Mit der Verfassung spielt man nicht!
Die Reform des Einwanderungsrechts und der Verfassungsrat
Am 25. Januar 2024 hat der französische Verfassungsrat (Conseil constitutionnel, fortan: CC) zahlreiche Normen des neuen Einwanderungsrechts für verfassungswidrig erklärt (Nr. 2023-863 DC). Im Kontext dieses Normkontrollverfahrens zeigte sich eine Regierung, die den Verfassungsverstoß als Mittel zur Mehrheitsfindung nutzte. Zugleich scheute das Verfassungsgericht die inhaltliche Prüfung und stützte sich fast ausschließlich auf Verfahrensmängel. Beides hilft Bestrebungen von rechts, eine gerichtliche Kontrolle staatlicher Maßnahmen zukünftig einzuschränken. Noch bleibt Zeit, die Verfassungskultur in Frankreich zu stärken.
Das neue Einwanderungsrecht: Symbol für die zweite Amtszeit Macrons?
Mit der Reform gelten insgesamt strengere Voraussetzungen für die Einwanderung nach Frankreich. Das Gesetzgebungsverfahren zeigte nach der Rentenreform erneut, wie sehr Macrons zweite Amtszeit (seit 2022) von seiner fehlenden absoluten Mehrheit in der Nationalversammlung geprägt ist.
Wie überall in Europa ist der Streit um die richtige Einwanderungspolitik auch in Frankreich mit einer ständigen Rechtsanpassung verbunden. Allein um gegen illegale Migration vorzugehen, haben französische Regierungen in weniger als zehn Jahren 133mal den Rechtsrahmen geändert (S. 12). Bereits im Juni 2022 kündigte die Regierung einen Gesetzentwurf zum Einwanderungsrecht („Einwanderung kontrollieren, Integration verbessern“) an, verschob das Vorhaben jedoch zunächst, weil sie den Widerstand gegen die Rentenreform bändigen musste. Seit Herbst 2023 nahm sie das Vorhaben wieder auf, noch immer unter dem Motto: „Böse zu den Bösen und nett zu den Netten sein.“ Damit warben Innenminister Darmanin und der damalige Arbeitsminister Dussopt im linken wie im rechten Lager um Stimmen. Am Ende des Gesetzgebungsverfahren hatte sich der Text merklich „verbösert“. Aus den 27 Artikeln des Gesetzentwurfs waren nach zahlreichen Änderungen 86 Artikel geworden.
Die nachträglichen Änderungen waren auch im Regierungslager hochumstritten – eine Auswahl: Längere Fristen für Familienzusammenführungen, eine Rückreisekautionspflicht für Studierende aus Drittstaaten oder der erschwerte Zugang zu Sozialversicherungsleistungen für Drittstaatsangehörige. Letzteres werteten manche als Einführung eines nationalen Vorrangs (préférence nationale), der in Konflikt mit dem Gleichheitsprinzip der französischen Verfassung, Constitution française (fortan: CF) steht. „Nett“ war der angenommene Text im Wesentlichen nur noch zu Menschen „ohne Papiere“, wenn sie in Branchen mit hohem Personalbedarf (métiers en tension) wie dem Baugewerbe oder der Gastronomie arbeiten. Ihnen können – im Entwurf noch „von Rechts wegen“ – die Präfekten ausnahmsweise von nun an einen Aufenthaltstitel ausstellen.
Zum Gesetzgebungsverfahren
Nur unter Mitterrand zwischen 1988 und 1992 musste die Exekutive bisher mit einer relativen Mehrheit regieren. Damals wie heute greift sie häufig auf Instrumente des „rationalisierten Parlamentarismus“ zurück. Dabei verwundert am meisten Art. 49 Abs. 3 CF (fortan: 49.3), der es der Regierung erlaubt, Gesetze ohne parlamentarische Abstimmung zu erlassen.
Doch seine Anwendung ist riskant. Als die Regierung die Rentenform mithilfe von 49.3 verabschiedete (hier, hier, hier), konnten ihre Gegner überzeugend die Legitimität der neuen Regeln infrage stellen. Weitere Gründe sprachen gegen einen erneuten Rückgriff auf 49.3. So ist etwa juristisch ungeklärt, ob die Regierung 49.3 für die Migrationsrechtsreform während dieser parlamentarischen Sitzungsperiode überhaupt noch einmal hätte anwenden können.
Deshalb versuchte die Regierung, mit Überzeugungsarbeit eine Mehrheit zu gewinnen. Zunächst nahm allerdings eine Mehrheit aus Linken und Rechten einen Ablehnungsantrag (motion de rejet) an, was selten vorkommt. Es blieb der Weg über den Vermittlungsausschuss, die commission mixte paritaire (fortan: CMP), die aus einer gleichen Anzahl von Senatoren und Abgeordneten der Nationalversammlung besteht. Zwar nimmt die Regierung an den Sitzungen der CMP nicht teil, übt allerdings hinter den Kulissen entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis in dem Gremium aus. Somit stammte der Text, bei dem die Exekutive zahlreiche Zugeständnisse an die rechtskonservative Senatsmehrheit machte, letztlich aus der Regierungsfeder.
Bei der Abstimmung in der Nationalversammlung stimmten 59 Abgeordnete aus dem Regierungsbündnis gegen den Kompromiss; die Republikaner und der rechtsextreme Rassemblement National (fortan: RN) stimmten dafür. Die Rechtsextremen feierten den Text als „ideologischen Sieg“. Das linke Spektrum empörte sich über einen klaren Bruch mit republikanischen Grundprinzipien. Die Regierung wies beides zurück, zerbrach aber an der Reform. Erst trat der Gesundheitsminister Rousseau zurück. Dann zwang Macron seine Premierministerin Borne zum Rücktritt und bestimmte schließlich Attal als ihren Nachfolger.
Die Instrumentalisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Regierung
Nach der Abstimmung bekundete die Exekutive, Teile des von ihr mitgetragenen Gesetzes seien zwar verfassungswidrig, der CC aber werde für Rechtstaatlichkeit sorgen. Dies setzt eine Unart französischer Regierungspolitik fort.
Vier Normkontrollanträge gingen beim CC ein: Macron berief sich in seiner Antragsschrift – ohne inhaltliche Argumente (saisine blanche) – auf seine Verantwortung als Wächter der Verfassung (Art. 5 CF). Braun-Pivet, die Präsidentin der Nationalversammlung und Mitglied von Macrons Renaissance, äußerte vor allem verfahrensrechtliche Bedenken. Jeweils mehr als 60 Abgeordnete und Senatoren der Linken argumentierten, einige Reformbestimmungen verstießen gegen Grundwerte der Verfassung bzw. stellten einen Bruch mit einer „republikanischen Tradition der Einreise, der Aufnahme und des Aufenthalts von Ausländern in Frankreich“ dar.
Gleichzeitig verkündete Darmanin, immerhin Autor der Reform, öffentlich: „Einige Maßnahmen [der Reform] sind offensichtlich und eindeutig verfassungswidrig“. Aber der „Verfassungsrat wird seine Arbeit erfüllen. Die Politik darf nicht Juristin vor den Juristen sein“. Ähnlich äußerte sich Macron. Aus seiner Sicht sei etwa die Kautionspflicht für ausländische Studierende „keine gute Idee“ (ab 13:15). Aber ein Kompromiss sei notwendig gewesen und der CC könne nun „technische Fragen” (ab 29:13) beantworten.
Verfassungsbruch als Regierungsmethode
Die Geschichte der V. Republik bietet ähnliche Beispiele für ein solches Regierungsgebaren. Erinnert sei nur an den ehemaligen Justizminister Clément, der im Jahr 2005 Vorschriften zum Strafvollzug rückwirkend ändern wollte und die Abgeordneten der Nationalversammlung aufrief, „das Risiko der Verfassungswidrigkeit einzugehen“. Damals entgegnete der Präsident des CC Mazeaud (S. 5): „Der Respekt vor der Verfassung ist kein Risiko, sondern eine Pflicht.“
Der aktuelle Präsident des CC Fabius kritisierte das Regierungsverhalten noch im laufenden Verfahren: Bei dem CC handle es sich weder um eine „Echokammer öffentlicher Stimmung, noch eine Berufungskammer gegen Entscheidungen des Parlaments“. Im demokratischen System könne man stets die Rechtslage (l’état du droit) ändern, aber um dies zu tun, müsse man den Rechtsstaat (l’État de droit) achten.
Auch aus der Wissenschaft gab es Widerspruch angesichts des sorglosen Umgangs mit dem Verfassungsrecht. So prangerten neben Sureau, einem der einflussreichsten Intellektuellen Frankreichs und selbst Jurist, zahlreiche Verfassungsrechtler (etwa hier, hier und hier) die ungenierte Missachtung der Verfassung an. Einen Mangel an Verfassungskultur hatten andere bereits im Zusammenhang mit der Rentenreform beklagt.
Ein Mangel an Verfassungskultur in Frankreich?
Es sind zunächst die Verfassungsgerichte, die sich für eine Verbreitung der Verfassungskultur einsetzen. Im deutsch-französischen Vergleich betonen viele die geringere Legitimität des CC. Historisch war er als streitschlichtendes Organ für das Handeln der Verfassungsorgane (Erwägung 2) konzipiert. Zwar kennzeichnet ihn noch immer eine eher „politische“ als „juristische“ Zusammensetzung. Allerdings hat er über die Jahrzehnte auch mehr Unabhängigkeit entwickelt, etwa als er vor bald 40 Jahren entschied (Erwägung 27), dass das Gesetz die volonté générale nur dann ausdrücke, wenn es dabei die Verfassung respektiere.
Das Verfahren zum neuen Migrationsgesetz offenbart eine schwache Rechts- und Verfassungskultur im Allgemeinen. Im „Land der Legisten“ ist die Verfassung kein „Objekt der Verehrung“ oder gar des „Patriotismus“. Eine Erklärung dafür dürfte in der Ausbildung der französischen Eliten insbesondere nach Gründung der ENA (heute INSP) im Jahr 1945 liegen. Seitdem spielen juristische Inhalte eine weitaus geringere Bedeutung als noch in der „Belle Epoque des juristes“ (hier und hier) während der III. Republik (1870-1940). Hier gibt es einen echten Unterschied zur Stellung, die Juristen in Deutschland einnehmen. Somit bleibt das Verfassungsrecht in Frankreich bis dato eher ein „Werkzeugkasten, der dazu bestimmt ist, die Autorität – manchmal die Legitimität – einer politischen Ordnung zu festigen oder im Gegenteil deren Neuentstehung zu verzögern“.
Die Entscheidung des CC als Anlass für weitere Instrumentalisierungsversuche?
Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung vom 25. Januar 2024 nicht überraschend, aber dennoch ernüchternd. Mit einem Fokus auf dem Verfahrensrecht bleiben inhaltliche Erkenntnisse weitgehend aus. Erkennbar wird stattdessen, wie die Regierungstaktik und die Zaghaftigkeit des Gerichts Narrativen Vorschub leisten, die den CC als Verfassungshüter bedrohen.
Mit 52 Seiten handelt es sich um die zweitlängste Entscheidung in der Geschichte des CC. Das Gericht strich mehr als ein Drittel der Reformbestimmungen. Die meisten davon ließ es durchfallen, da es sich bei ihnen um sog. cavaliers législatifs („Springer“, ähnlich sog. Omnibusgesetze) handele. Seit 1985 fordert der CC eine inhaltliche Verbindung zwischen dem Entwurfstext und einem neu eingebrachten Änderungsantrag. Besteht keine – zumindest indirekte – Verbindung, ist der angenommene Text insoweit formell-verfassungswidrig. Seit 2008 ist diese Rechtsprechung in Art. 45 Abs. 1 CF kodifiziert. Viele der Nachschärfungen der rechtskonservativen Senatsmehrheit (s. o.) sind damit nicht in Kraft getreten – während der CC die Bestimmungen des Regierungsentwurfs im Wesentlichen für verfassungskonform erklärte.
Da der CC seine Entscheidungen kaum begründet, bleibt unklar und juristisch zweifelhaft, warum er nicht einmal eine indirekte Verbindung etwa zwischen Änderungen des Aufenthaltsrechts im Regierungsentwurf und den Verschärfungen zum Familiennachzug im verabschiedeten Text erkennen will (Erwägung 38). Entgegen den markigen Worten Fabius – die ein Verfassungsrichter während eines laufenden Verfahrens ohnehin unterlassen sollte – spricht die Entscheidung kaum die Sprache besonnener institutioneller Selbstbehauptung. Denn das Kalkül der Regierung ging auf, sogar ohne dass der CC sie in der Sache an die Pflicht zur Einhaltung verfassungsrechtlicher Grundwerte erinnerte. Mit viel Mühe kann man die Entscheidung so lesen, dass die Ermutigung zu verfassungswidrigem Verhalten gegen das Verfassungsprinzip der Klarheit und Aufrichtigkeit der Parlamentsdebatte (Erwägung 5) verstößt. Denn dies dient dem CC als argumentativer Ausgangspunkt für das Verbot der cavaliers législatifs.
So gewandt die restriktive Lesart des CC (ihm selbst) im Moment erscheinen mag, so ungewiss bleiben ihre Folgen. Nach dem Abgang von „Madame 49.3“