Herrschaftslegitimation und implizite Identitätskontrolle
Nachbemerkungen zum PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Mit Urteil vom 5. Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Beschlüsse der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Staatsanleihenkaufprogramm PSPP als ultra vires und damit offensichtlich kompetenzwidrig qualifiziert (2 BvR 859/15). Eine gegenläufige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 11. November 2018 (C-493/17), den das Gericht zuvor im Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) angerufen hatte, bewertet das BVerfG als objektiv willkürlich, weil der Gerichtshof eine substantielle Verhältnismäßigkeitsprüfung verweigert und insoweit die Verträge in einer unvertretbaren, nicht mehr nachvollziehbarer Weise ausgelegt habe (Rn. 112 ff.). Gleichwohl scheint es in der Sache im Kern um etwas anderes zu gehen: den Schutz der Verfassungsidentität gegen kontrollfreie Herrschaftsmacht.
Pitfalls juristischer Hermeneutik
Die Ultra-Vires-Kontrolle setzt bei der methodischen Unhaltbarkeit einer Auslegung an. Dies setzt anerkannte methodische Standards voraus, über die aber in der Regel – schon innerstaatlich – nur sehr begrenzt Konsens herzustellen sein wird. Zur strukturellen Bedeutungsunsicherheit, die keine juristische Hermeneutik abschütteln kann, kommen konzeptionelle Unterschiede im Zugriff auf den Rechtsstoff durch das BVerfG einerseits und den EuGH andererseits. Das BVerfG kann aber nicht der Unionsrechtsauslegung durch den Gerichtshof, die alle Mitgliedstaaten gleichermaßen betrifft, deutsche Interpretationsmethoden oktroyieren. Auch ist das BVerfG selbst niemals Hohepriesterin eines methodischen Purismus gewesen. Vielleicht ist – Unkenrufen deutscher Methodologie-Mimosen zum Trotz – die Rechtsprechung des BVerfG letztlich gerade deshalb die überzeugendere, weil das Gericht von einem materialen Verfassungsverständnis aus prinzipienhaft argumentiert, also methodisch weniger diszipliniert agiert, dafür aber die freiheitlichen Leitbilder hinter der Verfassung zum Leben erweckt und Verfassungskontrolle in der Substanz ausübt.
Wenn methodensensible Kritiker des BVerfG aus der deutschen Staatsrechtslehre dem Gericht geflissentlich Aktivismus und methodische Disziplinlosigkeit vorwerfen, wird kaum bedacht, dass die ersehnte Melange an richterlicher Zurückhaltung und De-Konstitutionalisierung zu Rechtsprechungspraktiken führen könnte, die nicht weit von der Begründungstechnik des EuGH und ihres substanzarmen Formalismus entfernt sind. Und umgekehrt – sowie nicht ohne Ironie – hätte das BVerfG mit derjenigen methodischen Rigidität, die deutsche Traditionalisten gerne vom EuGH einfordern, kaum eine Beschwerdebefugnis über das individuelle Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) zum integrationskritischen Recht auf wirksame Demokratie ausbauen und die europäische Integration demokratischen, rechtsstaatlichen sowie grundrechtlichen Vorbehalten unterwerfen können. Wir sollten froh sein, dass das BVerfG seinen Kontrollauftrag als Verfassungsgericht, der weniger durch einen Methodenkanon als durch ein institutionelles Setting geprägt wird, ernst genommen hat. Das Argument objektiv willkürlicher Auslegung mag daher probates Mittel sein, schluderige Amtsgerichte daran zu erinnern, geltendes Recht plausibel zu ermitteln, statt falsch zu erraten, ist aber im Umgang mit einem Höchstgericht (wie dem EuGH) mit dem erheblichen Risiko behaftet, die begrenzte Exaktheit juristischer Hermeneutik überzustrapazieren.
Auslegungsmethode gesagt, Auslegungsergebnis gemeint?
Dass die Entscheidung des BVerfG mit ihrer – sorgfältig ausbuchstabierten – Begründung am Ende doch trägt, hat einen anderen Grund: Das Gericht sagt Auslegungsmethode, meint aber das inhaltliche Auslegungsergebnis. Der EuGH hat erwartungsgemäß und im Einklang mit einer lange etablierten Praxis, wirtschaftlich komplexe und bewertungsabhängige Entscheidungen – gelinde gesagt – zurückhaltend zu kontrollieren, das materielle Kontrollniveau praktisch auf eine summarische Prüfung reduziert.
Der Gerichtshof prüft eher pflichtschuldig und widerwillig, ob der primärrechtliche Ermächtigungsrahmen „offensichtlich“ durchbrochen wird (EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17, Rn. 25, 30 ff., 79, 81, 91 f.). Hierbei war von vornherein klar, dass die Komplexität der ökonomischen Beurteilungen Evidenzschlüsse praktisch ausschließt. In der Sache hatte damit der EuGH eine ernsthafte Kontrolle verweigert und – nicht das erste Mal – seinen Kontrollauftrag gegenüber der Unionsgewalt als integrationspolitisches Mandat missverstanden, die Kontrollierten gegen die Zumutungen rechtsstaatlich-demokratischer Kontrolle zu immunisieren und ihnen den technokratischen Rücken freizuhalten.
Macht braucht Kontrolle
Macht braucht Kontrolle. Und viel Macht braucht viel Kontrolle. Herrschaftskritische checks and balances zu installieren, um die teils beträchtliche Macht der Unionsorgane demokratie- und rechtsstaatsadäquat einzuhegen, war bislang jedoch leider nicht die Stärke des EuGH.
Solange sich der Gerichtshof vornehmlich als Schutzpatron einer unabhängigen europäischen Verwaltung und ihrer technokratischen Routinen missversteht, deren Eigenrationalitäten gegen die Zumutungen demokratischer wie gerichtlicher Kontrolle abzuschirmen sind, und er Grundrechte – wie im Bereich des Europäischen Haftbefehls – immer dort marginalisiert, wo europäische Kohärenzinteressen auf dem Spiel stehen, wird er seiner Rolle als europäisches Verfassungsgericht nicht gerecht. Die fraglos großen Verdienste des Gerichtshofs bei der Strukturierung des europäischen Verwaltungsrechts stehen in einem offenen Kontrast zur systematischen Weigerung, die Eigenverwaltung der EU durch ein angemessenes Kontrollniveau wirksam zu disziplinieren. Aus den Reihen autoritätsgläubiger Claqueure der Macht unserer Europarechtswissenschaft war Kritik hieran kaum zu vernehmen.
Demgegenüber wurde beklagt, dass es Schule machen könnte, wenn das BVerfG dem EuGH die Gefolgschaft versagt. Das erscheint letztlich nur begrenzt plausibel, weil die Stärkung gerichtlicher Kontrolle gegenüber der Exekutive, die das BVerfG hier fordert, kaum ein vordringliches Projekt autoritärer Populisten sein dürfte. Was aber wäre eigentlich, wenn die Verweigerung des EuGH, mächtige Exekutivstrukturen substantieller Kontrolle zu unterwerfen, Schule macht? Mit einer derart handzahmen Gerichtsbarkeit würde auch eine autoritäre Regierung ihr Auskommen finden, ohne die Justizverfassung (wie in Polen und Ungarn) erst demontieren zu müssen. Und wenn heute eine wirksame Kontrolle der EZB verweigert wird, kann es morgen Frontex oder die Europäische Staatsanwaltschaft und deren Funktionsinteressen betreffen.
Ob man sich dann an die wissenschaftlichen Steigbügelhalter erinnern wird? Will der Gerichtshof gerade gegenüber den wankenden Rechtsstaaten in Europa, für deren rechtsstaatliche Justizverfassung er so engagiert eintritt, als Rechtsprechungsinstanz glaubwürdig bleiben, müsste er auch Unionsorgane einem qualitativen Kontrollniveau unterwerfen, das er mitgliedstaatlichen Gerichten mit Recht abverlangt.
Der Retroschick des Euro-Etatismus
Das Unionsrecht ist bis heute in relevanten Bereichen ein Biotop exekutivzentrierten Herrschaftsdenkens und einer robusten Mentalität des Gouvernementalen geblieben. Dies hat auch hierzulande eine Anhängerschaft. Wer mit den Konstitutionalisierungs- und Liberalisierungsbewegungen im deutschen Verwaltungsrecht hadert, die namentlich das BVerfG – begleitet durch das BVerwG – seit den 1960er Jahren mühevoll gegen etatistische Widerstände erkämpft hat (strikter Vorbehalt des Gesetzes, Einhegung von Letztentscheidungskompetenzen der Verwaltung, enge Grundrechtsbindung, effektiver Rechtsschutz als systematischer Fluchtpunkt), kann Rollback-Hoffnungen auf das Unionsrecht setzen. Leitbilder praktischer Herrschaftsorganisation, denen im deutschen Verwaltungsrecht der Retroschick bundesrepublikanischer Gründungsjahre und konservativer Justizstaatsskepsis vom Schlage Schmitt & Forsthoff anhaften, gelangen hier über einen schneidigen Staatenverbunds-Etatismus zu einer unverdienten Renaissance: Primat der Exekutive, Autorität professioneller Verwaltungsstäbe, elastische Final-Programmierung der Verwaltung, zurückhaltende und weitgehend auf Formales beschränkte Gerichtskontrolle.
Schutz der Unionsorgane gegen die Zumutungen von Demokratie und Rechtstaat
Die Schonung der Unionseigenverwaltung und die Zurücknahme des Kontrollniveaus auf bloße Symbolik haben in der Rechtsprechung des EuGH sowohl Tradition als auch Methode – und genau hierin liegt das Problem. Der eigentliche Grund, warum das BVerfG die Vertragsauslegung des Gerichtshofs letztlich als willkürlich bewertet hat, liegt nach alledem weniger darin, dass die Methode des Gerichtshofs, die Verträge auszulegen, nach Maßgabe etablierter europäischer Auslegungspraktiken überraschend ausgefallen wäre. Vielmehr hätte es das konkrete institutionelle Setting erfordert, einen abweichenden Zugriff zu entwickeln, um die Entscheidungsmacht der EZB angemessen einzuhegen. Stattdessen hat es der Gerichtshof der EZB weitgehend selbst überlassen, den Umfang ihrer Ermächtigung festzulegen.
Mit dem faktisch kontrollfrei gestellten Ermächtigungsrahmen ist zudem eine – primärrechtlich über Art. 130 AEUV abgesicherte – politische Unabhängigkeit verkoppelt, für die es ordnungspolitische Gründe gibt, die aber das konkrete demokratische Legitimationsproblem verschärft. Eine unabhängige Verwaltungsbehörde wird hier aus funktionalen Gründen vor demokratischer Kontrolle abgeschirmt, zugleich werden die rechtstaatlichen Bindungen weder hinreichend konturiert noch gerichtlich wirksam kontrolliert. Dass der Gerichtshof auch in anderen Fällen ein solches Zusammenspiel von Unabhängigkeit und schwacher normativer Programmierung hingenommen hat, wo es noch nicht einmal eine primärrechtliche Verankerung gibt, ist keine Rechtfertigung, sondern macht das Ganze nur noch schlimmer.
Identitätskontrolle als Ausweg
Geht es dem BVerfG daher letztlich um das verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Ergebnis der Unionsrechtsauslegung durch den EuGH, steht die – in einer Kette an Entscheidungen etablierte – Identitätskontrolle zur Verfügung. Damit kann beanstandet werden, dass ein Unionsrechtsakt mit den nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3, 79 Abs. 3 GG indisponiblen Kernstrukturen der Verfassung unvereinbar ist. Das BVerfG hatte bereits in seinem OMT-Urteil die Ultra vires-Kontrolle überzeugend sowie mit eleganter Schlichtheit als Unterfall der Identitätskontrolle aufgefasst, weil eine willkürliche Auslegung des Unionsrechts zugleich die materielle Substanz des Demokratiegebots verletzt (BVerfGE 142, 123 [199, 203]).
Dies ließe sich ausbauen, eine Brücke zur Rechtsstaatlichkeit schlagen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3, 79 Abs. 3 i. V. mit Art. 20 Abs. 3 GG) und zudem durch qualitative Mindestanforderungen an ein demokratisches Legitimationsniveau anreichern, auf das Unionsorgane auch unabhängig von der Interpretation ihrer Kompetenzen materiell verweisen können müssen. Die materiellen Integrationsgrenzen des Grundgesetzes lassen es nicht zu, Herrschaftsexklaven zu dulden, in denen Hoheitsgewalt außerhalb demokratischer Verantwortung ohne enge Einhegung durch Recht und ohne praktisch wirksame Kontrollmechanismen ausgeübt wird.
Das BVerfG hätte möglicherweise weniger Angriffsfläche geboten, wenn es seine Entscheidung mit im Wesentlichen gleicher Begründung explizit auf eine Verletzung der Verfassungsidentität gestützt hätte. Dies wäre zwar nicht weniger folgenreich. Denn insofern kann es Deutungen des Unionsrechts geben, die aus verfassungsrechtlicher Sicht selbst dann inhaltlich inakzeptabel sind, wenn sie unionsrechtsmethodisch vertretbar begründet werden. Gleichwohl wäre aber ein Interpretationskonflikt mit dem EuGH über die letztverbindliche Auslegung des Unionsrechts vermieden worden. Dies alles ändert nichts daran, dass das BVerfG die Defizite der Entscheidung des EuGH akribisch analysiert und überzeugend begründet hat.
Erhöhter Kontrollbedarf gegenüber unabhängigen Exekutivorganen
Gerade weil die EZB keiner demokratischen Verantwortlichkeit unterworfen ist, muss ihre rechtsstaatliche Bindung kompensatorisch umso enger gezogen und umso wirksamer kontrolliert werden. Greift die EZB über ihren primärrechtlichen währungspolitischen Auftrag (Art. 282 Abs. 1 AEUV) hinaus und in die Wirtschaftspolitik über, geht es aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht – wie dies in der Grammatik politischer Ökonomie bisweilen (bewusst?) verzerrend gedeutet wurde – um Interessen „deutscher Sparer“. Es geht zwar auch, aber nicht nur um die durch demokratisches Zustimmungsgesetz nach Art. 23 Abs. 1 Sätz 2-3 GG legitimierten und insoweit limitierten Kompetenzgrenzen zwischen Union und Mitgliedstaaten. Vor allem geht es darum, basale Anforderungen an die demokratische Legitimation von Herrschaft zu sichern und Machtmissbrauch entgegenzuwirken, dessen Risiko bei unabhängigen Organen, die sich keiner echten demokratischen Verantwortung stellen müssen, besonders hoch ist. Berichtspflichten und Begründungstransparenz also solche schaffen ebenso wenig Legitimation wie spezifischer Sachverstand.
Das unionsrechtliche Versagen des Europäischen Gerichtshofs
Das Unionsrecht lässt sich nicht aus der Perspektive einer einzelnen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung formen. Die in Art. 2 EUV niedergelegten und in den Verträgen ausbuchstabierten Werte kann letztlich nur der EuGH zur Geltung bringen. Dieser hat gewiss die schwierige Aufgabe, immer noch sehr unterschiedliche Rechtsordnungen und Herrschaftsverständnisse zusammenzuführen. Dies wird vielleicht manchmal unterschätzt.
Gleichwohl kann dies nicht bedeuten, rechtsstaatliche und demokratische Standards jeweils minimalistisch am kleinsten gemeinsamen Nenner auszurichten. Das Unionsrecht muss – wie auch sonst – inhärente Maßstäbe ausformen, die den Stand der Verträge überzeugend abbilden. Art. 10 Abs. 1-2 EUV gründet die Union auf dem Modell der repräsentativen Demokratie. Dies verlangt Abstand zu den Verwaltungskonzepten präsidialer Regierungsmodelle und steht Clustern demokratisch nicht verantwortlicher Exekutiv-Technokratien entgegen. Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 47 GRCh verpflichten zu einem praktisch effektiven Rechtsschutz und auf ein hohes Kontrollniveau.
Der Gerichtshof hat zwar damit begonnen, unter der Ägide des Art. 47 GRCh die Anforderungen an den Rechtsschutz gegenüber den Mitgliedstaaten überzeugend zu konturieren. Entscheidungen wie in der Rechtssache Weiss (EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17), die stellvertretend für eine gewachsene Kontrollmentalität stehen, zeigen aber, dass der Gerichtshof offenbar nicht bereit ist, mit gleicher Konsequenz auch Risiken des Machtmissbrauchs durch Unionsorgane einzudämmen.
Nationale Selbstbehauptung oder Nudging zur Selbstfindung des EuGH?
Das BVerfG hat in seinem PSPP-Urteil daher nicht nationale Eigeninteressen gegen die Union behauptet, sondern eine andere institutionelle Balance innerhalb der Architektur der EU gefordert, die dem EuGH gerade eine kraftvollere Rolle als europäisches Verfassungsgericht abverlangt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bilden nicht nur das materielle Wertefundament, das verfassungsrechtliche Mindestbedingung einer Mitwirkung an der EU ist (Art. 23 Abs. 1 Sätze 1 & 3, Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 2-3 GG). Sie bilden zugleich die basalen Werte der Union (Art. 2 EUV), deren prinzipienhaften Bedeutungsgehalt der EuGH schon in mehreren Entscheidungen zur Konkretisierung operativen Primärrechts herangezogen hat.
Würde sich der Gerichtshof auf die Kritik des BVerfG konstruktiv einlassen und ein Kontrollniveau etablieren, das der demokratischen und rechtstaatlichen Struktur der Union wirklich gerecht wird, wäre er am Ende der eigentliche Gewinner. Auch Reservevorbehalte des BVerfG würden sich dann von selbst erledigen.