Ist die V. Republik sterblich?
Bei den Europawahlen am 9. Juni 2024 wurde der rechtsextreme Rassemblement national in fast allen französischen Départements stärkste Kraft und erhielt mehr als doppelt so viele Stimmen wie das Lager von Präsident Macron. Noch am Wahlabend löste Macron die Nationalversammlung auf und kündigte den ersten Gang der Neuwahlen für den 30. Juni an. Es führt in die Irre, den deutschen Bundeskanzler mit Verweis auf Frankreich aufzufordern, es Macron „gleichzutun“ und die Vertrauensfrage zu stellen. Macrons Entscheidung folgt einer anderen verfassungsrechtlichen Logik. Gewohnt temporeich – vielleicht voreilig – zwingt Macron mit den Neuwahlen Frankreich dazu, seine jahrhundertelange Suche nach der richtigen Regierung(-sform) fortzusetzen. Die Debatte, ob es nach dem zweiten Wahlgang am 7. Juli 2024 das Regierungssystem der V. Republik noch geben wird, wie wir es kennen, ist eröffnet. Zweifel daran sind angebracht.
Berlin ist nicht Paris
Anders als in Frankreich – dazu sogleich – ist nach dem deutschen Grundgesetz (fortan: GG) ein freies Auflösungsrecht nicht vorgesehen. Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG und Art. 68 GG erlauben eine Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten über die Auflösung des Bundestages nur unter engen Voraussetzungen.
Art. 63 Abs. 4 GG betrifft die Situation, dass die Kanzlerwahl scheitert. Eine Bundestagsauflösung ist nur zulässig, wenn die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages dem Wahlvorschlag des Bundespräsidenten nicht gefolgt ist, innerhalb von 14 Tagen kein anderer Bundeskanzler gewählt und in einem daraufhin stattfindenden Wahlgang der Gewählte nicht die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt hat. Anwendungsfälle für diese Konstellation gab es bislang nicht.
Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG setzt für ein Auflösungsrecht zunächst voraus, dass ein im Amt befindlicher Bundeskanzler nicht das Vertrauen der Bundestagsmehrheit besitzt, d. h. die Handlungsfähigkeit der Regierung nicht mehr gesichert ist (BVerfGE 114, 121 (156)). Sodann steht es dem Bundeskanzler frei, ob er die Auflösung vorschlägt. Erst nach dem Vorschlag kann der Bundespräsident den Bundestag innerhalb von 21 Tagen auflösen. Die Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten ist (eingeschränkt) gerichtlich überprüfbar (BVerfGE 62, 1; BVerfGE 114, 107; BVerfGE 114, 121). Neuwahlen müssen binnen 60 Tagen ab der Auflösung stattfinden (Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG). Der mehraktige Vorgang zwischen erfolgloser Vertrauensfrage und Neuwahlen dauerte bei Brandt (1972), Kohl (1988) und Schröder (2005) jeweils deutlich länger als zwei Monate.
Hinter diesen voraussetzungsreichen Regelungen steht das Ziel, Weimarer Verhältnisse zu verhindern, wo der Reichspräsident das Parlament nahezu frei auflösen (Art. 25 der Reichsverfassung vom 11. August 1919) und kein einziger Reichstag seine Legislaturperiode regulär beenden konnte.
Die Auflösung der französischen Nationalversammlung als pouvoir propre des Präsidenten
Demgegenüber bestand Frankreichs „negatives Bezugsereignis“ (Lepsius) in einer Übermacht der Parlamente. Durch ständige Misstrauensvoten überlebten Regierungen in der III. Republik (1875-1940) durchschnittlich ein Jahr, in der IV. Republik (1946-1958) sieben Monate. Parlamentsauflösungen hingegen waren aus unterschiedlichen Gründen selten.
In der III. Republik war die Auflösung als bonapartistisch verpönt. Am 25. Juni 1877 hatte der royalistische Präsident Mac Mahon erfolglos versucht, die Hoffnung auf eine Restauration durch Auflösung der mehrheitlich republikanischen Abgeordnetenkammer aufrechtzuerhalten (Art. 5 des Verfassungsgesetzes vom 25. Februar 1875). In der IV. Republik überließ die Verfassung vom 27. Oktober 1946 die Auflösungsentscheidung dem Ministerrat und knüpfte sie an weitere Voraussetzungen (Art. 51). Die einzige Auflösungsentscheidung fiel in das Ende dieser Verfassungsperiode.
De Gaulle und Debré als maßgebliche Autoren der Verfassung der V. Republik vom 4. Oktober 1958 (fortan: CF) machten für die dauerhafte Regierungskrisen die Übermacht der politischen Parteien und des Parlaments verantwortlich. Aufgabe des Präsidenten sollte es künftig sein, mithilfe eines eigenen Auflösungsrechts (pouvoir propre) die Funktionsfähigkeit der Institutionen zu erhalten. Insofern war Art. 12 CF eine royalistische Wiedergeburt, indem er die Entscheidung in die Hand einer Person – früher des Königs, nunmehr des Präsidenten – legte. Zwar muss der Präsident sich nach Art. 12 Abs. 1 CF mit dem Premierminister, der Präsidentin der Nationalversammlung und dem Präsidenten des Senats zuvor beraten. Es besteht jedoch keine Gegenzeichnungspflicht (contreseing). Einzige Einschränkung ist die Frist nach Art. 12 Abs. 4 CF, die eine erneute Auflösung erst nach einem Jahr zulässt.
Gerichtliche Kontrolle der Auflösungsentscheidung?
Die Auflösungsentscheidung selbst ist nicht justiziabel. Der Conseil constitutionnel (fortan: CC) kann aber den Wahlprozess kontrollieren (Art. 59 CF). Art. 12 Abs. 2 CF sieht vor, dass die Neuwahlen innerhalb von 20 bis 40 Tagen nach der Auflösung stattfinden müssen. Macrons Wahleinberufungs-Dekret setzt den ersten Wahlgang für den 30. Juni, in einigen Überseegebieten schon für den 29. Juni, an. Letzterer wäre nach wörtlicher Lesart genau der 20. Tag nach der Auflösungsentscheidung vom 9. Juni.
Indes ist es eine offene Auslegungsfrage, wie die Frist zu berechnen ist (fordert die Verfassung z. B. „volle“ Tage?) – zumal das Dekret zwar auf den 9. Juni datiert ist, aber erst am 10. Juni im Amtsblatt veröffentlicht wurde. Des Weiteren mag die kurze verfassungsrechtliche Frist Vorrang vor einfachen Wahlgesetzen haben, die für „normale“ Wahlen längere Fristen vorsehen. Nichtsdestotrotz könnte das Prinzip der Freiheit und Aufrichtigkeit der Wahl verletzt sein (liberté et sincérité du scrutin, vgl. CC, 11. Juni 1981, Nr. 81-4 ELEC; 4. Juni 1988, Nr. 88-5 ELEC), weil durch die maximal kurze Frist in diesem Fall nicht nur einzelne, sondern große Teile der gesetzlichen Wahlvorschriften nicht einhaltbar sind.
Der CC wird hierüber bald entscheiden. Er könnte verlangen, den Wahltermin zu verschieben; grundsätzlich verbieten kann er die Neuwahlen nicht.
Eine Entscheidung wie keine Zweite
Von Art. 12 CF haben Präsidenten vor Macron fünfmal Gebrauch gemacht. Zunächst erinnert Macrons Kalkül an de Gaulle. Dieser löste am 9. Oktober 1962 die Nationalversammlung aus „royaler Machtfülle“ (Avril) auf, um die untere Parlamentskammer für ihren Ungehorsam zu bestrafen. Letztere hatte ihrerseits de Gaulles Premierminister Pompidou per Misstrauensvotum (Art. 49 Abs. 2 CF) zum Rücktritt gezwungen, nachdem de Gaulle am Parlament vorbei per (wohl verfassungswidrigem) Referendum die Direktwahl des Präsidenten eingeführt hatte. De Gaulles Lager gewann die anschließenden Wahlen und das Präsidentenamt ging gestärkt aus der Situation hervor.
Ein Wahlsieg gelang den Gaullisten außerdem nach der Auflösung der Nationalversammlung vom 30. Mai 1968. Im Angesicht der Maiunruhen mit mehreren Toten rief der Präsident das Volk dazu auf (appel au peuple), seine Regierung bei der Herstellung von Sicherheit und Ordnung zu unterstützen. Das Volk erhörte ihn.
Erringt das Macronlager indes keinen Stimmenzuwachs, steht der Präsident eher wie Chirac dar. Mit seiner Auflösung vom 21. April 1997 wollte er sich bei anschließenden Neuwahlen seine konservative Parlamentsmehrheit bis zum Ende der Präsidentschaft sichern; er verlor sie aber an die Sozialisten. Seitdem blieb Art. 12 CF 27 Jahre unangewendet.
Macrons Auflösung vom 9. Juni 2024 schließt nicht nahtlos an die Ratio bisheriger Auflösungen an. Die Verfassungsreform vom 2. Oktober 2000, welche die Amtszeit des Präsidenten von sieben auf fünf Jahre (quinquennat) verkürzte, sorgte für einen Gleichlauf von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Dadurch waren Auflösungen zur Angleichung von präsidialer und parlamentarischer Mehrheit wie die von Mitterrand (1981 und 1988) nicht mehr nötig. Seit 2002 war es dem Präsidentenlager stets gelungen, eine stabile Mehrheit in der Nationalversammlung zu erreichen – bis zu den Wahlen des Jahres 2022. Danach musste Macrons Bündnis mit einer relativen Mehrheit, besser: Minderheit, regieren.
Die Grenzen der präsidentiellen Autorität
Es mag viele Gründe für Macrons Entscheidung geben. In ihr drückt sich vor allem aus, wie sehr Macron das Präsidentenamt ins Zentrum des Regierungssystems gerückt und damit weiter von der ursprünglich zugedachten Rolle des Schiedsrichters (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 CF) entfernt hat. Nach Debrés Worten sollte der Präsident allein die Macht besitzen, eine andere Macht einzufordern. Im Macronismus soll der Präsident das Zentrum der politischen Macht bilden.
Macrons Versuch, die präsidentielle Autorität zu nutzen, ist bei den Europawahlen gescheitert. Die französischen Wählerinnen und Wähler mussten die Europawahl etwa deshalb unter nationalen Gesichtspunkten verstehen, weil Macron im Duell gegen RN-Chef und Spitzenkandidat Bardella nicht seine Spitzenkandidatin Hayer antreten ließ sondern Premierminister Attal. In dieser TV-Debatte ging es fast nur um nationale Themen. Daneben hätte Macron sich eine Neuauflage des Präsidentschaftsduells gegen Le Pen gewünscht. Deren Bedingung, Macron müsse im Gegenzug bei einer Wahlniederlage zurücktreten oder die Nationalversammlung auflösen, wollte der Präsident nicht akzeptieren. Und doch zog er am 9. Juni eben diese letztgenannte Konsequenz.
Die präsidiale Aufladung der Europawahlen steht im Kontrast etwa zu Hollande. Dessen linkes Lager erhielt bei den Europawahlen 2014 unter 14 % der Stimmen (Renaissance am 9. Juni: 14,6 %) und der Front national – als schon damals stärkste – Kraft fast 25 % (RN am 9. Juni: 31,4 %). Neuwahlen folgten daraufhin nicht. Der nun laufende Wahlkampf ist ein neuer – womöglich ein letzter – Versuch Macrons, die angezählte Autorität des Präsidenten zu rehabilitieren (vgl. Macron bei der Pressekonferenz am 12. Juni 2024: „Ich glaube an die Macht unserer Institutionen.“).
Die Grenzen der Rationalisierung des Parlaments
Als Lehre aus den instabilen Regierungen zwischen 1875 und 1958 (s. oben) verliehen de Gaulle und Debré der V. Republik neben der Rolle des Präsidenten einen weiteren Wesenszug: Ein enges Korsett, in das die Verfassung vom 4. Oktober 1958 das Parlament zwängt (sog. parlementarisme rationalisé). Gemeint sind Werkzeuge, welche die Verfassung der Regierung an die Hand gibt, um ihr Programm gegen parlamentarische Widerstände durchsetzen zu können. Ein beeindruckendes Beispiel ist der Art. 49 Abs. 3 CF. Er erlaubt es der Exekutive, Parlamentsgesetze ohne Parlamentsbeschluss zu erlassen und so eine Mehrheitsherrschaft (fait majoritaire) zu simulieren.
Die Rationalisierung des Parlaments ist keine automatische Folge der präsidialen Logik (Le Divellec). Allerdings bestehen Zusammenhänge. Weil die Regierung im rationalisierten Parlamentarismus selbst umstrittenste Projekte wie die Renten- oder Asylreform ohne absolute Mehrheit durchsetzen kann, klafft eine Legitimitätslücke auf (dazu hier und hier). Ohne den Glauben an die Autorität des Präsidenten als „Grundpfeiler der Institutionen“ (Debré) lässt sich diese Lücke nicht (mehr) schließen.
Eine Bewährungsprobe für die Verfassung der V. Republik: Eine Minderheitsregierung in der cohabitation?
Der Wahlausgang ist offen. Bei Prognosen ist stets zu bedenken, dass das Europäische Parlament in Frankreich nach Verhältniswahlrecht gewählt wird – die Nationalversammlung hingegen nach Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen (scrutin uninominal majoritaire à deux tours). Die Wahl ist einerseits personenzentrierter; andererseits wird es bei den Stichwahlen am 7. Juli in den allermeisten Départements nur zwei Auswahlmöglichkeiten geben, hinter denen sich verschiedene politische Blöcke vereinen können.
Politisch wäre eine absolute Mehrheit der extremen Rechten zwar ein tiefer Einschnitt. Rechtlich aber hat sich die französische Verfassung bereits als anpassungsfähig erwiesen zu Zeiten, in denen der Präsident und die Mehrheit in der Nationalversammlung unterschiedlichen politischen Lagern angehörten (cohabitation: Mitterrand 1986-1988, Mitterrand 1993-1995, Chirac 1997-2002). Die Verfassungsreform von 2000 (s. oben) hatte das „Risiko einer cohabitation“ erfolgreich verhindert.
Noch nie hatte die Verfassungsordnung indes die Konstellation einer cohabitation ohne absolute Mehrheit zu bewältigen. Dies aber ist nach jetzigem Stand die wahrscheinlichste Variante. In der neuen Nationalversammlung müsste der RN zusammen mit Teilen der (Ex-)Republikaner ohne absolute Mehrheit regieren und stünde den Macronisten und dem Linksbündnis gegenüber.
Eine richtungsweisende Wahl für die Verfassung der V. Republik
Um unter diesen Bedingungen eine stabile Regierung bilden zu können, müsste sich eine „echte Koalition“ zwischen den Lagern bilden. Das aber ist nicht nur mit Blick auf die politischen Gräben zweifelhaft. Überdies fehlt es an einer Kompromisskultur in der V. Republik, wo Entscheidungen wichtiger sind als Verhandlungen (Geynet-Dussauze). In Deutschland ist man es – zumindest aus der Vergangenheit – gewohnt, „die Regierungskoalition“ als vielstimmige Kompromissgemeinschaft wahrzunehmen. „L‘exécutif“ ist nach französischem Verständnis eine politische Einheit.
Das französische Parteiensystem bietet nur schwerlich eine Grundlage für eine parlamentarische Koalition, die Disziplin erzeugen könnte. In der französischen Verfassungskultur überwiegt die Skepsis gegenüber starken politischen Parteien (vgl. de Gaulle warnte vor einem „Regime der Parteien“). Sinnbildlich dafür steht, dass in Frankreich nahezu keine Partei mit dem Namen „parti“ für sich wirbt. Kommt es zu keiner „echten Koalition“, dürfte jede Minderheitsregierung des RN unter dem Damoklesschwert des Misstrauensvotums (Art. 49 Abs. 2 CF) stehen, das – anders als Art. 67 Abs. 1 GG – kein konstruktives ist.
Frankreich liefe so Gefahr, in eine neue Phase anhaltender Regierungsinstabilität zu geraten, von der sich die V. Republik gerade abgrenzen wollte. Die Wahlen am 30. Juni und 7. Juli sind nicht nur eine politische Richtungsentscheidung. Sie werden auch zeigen, ob die Verfassung sich angesichts der politischen Landschaft als beständig erweisen kann. Nicht nur Europa ist sterblich. Auch die V. Republik kann – zumindest so wie wir sie kennen – sterben.