem Begründungsaufwand und zeigt eine doch erstaunliche Tendenz des Gerichts, wenn nicht sogar ein vorsichtiges Eingeständnis staatlichen Unvermögens in der Klimafrage. So wird der im Rahmen des § 34 StGB geltende Vorrang staatlichen Handelns grundsätzlich anerkannt. Allerdings gilt dieser Vorrang des staatlichen Gewaltmonopols nicht absolut, sondern kann in Fällen behördlicher oder staatlicher Aussichtslosigkeit6) durchbrochen werden. Dahingehend konstatiert das Gericht, dass „staatliche Gefahrenabwehrmaßnahmen zur Verhinderung des Klimawandels und zur Herstellung von Klimaneutralität (…) keine objektiv gleiche Eignung aufweisen“ (S. 14). Auch wenn man sich an der Pauschalität dieser Aussage und der fehlenden Erörterung der eingereichten verwaltungsgerichtlichen Klage gegen die Baugenehmigung mit guten Gründen stören kann, steht das Ergebnis letztlich im Einklang mit aktuellen Einschätzungen der (deutschen) Klimaschutzpolitik. Diese ist nämlich seit Jahren unzureichend. Aktuelle Prognosen sehen es als unwahrscheinlich an, dass die deutschen Klimaschutzziele bis 2030 erreicht werden.7) Berücksichtigt man damit das staatliche Handeln (bzw. Unterlassen) zur Abwehr der Gefahr „Klimawandel“ insgesamt, so ist die Annahme, dass dieses ungeeignet ist, tatsächlich nicht fernliegend.8) Die Einschätzung, wonach der Angeklagte in hinreichend vertretbarer Weise von der Ungeeignetheit staatlicher Maßnahmen ausgehen durfte (S. 15), untermauert das Gericht letztlich mit der Auslegung des § 34 StGB im Lichte der Verfassung sowie unter  Rekurs auf den Klimabeschluss des BVerfG. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit den Rechtsmitteln im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit wäre zwar wünschenswert, kann im Übrigen aber die gerichtliche Argumentation nicht entkräften.

Anzumerken sei an dieser Stelle, dass das staatliche Gewaltmonopol ebenfalls in Fällen des „zeitkritischen Moments“ oder bei Verletzung von grundrechtlichen Schutzpflichten durchbrochen werden kann.9) Dass dies Fallgruppen sind, die bei zunehmendem Fortschritt des Klimawandels und konstant unzureichenden Maßnahmen – auch wenn eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten im Klimabeschluss des BVerfG gegenwärtig gerade noch nicht festgestellt wurde – herangezogen werden können, liegt jedenfalls nicht fern.

Die Hürden der Interessenabwägung und Angemessenheit  

Überraschend und gleichsam überzeugend ist, dass auch die Interessenabwägung und letztlich die Angemessenheit zu Gunsten des Angeklagten ausfallen. Zwar liegt vorliegend nach Ansicht des Gerichts kein sog. ziviler Ungehorsam vor, der überwiegend – mangels Angemessenheit – als nicht gem. § 34 StGB rechtfertigbar bewertet wird.10) Dennoch handelt es sich bei der Interessenabwägung und Angemessenheit um anspruchsvolle Prüfungsschritte, die das Gericht mittels verfassungskonformer Auslegung und unter Berücksichtigung klimaspezifischer Besonderheiten jedoch bewältigt.

Zunächst zur Interessenabwägung, die ein wesentliches Überwiegen des Erhaltungsguts (hier: humanes Klima) gegenüber dem Eingriffsgut (hier: Hausrecht) fordert. Neben einer abstrakten Gegenüberstellung der betroffenen Rechtsgüter ist eine umfassende Gesamtabwägung vorzunehmen.11)

Das Gericht setzt sich zunächst ausführlich mit dem Klima(-schutz) als Erhaltungsgut auseinander und zieht dabei insbesondere verfassungsrechtliche Aspekte heran, die die „zentrale Bedeutung des Klimaschutzes verdeutlichen“ (S. 15): Seine normative Verankerung in Art. 20a GG, die „systematische Position des Klimaschutzes als Staatszielbestimmung (…) unmittelbar im Anschluss an die (…) Fundamentalnorm des Art. 20 GG“ (S. 15) sowie die Zunahme des „relative[n] Gewicht[s] des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel“. Demgegenüber ist das beeinträchtige Rechtsgut des § 123 StGB (Hausrecht) zwar an sich ein „wichtiges rechtlich geschütztes Interesse“, letztlich aber ein sog. Bagatelldelikt mit „geringe[m] Strafbedürfnis“ (S. 16).

Zudem gilt es den Grad der drohenden Gefahren zu berücksichtigen. Diese wird in Form des Klimawandels als hoch, in Form der Verletzung des Hausrechts des Eigentümers als gering eingeschätzt. Zum einen drohen durch die Erderwärmung negative Folgen, die „sich nach aktuellem (…) Stand (…) in noch signifikant größerem Umfang realisieren werden“ (S. 17), während das Interesse am Hausrecht an einem Waldgelände (im Gegensatz etwa zu bewohnten Häusern) geringer gewichtet wird.

Neben dem Grad der drohenden Gefahren muss jedoch auch die Rettungschance durch die Notstandshandlung Eingang in die Abwägung finden. Diese Rettungschance zur Abwendung des Klimawandels durch das Baumbesetzen ist aber – wie bereits festgestellt – vergleichsweise gering, sodass das Gewicht des beeinträchtigten Rechtsguts – das Hausrecht – grundsätzlich höher anzusetzen wäre.12) Eigentlich, denn das Gericht erklärt diesen Grundsatz für „Konstellationen (…), in denen (…) eine sehr komplexe und längerfristige Herausforderung gegeben ist, die zum heutigen Zeitpunkt nur noch durch eine Vielzahl von Maßnahmen und Einschränkungen bewältigt werden kann“, für nicht anwendbar (S. 17) – und berücksichtigt damit gerade die klimawandelspezifische Gefahreneigenschaft. Für diese folgenreiche Relativierung, die auch auf andere klimaaktivistische Sachverhalte übertragbar scheint, spricht auch der Grundsatz, dass „das Risiko eines Misslingens (…) umso höher sein [darf], je größer die Gefahr und je schutzwürdiger das Erhaltungsgut bzw. je unbedeutender der Schaden auf der Eingriffsseite ist.“13) Wie vorliegend der Klimawandel einerseits und die Verletzung des Hausrechts andererseits zu gewichten wären, liegt auf der Hand.

Im Rahmen der Angemessenheit setzt sich das Gericht insbesondere mit der Vereinbarkeit der Notstandshandlung mit verfassungsrechtlichen Wertungen auseinander. Es stellt dabei nicht nur keinen Widerspruch zu grundlegenden Verfassungsprinzipien fest, sondern konstatiert vielmehr sogar ausdrücklich, „dass Handlungen, die das Ziel des Klimaschutzes verfolgen, im Grundsatz sogar ausdrücklich in Übereinstimmung mit übergeordneten verfassungsrechtlichen Wertsetzungen stehen“ (S. 18). So ist der Klimaschutz gleich in mehrdimensionaler Hinsicht (gesetzlich) verankert: Das verfassungsrechtliche Gebot des Art. 20a GG, die einfachgesetzliche Festlegung bestimmter Ziele im Klimaschutzgesetz, das völkervertraglich vereinbarte Ziel von 1,5 bzw. 2-Grad im Paris Abkommen. Es ist