Institutioneller Rassismus in der Justiz
Nährboden für die Strategie autoritär-populistischer Parteien
Asylklagen vor dem Verwaltungsgericht (VG) in Gera sind bisher selten erfolgreich gewesen. Der ehemals zuständige Richter, Bengt Fuchs, steht unter Verdacht, seine richterliche Unabhängigkeit missbraucht zu haben. Er lehnte Klagen von Geflüchteten aus Nigeria und Eritrea deutlich häufiger ab als seine Kolleg*innen im Bundesdurchschnitt.
Rassismus in der Justiz ist ein Nährboden für die Strategie autoritär-populistischer Parteien, ihre Erzählung vom „wahren“, weißen Volk Wirklichkeit werden zu lassen – unter dem Deckmantel der Rechtsstaatlichkeit. Versuche, diesen Nährboden zu entziehen, gibt es kaum, und die, die es gibt, sind selten erfolgreich. Rassistische Diskriminierung trifft in Thüringen Black People und People of Colour (BPoC), also diejenigen, die das Diskriminierungsverbot (Art. 3 GG, hier Abs. 3 S. 1) schützen soll. Rassistische Diskriminierung ist illegal. Und doch institutionalisiert sie sich genau da, wo Recht gegen Diskriminierung wirken soll – vor Gericht. Institutioneller Rassismus gefährdet die politische Gleichheit aller Bürger*innen und dient damit der autoritär-populistischen Strategie. Es braucht deshalb dringend mehr Forschung und einen rassismussensiblen Bewusstseinswandel in der Justiz.
Die Kehrseite der richterlichen Unabhängigkeit
Werfen wir einen Blick in den Gerichtssaal des VG Gera. Stellen wir uns vor, wie Destiny (Nachname unbekannt), der aus Nigeria geflohen ist, weil er wegen seiner Homosexualität Gewalt erfahren hat, Richter Fuchs gegenübertritt. Es geht um die Zuerkennung von Destinys Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte Destinys Asylantrag abgelehnt, dagegen klagt er. Ohne Erfolg: Er kann Fuchs nicht davon überzeugen, dass er schwul ist – und somit auch nicht darlegen, dass ihm in Nigeria deswegen Verfolgung droht. Fuchs’ Urteile sind oft aus denselben Textbausteinen vermeintlich „neutraler“ juristischer Formulierungen zusammengesetzt; die Vorträge der Kläger*innen seien „vage“, „detailarm“ und „unsubstantiiert“, daher unglaubhaft und unbegründet. Missbraucht Fuchs hier seine Unabhängigkeit?
Richter*innen wird in der Verfassung ein weitreichender Entscheidungsspielraum zuerkannt. Dieser ist sinnvoll, kann jedoch nicht zu rechtfertigende Diskriminierungen hinter scheinbar neutral und formal-juristischen Formulierungen verstecken. Und wo der Missbrauch richterlicher Unabhängigkeit anfängt und aufhört, ist rechtlich nicht im Einzelnen festgelegt.
Für die Zwecke unseres Textes definieren wir den Missbrauch rechtlicher Unabhängigkeit, in Anlehnung an den Begriff des Rechtsmissbrauchs, wie folgt: Ein Missbrauch richterlicher Unabhängigkeit liegt vor, wenn Richter*innen diese Unabhängigkeit in einer Weise nutzen, die dem Zweck dieser Unabhängigkeit (neutral, also möglichst unvoreingenommen Recht zu sprechen) widerspricht. Mit Missbrauch meinen wir nicht die äußere Einflussnahme auf Richter*innen, sondern, dass Richter*innen persönliche Voreingenommenheiten wie rassistische biases in Urteile übersetzen – und so eben nicht neutral Recht sprechen.
Eine absolute Unvoreingenommenheit von Richter*innen gibt es nicht: Auch Richter*innen können sich rassistischen gesellschaftlichen Annahmen (z.B. Stereotypen oder diskriminierenden Kategorien) nicht entziehen. Aber sind sie sich ihrer biases bewusst, können sie sich bemühen, sich in ihren Entscheidungen nicht von diesen biases leiten zu lassen und möglichst neutral zu urteilen.
Biases von Richter*innen werden öffentlich selten diskutiert. Das liegt zum einen daran, dass sie nicht leicht erkannt werden, zum anderen daran, dass die Legitimität richterlicher Entscheidungen geschützt werden soll – damit die Bürger*innen nicht ihr Vertrauen in die Institutionen der Demokratie verlieren. Die „Unantastbarkeit“ der richterlichen Unabhängigkeit hat aber eine Kehrseite: Rassistische Diskriminierung im Gerichtssaal bleibt unentdeckt, unbesprochen und wird so von staatlicher Stelle legitimiert. Im Folgenden zeigen wir, dass davon am Ende autoritäre Populist*innen profitieren.
Auch die Justiz institutionalisiert Rassismus
Dass man bei Fuchs „keinen Blumentopf gewinnen“ kann, ist seit Jahren bekannt. Ein „Bengt-Christian Fuchs, Salia Jenensis Göttingen“ hatte sich im Internetforum „Tradition mit Zukunft“ jahrelang rassistisch, homophob, antiziganistisch und sexistisch geäußert. Erst im Juli dieses Jahres, nachdem die Antifa Freiburg die Posts öffentlich kritisierte, wurde ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet. Fuchs’ Urteile verdeutlichen, wie autoritär-populistisch gesinnte Richter*innen urteilen und unter dem Deckmantel der richterlichen Unabhängigkeit gegen BPoC vorgehen (könnten). Damit stützen sie die Strategie autoritär-populistischer Partei, das konstruierte, homogene, (im Fall Thüringens) weiße Volk politische Wirklichkeit werden zu lassen. Im Falle rassistisch restriktiver Asylrechtsprechung werden BPoC aus der Gesellschaft ausgeschlossen – so wird das völkische Ideal autoritärer Populist*innen nach und nach Wirklichkeit.
Paradoxerweise kann eine autoritär-populistische Partei ein Disziplinarverfahren wie das gegen Fuchs zugleich nutzen, um ihre populistische Erzählung von den „korrupten“ etablierten Parteien zu stärken. Dieses Verfahren sei – so würde es die autoritär-populistische Partei dann sagen – ein Schlag gegen die richterliche Unabhängigkeit von Fuchs, ein Schlag gegen den Rechtsstaat und damit gegen das „Volk“. Diejenigen, die ein solches Verfahren anstrengten, seien die eigentlichen Autoritären. Das heißt: Selbst in einem Szenario, in dem eine autoritär-populistische Partei von rassistisch diskriminierenden Urteilen in Asylprozessen profitiert, kann und wird sie der „Elite“ undemokratisches Verhalten vorwerfen und sich selbst als einzig wahre Vertretung des „Volkes“ darstellen.
Das Verfahren zu Bengt Fuchs wird öffentlich als Einzelfall gehandelt. Ebenso die Verfahren gegen Jens Maier (ehemaliger Richter am Landgericht Dresden), Thomas Seitz (ehemaliger Staatsanwalt) und Birgit Malsack-Winkemann (ehemalige Richterin am Landgericht Berlin). Sie alle fielen durch rassistische Äußerungen auf.
Der rassistische bias des „objektiven Betrachters“
Rassistische Motive einzelner Richter*innen in der Urteilsfindung stehen nicht für sich allein. Sie sind Ausdruck rassistischer biases und als solche immer auch „Ausdruck des strukturellen Rassismus in der Gesellschaft“, also dem Wissen und der Praktiken, „die rassistische Ausschlüsse aus einer Gesellschaft (re-)produzieren“.1) Wenn Institutionen und Organisationen strukturellen Rassismus durch ihre Arbeit gesellschaftlich produzieren und verankern, nennt man das in der Rassismusforschung institutionellen Rassismus.
Ein Beispiel: Das umstrittene Kopftuchverbot für Referendar*innen und Richter*innen institutionalisiert Rassismus, indem es rassifizierte Personen unmittelbar benachteiligt. Daran ändert auch der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, der das Verbot für zulässig erklärt, nichts. Das Gericht argumentierte wie folgt: Wenn Beamt*innen religiöse Symbole im richterlichen Dienst tragen, dann begründe das für sich allein noch keine Zweifel an ihrer Neutralität. Ein „objektiver Betrachter“ – hier: die imaginierte (!) Allgemeinheit – könnte ein Kopftuch aber als „Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität“ (Rn. 90) von Staatsdienenden verstehen. Deswegen ordnet das Gericht die Hijab-tragende Referendarin nicht in die Kategorie „neutral“ ein und verwehrt ihr so den Zugang zum Amt, wider den in Art. 33 GG bestimmten Grundlagen des Beamtenrechts.
Der „objektive Betrachter“, an dem sich das Bundesverfassungsgericht in seinen Kopftuch-Entscheidungen so maßgeblich orientiert hat, steht stellvertretend für die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft. Diese Perspektive gilt häufig als „neutral“ und „objektiv“ – dabei ist sie imaginiert und gesteht weißen Menschen die Deutungshoheit zu. Mit anderen Worten: Was für die vom Gericht imaginierte weiße Mehrheitsgesellschaft „normal“ ist, wird in den Kopftuch-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (insb. 2017) „neutral“ und „objektiv“. Schon Richter*innen, die Neutralität und Normalität verwechseln, institutionalisieren Rassismus in der Justiz.
Anzunehmen, von den Kopftuch-Entscheidungen wären nur Hijab-tragende Referendarinnen und Richterinnen betroffen, ist zu kurz gedacht. Die Justiz trägt die Rassismen, die sie (re)produziert und institutionalisiert, als legitimierte Kategorien oder Deutungen zurück in die Öffentlichkeit. So normalisierten die Kopftuch-Entscheidungen die paternalistische Deutung, kopftuchtragende Frauen seien unterdrückt.
Autoritär-populistische Parteien sind auf Deutungen angewiesen, die ihr rassistisches Programm normalisieren. Haben sie die Demokratie noch nicht in ein autoritäres System verwandelt, brauchen sie Wähler*innen, die ihnen (erneut) politische Entscheidungsmacht übertragen. Julia Leser hat bereits darauf hingewiesen, dass sich autoritär-populistische Parteien aktiv darum bemühen, rechte Wohlfühlräume zu schaffen, um rassistische Einstellungen gesellschaftlich akzeptabel zu machen. Sie nennt die Normalisierungs-Spirale von Rassismen „Mikropolitik des Rechtsrucks“ und zeigt, dass auch demokratische Akteur*innen strukturellen Rassismus popularisieren und institutionalisieren.
Auf dem Weg zu einer Gesellschaft, in dem eine autoritär-populistische Partei das „Volk“ zum „wahren Volk“ macht, ist ein sich institutionalisierender Rassismus ein zentraler Schritt. Er festigt die populistische Erzählung, „die anderen“ (rassifizierten Personen) würden nicht „zu uns“ gehören. Es stärkt den Mythos vom homogenen Volkswillen, wenn die imaginierte, angeblich neutrale, weiße, homogene Mehrheitsgesellschaft einer rassifizierten Minderheit gegenübersteht. Bestes Beispiel ist Viktor Orbán, der bestehende rassistische Erzählungen in der ungarischen Gesellschaft nutzt, um seine Anti-Flüchtlings-Politik aufzubauen2) und zugleich ein ethnisch-nationalistisches ungarisches Volk zu konstruieren.
Von der versprochenen zur wirklichen Gleichheit
Die Verantwortung, Rassismus abzuschaffen, liegt bei denen, die nicht rassifiziert werden und von rassistischen Strukturen profitieren – nicht bei den Betroffenen. Auffällig oft kümmern sich ausschließlich zivilgesellschaftliche Organisationen in der Anti-Rassismus-Arbeit darum, rassistische Verdachtsfälle in der Justiz aufzuarbeiten.
Hier braucht es dringend empirische, interdisziplinäre Forschung zu institutionellem Rassismus in der Justiz. Erst, wenn Jurist*innen ihren individuellen, sowie den strukturellen und institutionellen Rassismus in der Justiz nicht mehr negieren, sondern als real stattfindende Diskriminierung anerkennen, kann die Justiz ihr defizitäres Rassismus-Verständnis überwinden. Nur dann wird sie ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag gerecht, Diskriminierungsverbote zu wahren und faire Verfahren zu gewährleisten. Nur dann wird die im Gesetz versprochene Gleichheit auch zu wirklicher Gleichheit.
Es braucht in Deutschland (aber auch darüber hinaus) Forschungsprojekte, die aus antirassistischer, feministischer und dekolonialer Perspektive empirisch untersuchen, wie Recht ausgehandelt wird und wie es in der Rechtsrealität auf bestimmte Personen(gruppen) wirkt. Mit kritischer und interdisziplinärer Forschung vermessen wir den Nährboden für autoritäre Populist*innen.
Um tatsächliche Veränderung zu bewirken, müssen wir an die Wurzel gehen. Ein Anfang wäre eine diverser besetzte Justiz. Die meisten Jurist*innen in Deutschland, die Themen setzen und Diskurse bestimmen, die die sogenannte „Mehrheitsmeinung“ oder „herrschenden Meinungen“ prägen, sind selbst weiß. Rechtswissenschaftler*innen haben beschrieben, wie sich diese „Norm“ nicht nur bei Jurist*innen, sondern auch in der Gesellschaft festsetzt und damit den Zugang zu juristischen Berufen einschränkt. Fehlende Diversität (re)produziert sich also selbst – und festigt die Wurzeln ausgrenzender Strukturen. Auch gesellschaftliche Normalitätsannahmen übersetzen sich durch institutionellen Rassismus in die Besetzung des Rechtsstabs: Eine Hijab-tragende Rechtsreferendarin gilt grundsätzlich als nicht neutral, obwohl sich in ihrer juristischen Arbeit keine Anhaltspunkte dafür finden; ein Richter, der sich rassistisch äußert, gilt dagegen schon als neutral.
Positive Maßnahmen, die bestehende rassistische Benachteiligung beseitigen, lassen sich durchaus mit dem GG vereinbaren. Affirmative action entspricht dem Zweck der Diskriminierungsverbote aus Art. 3 GG und ist daher verfassungsrechtlich zulässig – wenngleich nach jetziger Rechtslage nicht verpflichtend. In der Praxis könnte affirmative action auf Quotenregelungen zur Besetzung von staatlichen Ämtern und Rassismus-Awareness-Fortbildungen für Richter*innen zielen. Um tatsächliche Veränderungen herbeizuführen, müsste bereits beim Zugang zur juristischen Ausbildung angesetzt werden (ungleiche Voraussetzungen für BPoC beschreiben Liebscher et al. hier).
Hätte es vor Destinys Klage