24 March 2023

La Foule, le Peuple et la Societé

Jenseits des Rheins, so heißt es oft, interessiert sich kein Mensch für die Verfassung. Dort teilt man nicht die Grundgesetz-Marotte von uns legalistischen Deutschen, die wir aus gutem Grund unserem vergleichsweise neuen und unter  fragwürdigen Bedingungen entstandenen Staat nicht so recht trauen und uns daher lieber an das Recht halten, das ihn verfasst. Frankreich dagegen: Verfassungen kommen und gehen, aber Frankreich besteht! Verwaltung und Politik, das ist viel dauerhafter und interessanter als dieser ganze konstitutionelle Jurakram, und wer das wissenschaftlich erforscht, kann Ruhm und Status erlangen und Bestseller schreiben und ins Fernsehen eingeladen werden, anders als die ÖffRechtsprofessor*innen, die zumeist eher still irgendwo in der Provinz an ihrer fac du droit vor sich hinforschen und -lehren. Die Verfassung soll Politik ermöglichen, nicht behindern. Und wenn sie im Weg steht, dann wird sie zumeist kurzerhand geändert und fertig.

Aber stimmt das noch? Man übersieht das leicht angesichts der schrecklichen Bilder von brennenden Rathausportalen und mannshohen Müllbergen und knüppelnder Polizei, die zurzeit die Medienberichterstattung beherrschen. Dreht sich da womöglich gerade was? Quarante-neuf troi! Anti démocratie! Das rufen sie auf den Demos. Ein Verfassungsartikel ist in aller Munde! Plötzlich reden alle von Artikel 49 Absatz 3, von Artikel 47 Absatz 1, von Artikel 11, vom Verfassungsrat und vom référendum d’initiative partagée. So wie während der Coronapandemie plötzlich die Virologieexpertise überall wie das Frühjahrsunkraut aus dem Boden zu sprießen schien, so mutiert offenbar ganz Frankreich in der aktuellen Krise gerade zu einer Nation von Verfassungsjurist*innen.1)

Auch Emmanuel Macron höchstselbst, so scheint es, beruft sich zur Verteidigung seiner Rentenreform auf die legitimierende Kraft der verfassungsmäßigen Verfahren und Institutionen: “La foule n’a pas de légitimité face au peuple qui s’exprime à travers ses elus”, sagte der Präsident am Dienstag im Parlament. La foule, das ist der Mob, der Menschenauflauf, die randalierenden Massen auf der Straße, und dieso das Staatsoberhaupt, haben “keine Legitimität gegenüber dem Volk, das sich durch seine gewählten Vertreter*innen ausdrückt”. Auf der Gegenseite von la foule und damit auf seiner Seite streite die Verfassung: “Die Verfassung zu nutzen, um eine Reform durchzubringen, ist immer eine gute Sache, wenn man unsere Institutionen respektieren will.”

Tags darauf legte Macron noch einen drauf. In einem Fernsehinterview verglich er die Proteste mit dem Sturm aufs Kapitol und auf die Regierungsgebäude in Brasilia. Legitimiert, so das Argument, ist nicht das Volk, das am lautesten “Wir sind das Volk” schreit. Sondern das Volk, das durch die Verfassung zu einer handlungs- und zurechnungsfähigen Form findet. Das, wie das deutsche Grundgesetz es formuliert, die von ihm ausgehende Staatsgewalt “in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung” ausübt. Diese Organe haben, anders als der Menschenauflauf, der sein Volk-Sein nur behauptet, eine soliden Grund dafür, sich für legitimiert zu halten durch das Volk, Macht auszuüben über das Volk. Das ist die große Stärke des demokratischen Verfassungsstaats: Nur in ihm ist Macht begründet.

Wie steht es, so gesehen, um Macrons Macht? Tatsächlich hat er seine Rentenreform mitnichten in einem ganz normalen Gesetzgebungsverfahren durch die beiden Kammern des Parlaments legitimieren lassen. Seine Regierung hatte sämtliche Tricks, die die Verfassung zur Verfügung stellt, gezogen, um die Möglichkeiten der Gegner der Reform pour s’exprimer à travers ses elus zu minimieren. Vor allem aber hat die Nationalversammlung, wo Macron keine Mehrheit hat, diesem Gesetz niemals zugestimmt. Das ist der bereits erwähnte Quarante-neuf troi: Artikel 49.3 der französischen Verfassung erlaubt der Regierung, Haushalts- oder Sozialgesetze auch ohne Zustimmung der Nationalversammlung in Kraft zu setzen, sofern diese nicht binnen 24 Stunden ein Misstrauensvotum durchbringt, d.h. die Regierung stürzt. Das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der auch bei uns nicht unbekannten Verknüpfung eines Gesetzes mit der Vertrauensfrage, wodurch Druck auf die Abgeordneten ausgeübt wird, zuzustimmen oder die Auflösung des Parlaments und damit den Verlust ihres Mandats zu riskieren. Aber mit einem wichtigen Unterschied: Unter Artikel 49.3 stimmt das Parlament tatsächlich dem Gesetz nicht zu. Sein Beitrag zur Gesetzgebung ist vielmehr ein gescheiterter Misstrauensantrag. Das ist nicht nur eine Frage der Bezeichnung: Bei der Abstimmung über das Gesetz gehen Enthaltungen und nicht abgegebene Stimmen zu Lasten der Regierung, bei dem Misstrauensantrag zu ihren Gunsten.

Die Nationalversammlung hat dem Gesetz nie zugestimmt. Es gab und gibt keine Mehrheit in der Volksvertretung für dieses Gesetz. Das macht es schon mal schwer, die Legitimation der verfassungsmäßig Gewählten gegen die angebliche foule ins Feld zu führen. Das gilt auch für Macrons eigene Legitimation als direkt gewählter Präsident: Er hatte zwar mit dieser Rentenreform seinen Wahlkampf bestritten – aber gewählt worden war er, weil er nicht Marine Le Pen war und aus keinem anderen Grund. J’ai conscience que ce vote m’oblige, hatte er nach seiner Wiederwahl demütig all jenen versprochen, die nicht für ihn, sondern gegen Le Pen gestimmt hatten: Eure Stimmen verpflichten mich. Wozu? Sein Programm durchzuziehen, als hätte er dafür Mehrheiten, die er in Wahrheit nicht hat?

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Wenn man sich die Reform als solche anschaut, fällt es erst mal nicht ganz leicht zu verstehen, warum sie die französische Bevölkerung gar so wütend macht. Ein Rentenalter von 64, davon können die meisten Nicht-Französ*innen nur träumen. Sinn ergibt das erst, wenn man das Verfahren dazu nimmt. So will man nicht mit sich umspringen lassen. Es ist gerade diese selbstherrliche, technokratische, im Grunde unpolitische Attitüde des Bescheidwissens darüber, was gut ist fürs Land, völlig egal in welchem Verfahren und mit welcher Legitimation, einfach nur, weil man an der ENA studiert hat und sein ganzes Leben lang gesagt bekommen hat, was für ein furchtbar kluges Kerlchen man ist, die sich der allergrößte Teil der Französ*innen nicht länger gefallen lassen will. Macron ist da nicht der Einzige. Die ganze hermetisch nach unten abgeschlossene Politik-Verwaltungs-Business-Elite des Landes ist so drauf. Aber er ist der Präsident und Chef d’État und offenbar weder fähig noch bereit, überhaupt zu erkennen, was das Problem ist. Das wird ihm übel genommen, und zwar zu Recht. Ihm und der Verfassung, die ihm das möglich macht. Es ist nicht la foule noch le peuple, die diesen Zorn artikuliert, sondern la societé.

Wie geht es jetzt weiter? Es gibt mehrere Möglichkeiten. Eine wäre, dass der Verfassungsrat das Gesetz noch stoppt. Das gilt als denkbar, aber wenig wahrscheinlich; mehr als ein paar marginale Verfahrensfehler wird er vermutlich nicht zu monieren finden. Eine weitere wäre, dass sich Macron an seinem Vorgänger Jacques Chirac ein Vorbild nimmt, der 2006 die kaum weniger umstrittene, bereits beschlossene Arbeitsrechtsreform CPE zur Schonung des gesellschaftlichen Zusammenhalts am Ende nicht mehr in die Tat umsetzte. (Auch das gibt die verfassungsmäßige Machtfülle des Président de la République offenbar her.) Eine Dritte wäre, dass die Opposition die Reform mittels eines so genannten référendum d’initiative partagée zu Fall bringt. Ein solches Referendum nach Artikel 11 der Verfassung können mit dem Segen des Verfassungsrats 25% der Abgeordneten in die Wege leiten. Dann müssen sie binnen 9 Monaten die Unterschriften von 10% der Wahlberechtigten zusammenbringen, um die 4,5 Millionen Französ*innen. Das ist eine Menge und ist noch nie in der Geschichte der Republik gelungen, und selbst wenn, dann verpflichtet es die Regierung nur, darüber im Parlament abstimmen zu lassen. Aber die schiere Existenz der Kampagne kann dafür sorgen, den Druck auf die Regierung über Monate aufrecht zu erhalten. Und wenn man sich das Ausmaß der Wut in der französischen Gesellschaft ansieht, wer weiß: vielleicht sind dann sogar 4,5 Millionen Unterschriften möglich, zumal eine solche Kampagne im Erfolgsfall ja auch ihre ganz eigene Dynamik entfalten kann.

Bleibt die vierte Möglichkeit: Die Reform kommt. Es ist Macrons Reform, er allein ist dafür verantwortlich, kann aber politisch dafür nicht mehr verantwortlich gemacht werden, weder durch das Parlament noch durch das Wahlvolk; das ist eine der großen Schwächen des französischen Semi-Präsidialdemokratie. Jupiter hat seinen Blitz geschleudert. Der Schaden ist angerichtet, es brennt lichterloh. Marine Le Pen braucht unterdessen nur sanft zu lächeln und zu warten, bis ihr die Macht von alleine zufällt. Je heller es brennt, desto überzeugender kann sie sich der erschrockenen Bourgeoisie als die richtige Person zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung anbieten. Vier Jahre Amtszeit hat Macron noch vor sich. Was kann er jetzt noch tun? Seine Legitimation ist weg. Auch auf europäischer Ebene. Im Moment kann er nicht mal mehr den britischen König zum Staatsbesuch empfangen. Das werden vier sehr trostlose Jahre da oben auf dem Olymp. Wenn das so kommt, wird man diesen Präsidenten nicht dafür in Erinnerung behalten, dass er das französische Rentensystem gerettet hat. Sondern als Wegbereiter für Mme la Présidente Marine Le Pen.

Vielen Dank an Aurore Gaillet, Thomas Perroud und Sébastien Platon für wertvollen Input.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:

Tatsächlich ist die Rentenreform nicht das einzige Thema, das in Frankreich Anlass zur Sorge gibt. SOPHIE DUROY nimmt ein Gesetz unter die Lupe, das gerade die Nationalversammlung durchläuft. Angeblich geht es dabei um die Olympischen und Paralympischen Spiele 2024, doch in Wirklichkeit handelt es sich um einen versteckten Versuch, eine Rechtsgrundlage für die algorithmische Videoüberwachung zu schaffen, die gegen Frankreichs Menschenrechtsverpflichtungen verstoßen und durch die Normalisierung der biometrischen Massenüberwachung einen gefährlichen Präzedenzfall in der EU schaffen würde.

Im Hinblick auf die bevorstehenden Olympischen Spiele 2024 wirft PATRICIA WIATER die Frage auf, ob der derzeitige Ausschluss russischer und weißrussischer Athleten von internationalen Wettkämpfen gerechtfertigt ist. Sie argumentiert, dass es aus menschenrechtlicher Sicht legitime Gründe für eine Ungleichbehandlung russischer Athleten gibt, wie etwa der Schutz der Rechte ukrainischer Athleten und die Verhinderung der Instrumentalisierung von Sportereignissen für Kriegspropaganda.

Der Internationale Strafgerichtshof hat einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Mariya Lvova-Belova ausgestellt. ROBERT FRAU weist auf bemerkenswerte, aber bisher wenig beachtete Aspekte der Haftbefehle hin.

Die Debatte über die Wahlrechtsreform in Deutschland läuft weiter auf Hochtouren. Sowohl CHRISTOPH SCHÖNBERGER als auch JOACHIM WIELAND verteidigen die Abschaffung der Grundmandatsklausel gegen die in der vergangenen Woche geäußerte Kritik einiger ihrer Kollegen. Während Schönberger daran erinnert, dass die Klausel schon immer fragwürdig war, findet Wieland die Ankündigung der CSU, gegen die Reform vor dem BVerfG zu klagen, wenig stichhaltig. THORSTEN KINGREEN argumentiert, dass damit die 5%-Hürde ins Rampenlicht rückt und fordert eine politische Lösung: deren Absenkung auf 3,5%. FRANK SCHORKOPF sieht dagegen “gravierende verfassungsrechtliche Probleme”, da die Reform möglicherweise gegen die Grundsätze der Normenklarheit und Verständlichkeit und darüber hinaus auch gegen den Grundsatz der politischen Neutralität der Wahlrechtsgesetzgebung verstoße.

Parteien, die versuchen, prominente Mitglieder mit skandalösen Ansichten loszuwerden, waren in den letzten Jahren in Deutschland häufig in den Schlagzeilen, meist mit geringem Erfolg. Ex-Kanzler und entfremdetes SPD-Mitglied Gerhard Schröder ist nur das jüngste Beispiel. SIMON FRANZMANN geht der Frage nach, warum sich diese Fälle häufen und vermutet, dass sie “Kämpfe um die Identität der Partei” widerspiegeln.

Muss die Deutsche Bahn privatisiert werden? Der Bundesrechnungshof hat einen vernichtenden Bericht veröffentlicht, der nach Ansicht mancher darauf hindeutet, dass dies der Fall ist. GEORG FREIß & TIMO LAVEN stimmen in vielen Punkten mit der grundsätzlichen Kritik überein, aber die Schlussfolgerung, dass eine Privatisierung notwendig ist, übersteige den Auftrag der Rechnungsprüfer.

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Das European Center for Constitutional And Human Rights in Berlin sucht einen Koordinator*in (w/m/d) für das Critical Legal Training, das Alumn*-Netzwerk und verwandte Trainings- und Bildungsprojekte.

Wir sind eine unabhängige, gemeinnützige Menschenrechtsorganisation, die hauptsächlich mit juristischen Mitteln arbeitet. Es erwartet Sie eine spannende und herausfordernde Tätigkeit in einer international tätigen Menschenrechtsorganisation mit einem weltweiten Netzwerk und zahlreichen Benefits von Teamaktivitäten bis hin zu kostenlosen Yogastunden!

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Zwei Jahre nach der viel beachteten Klimaentscheidung des BVerfG findet THOMAS GROß wenig Grund zum Feiern: Es habe sich gezeigt, dass die Entscheidung praktisch folgenlos ist, da sich weder die Bundesregierung noch die Verwaltung noch die Gerichte oder gar das BVerfG selbst normativ daran gebunden zu fühlen scheinen.

Kann man das jüngste UN-Abkommen zum Schutz der Ozeane als “New Yorker Moment” für die Ozeane bezeichnen, der dem “Pariser Moment” für das Klima folgt? Durchaus, meint MORITZ VINKEN.

Im Zuge der Übernahme der Credit Suisse durch den anderen Schweizer Bankenriesen UBS analysiert JOHANN-JAKOB CHERVET die “CS-Notverordnung” des Bundesrates. Seiner Ansicht nach handelt es sich um Notrecht contra legem, das eine “tiefgreifende Machtverschiebung” zwischen Exekutive und Legislative zur Folge hat.

DANIEL HOLZNAGELs Artikel über den EU-Verordnungsentwurf zur politischen Werbung ist nun auch auf Englisch verfügbar.

Kann man bei einem ungeborenen Kind von Staatsbürgerschaft sprechen? TPS HARSHA beleuchtet den Fall Pranav Srinivasan gegen die Union of India. Harsha untersucht die “entschieden integrative Konzeption der Staatsbürgerschaft”, die er für einen “wichtigen Schritt nach vorn bei der Bekämpfung der Staatenlosigkeit von Kindern in Indien” hält, aber auch die möglichen negativen Auswirkungen auf die bislang fortschrittliche Haltung zum Abtreibungsrecht in Indien.

Vor einem halben Jahrhundert traten das Vereinigte Königreich und Irland der Europäischen Union bei. Aus diesem Anlass untersuchen wir in einem Blog-Symposium die verfassungsrechtliche Entwicklung, die durch die EU-Mitgliedschaft und den Brexit jeweils ausgelöst wurde. 50 Years On: Ireland and the UK In and Out of the EU lautet der Titel des Symposiums, das von der unvergleichlichen Joelle Grogan organisiert wurde und diese Woche mit Beiträgen von JOELLE GROGAN & IMELDA MAHER, GR