Intervention auf Irrwegen
Der Fall Südafrika gegen Israel und die problematische Rolle Deutschlands im Hauptverfahren
Am 29.12.2023 reichte Südafrika Klage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gegen Israel wegen Verstößen gegen die Völkermordkonvention im Gazastreifen ein. Zusätzlich zum Hauptsacheantrag begehrte Südafrika im einstweiligen Rechtsschutz den Erlass von vorsorglichen Maßnahmen („Provisional Measures“), auf die sich auch die zweitägige Anhörung der Parteien bezog. Am zweiten Tag der Anhörungen verkündete Deutschland, zugunsten Israels zu intervenieren, mit der Begründung, der Vorwurf des Völkermords entbehre jeder Grundlage. Neben einer Zusammenfassung der Parteivorträge und der Eilrechtsschutzentscheidung des IGH vom 26.1.2024 beleuchtet der Beitrag die deutsche Rolle im Hauptsacheverfahren. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entscheidung wie auch der Pluralität deutscher historischer Verantwortung droht die geplante Intervention der Glaubwürdigkeit Deutschlands im multilateralen System weiter zu schaden und die Universalität des Völkerrechts auszuhöhlen.
Südafrikas Klagevorwurf
Südafrikas Argumentation in der Klageschrift legt dar, inwiefern Israel seit dem 7.10.2023 einen Völkermord i.S.v. Art. II der Völkermordkonvention im Gazastreifen begehe (Klage, Rn. 1), wobei der Schriftsatz in erster Linie Sachverhaltsaufarbeitung zur Lage der Palästinenser*innen im Gazastreifen enthält. Argumentativ widmet sich Südafrika den Elementen des actus reus (Tathandlungen des Artikel II a-d) sowie der mens rea (genozidale Absicht).
Obwohl Südafrika seinen Schriftsatz und mündlichen Vortrag in einen breiteren historischen Kontext einbettet (Rn. 2), liegt der Fokus auf den Ereignissen seit dem 7.10.2023. Dabei macht Südafrika unter Berufung auf UN-Quellen detaillierte Ausführungen zum Ausmaß der durch die israelischen Militärangriffe verursachten Schäden im Gazastreifen (u.a. Rn. 4, 19). Demnach seien 1,9 Millionen Menschen aus ihren Häusern und in immer kleinere Gebiete ohne angemessenen Schutz vertrieben worden. Israel habe mehr als 21.110 Palästinenser*innen getötet, darunter über 7.729 Kinder, 55.243 weitere Menschen verletzt und ihnen schwere körperliche und seelische Schäden zugefügt. Weite Teile des Gazastreifens seien durch die Angriffe verwüstet und mehr als 355.000 Häuser sowie große Teile der Infrastruktur beschädigt oder zerstört worden.
Diese ausführlich geschilderten Folgen und Handlungen schreibt Südafrika jeweils den genozidalen Handlungen aus Art. II lit. a-d Völkermordkonvention im Rahmen seiner actus reus-Analyse zu: namentlich der Tötung von Palästinenser*innen in Gaza (lit. a; Rn. 45-50), der Verursachung schwerer körperlicher und seelischer Schäden (lit. b; Rn. 51-54) sowie der Auferlegung von Lebensbedingungen, die auf die physische Zerstörung der Gruppe ausgerichtet sind (lit. c; Rn. 55-87).
Die darauffolgende mens rea-Analyse stützt sich auf Äußerungen israelischer Führungspersonen als Beweis für die erforderliche genozidale Absicht. Diese stellt gemeinhin den Kern des Völkermordvorwurfs dar und erfordert die Absicht, die Gruppe, der die Opfer des Völkermords angehören, ganz oder teilweise zu vernichten. Dabei können Fälle besonders extremer Verfolgung und ethnischer Säuberungen auf eine solche Vernichtungsabsicht hinweisen (Bosnia-Herzegovina v. Serbia und Montenegro, Rn. 188-190, ICTY, Kupreškic, Rn. 636). Um Israels Genozidabsicht darzulegen, verweist Südafrika auf zahlreiche Äußerungen von hohen Vertretern des israelischen Staates, u.a. des Premierministers, des Präsidenten, des Verteidigungsministers, des Sicherheitsministers, sowie von Militärangehörigen, die auf eine genozidale Absicht bei der Durchführung der israelischen Militäroperation in Gaza schließen lassen (Rn. 101-105).
So wird der Präsident Israels in einer Pressekonferenz vom 12. Oktober 2023 wie folgt zitiert: „Es ist eine ganze Nation da draußen, die verantwortlich ist. Es ist nicht wahr, dass die Zivilisten nichts wissen und nicht beteiligt sind. Es ist absolut nicht wahr […] und wir werden kämpfen, bis wir ihnen das Rückgrat brechen“ (Rn. 101). Auch der Verteidigungsminister habe zuvor in einem Lagebericht der israelischen Armee erklärt, dass der Gazastreifen vollständig belagert werden müsse: „Kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Treibstoff. Alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“ In Richtung der Truppen an der Grenze habe er alle Beschränkungen aufgehoben: „Gaza wird nicht mehr so sein wie vorher. Wir werden alles beseitigen.“ (Rn. 101).
Aus diesem Zusammenspiel von gerügten genozidalen Handlungen und genozidaler Absicht schlussfolgert Südafrika, Israels Militärhandlungen im Gazastreifen erfüllten die Genozidvoraussetzungen, weswegen sowohl die Zuständigkeit des Gerichtshofs gegeben als auch eine entsprechende Entscheidung in der Hauptsache begründet sei.
Israels Verteidigungslinie
Israel verteidigte sich in der Anhörung am 12.1.2024 vor dem IGH gegen den von Südafrika gleichzeitig beantragten Erlass vorsorglicher Maßnahmen zunächst in dreierlei Hinsicht.1) Erstens fehle es dem Gericht bereits an jeglicher prima facie Zuständigkeit. Diese erfordere, dass der Gerichtshof auf der Ebene des einstweiligen Rechtsschutzes nur entscheiden dürfe, wenn seine Zuständigkeit zumindest plausibel erscheine. Da die Streitparteien der Zuständigkeit des Gerichtshofs ausschließlich mit Blick auf die Völkermordkonvention unterworfen sind, könne der IGH über Kriegsverbrechen oder andere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht nicht entscheiden. Insbesondere beruft sich Israel darauf, dass der Genozidvorwurf derart abwegig sei, dass der Gerichtshof nicht einmal im einstweiligen Rechtsschutzverfahren darüber entscheiden dürfe (Anhörungsprotokoll, S. 28 ff.).
Israel suchte zunächst mit einigem Argumentationsaufwand den Beweismaßstab für die Klägerseite entsprechend zu definieren, um aufzuzeigen, weshalb dieser vorliegend nicht erfüllt sei (S. 29 ff.). Im Zentrum von Israels Verteidigung stand dabei die Begründung, dass die Schilderungen Südafrikas zur genozidalen Absicht bestenfalls lückenhaft, darüber hinaus jedoch verzerrend und unwahr seien (S. 40 ff.). Für die Bewertung einer genozidalen Absicht könne ausschließlich Bezug auf Äußerungen der Mitglieder des Ministerausschusses für nationale Sicherheitsangelegenheiten sowie des Kriegskabinetts Bezug genommen werden (S. 32). Die von Südafrika aufgeführten Aussagen seien dagegen ausschließlich rhetorischer Natur gewesen (S. 34 f.). Aus verschiedenen Aussagen von Regierungsmitgliedern (S. 32-34) sowie Handlungen der israelischen Armee (S. 44 ff.) ergebe sich, dass Israel durchgehend beabsichtigt habe, im Rahmen des (Völker-)Rechts zu agieren.
In einer zweiten Argumentationslinie führte Israel ausführlich aus, inwiefern der von Südafrika dargestellte Sachverhalt den Kontext des 7.10.2023 völlig außer Acht lasse (S. 22 ff.) und damit das Selbstverteidigungsrecht Israels negiere (S. 38 f.). Zudem bliebe beim Vortrag der Klägerseite die militärische Taktik der Hamas und deren eigene Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht unberücksichtigt, welche jedoch die durch Israel ergriffenen kriegerischen Maßnahmen rechtfertigen würden (S. 41 ff.).
Schließlich schlussfolgert Israel, dass auch formal die Voraussetzungen für den Erlass vorsorglicher Anordnungen nicht gegeben seien, da die hierfür notwendige Dringlichkeit fehle (S. 49 ff.). Angesichts der vorgetragenen Bemühungen Israels zur Schonung der Zivilbevölkerung und Versorgung mit humanitärer Hilfe bestehe keine Gefahr einer irreparablen Schädigung der Rechte der Palästinenser*innen (S. 51-53). Damit fehle insgesamt jegliche Grundlage für den Erlass einstweiliger Maßnahmen.
Die einstweiligen Anordnungen und deren Auswirkungen
Am 26.1.2024 hat der Gerichtshof seine Entscheidung zu den „Provisional Measures“ verkündet. Zielrichtung des südafrikanischen Eilantrags war die Verhinderung irreparabler Schäden für die Rechte der palästinensischen Bevölkerung, weshalb es in der Anhörung am 11. Januar 2024 neun einstweilige Anordnungen beantragte. Diese waren auf eine sofortige Beendigung der Militärhandlungen im Gazastreifen (Klage, Rn. 144, Antrag 1) und auf die Verpflichtung Israels gerichtet, jegliche Handlungen zu unterlassen, welche unter die Tathandlungen des Genozids fallen (Anträge 4, 5) sowie zur Vernichtung von Beweismitteln beitragen könnten (Antrag 7).
Der Gerichtshof hat Südafrikas Antrag ganz überwiegend entsprochen und Israel zur Einhaltung von sechs vorsorglichen Maßnahmen verpflichtet.
Bemerkenswert ist, dass die angeordneten Maßnahmen mit einer weit überwiegenden richterlichen Mehrheit von 15 zu 2 (bzw. 16 zu 1) Stimmen ergingen. Damit waren insgesamt nur eine Richterin und ein Richter (sowie ein dennoch die Entscheidung tragender dritter Richter) der Ansicht, dass der Vorwurf des Genozids durch Südafrika bereits nicht plausibel vorgetragen worden sei.
Dabei ist der im Eilrechtsschutz deutlich reduzierte Beweismaßstab entscheidend. In der Vergangenheit betonte der Gerichtshof wiederholt, dass im Rahmen des Eilrechtsschutzes die genozidale Absicht gerade nicht die einzig schlüssige Interpretation von staatlichen Handlungen und Äußerungen sein, sondern diese lediglich plausibel dargelegt werden müsse (The Gambia v. Myanmar, Rn. 30, 52-56; Ukraine v. Russian Federation, Rn. 43). Dies bestätigt der IGH nun erneut, indem er klarstellt, dass die zu schützenden Rechte jedenfalls plausibel gefährdet sein müssen (Beschluss, Rn. 36) – was vorliegend der Fall war. Damit verwirft das Gericht gleichzeitig die israelischen Versuche einer Erhöhung der Bewertungsmaßstäbe (Anhörungsprotokoll, S. 30).
Zudem stützt das Gericht seine Feststellungen zur Plausibilität des Genozid-Vorwurfs ausdrücklich auf die aktuell bekannten Zahlen von Opfern und zerstörter Infrastruktur (Beschluss, Rn. 46) sowie auf Aussagen von israelischen Politikern nach dem 7.10.2023 (Beschluss, Rn. 51-53). Schließlich bejaht der Gerichtshof auch die Dringlichkeit aufgrund des Risikos irreparabler Schäden für die palästinensische Bevölkerung und verweist diesbezüglich auf Aussagen von hochrangigen UN-Beamten und die Aussage Netanjahus, der Krieg werde noch „viele weitere lange Monate“ andauern (Beschluss, Rn. 67-71). Hingegen spielte das von Israel gegen den Genozidvorwurf geltend gemachte Selbstverteidigungsrecht in der einstweiligen Entscheidung des Gerichts keine Rolle (s. auch hier; anders hier und hier).
In der Konsequenz dieser Feststellungen, welche die südafrikanische Argumentation bestätigen, ordnet das Gericht sodann sechs vorsorgliche Maßnahmen an (Beschluss, Rn. 86). Einige Kommentatoren waren im Vorhinein davon ausgegangen, der IGH werde nur solche Maßnahmen anordnen, die eine Fortsetzung des Krieges in Form einer „kontrollierten Gewalt“ zuließen (ähnlich hier). Auf den ersten Blick könnte die fehlende Anordnung einer sofortigen Beendigung der Militäroperation zwar darauf hindeuten, die Entscheidung lasse eine solche Fortsetzung der Gewalt zu – daher auch der primäre Eindruck einer (Teil-)Niederlage Südafrikas (auch hier; anders hier). Allerdings kann die Anordnung des IGH, Israel müsse „alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen ergreifen, um die Begehung aller Handlungen zu verhindern“, die unter Art. II der Völkermordkonvention fallen (Beschluss, Rn. 86), durchaus als Gesamterfolg des Eilantrags gewertet werden. Denn fraglich ist, wie Israel mit einer „humanen“ Kriegsführung – die es bereits bisher angibt, durchgeführt zu haben – etwa die Auferlegung von Lebensbedingungen, die auf die physische Zerstörung einer Gruppe ausgerichtet sind (lit. c), verhindern will. Daher erscheinen jedenfalls auch diejenigen Stimmen, die in der Anordnung einen impliziten Aufruf zu einem Waffenstillstand sehen, nicht abwegig. Zumindest würde ein ausgehandelter Waffenstillstand das effektivste Mittel zur Verhinderung solcher Tathandlungen darstellen. Auch in diesem Sinne nimmt die IGH-Entscheidung den weltweiten Forderungen nach einem Waffenstillstand keineswegs den Wind aus den Segeln.
Umso wichtiger erscheint das von der Entscheidung ausgehende politische Signal: Der Gerichtshof hat nicht von vornherein seine Zuständigkeit für das Verfahren verneint (anders erwartet hier und hier), sodass die potentielle Begehung eines Völkermords, wie sie sich in Äußerungen der israelischen Regierung und militärischen Handlungen in Gaza abzeichnet, plausibel dargelegt wurde. Dies entkräftet auch Äußerungen Verbündeter Israels, die einen solchen Vorwurf bisher mit Vehemenz zurückgewiesen hatten. Gleichzeitig bleibt abzuwarten, ob und inwiefern Israel die durch den Gerichtshof angeordneten Maßnahmen zu befolgen gedenkt. Die Äußerung des Premierministers, Israel werde sich hierdurch „nicht stoppen“ lassen, stimmen eher pessimistisch (auch hier). Dennoch dürfte mit der klaren Entscheidung auch der Druck auf Israels Verbündete steigen, im Sinne der sonst oft bemühten Autorität des IGH ihrer Verantwortung gerecht zu werden, Israel zur Einhaltung der gerichtlichen Anordnungen zu bewegen.
Die Rolle Deutschlands im Hauptsacheverfahren
Neben den einstweiligen Anordnungen stellt sich im Folgenden die Frage, welche Rolle Deutschland im weiteren Verfahren einnehmen sollte. Die Bundesregierung ließ hierzu bereits am 12.1.2024 verlauten, dass sie „intendiert, in der Hauptverhandlung als Drittpartei zu intervenieren“ (s. auch hier), und stellt sich mit Verweis auf die deutsche Vergangenheit ausdrücklich an die Seite Israels (befürwortend hier). Mit Blick auf die deutschen Handlungsmaximen der vergangenen Monate ist dieser Schritt zunächst keine besondere Überraschung.
Denn seit dem Angriff der Hamas hat sich Deutschland immer wieder deutlich und in uneingeschränkter Solidarität an die Seite Israels gestellt, u.a. durch Zusicherungen des Bundeskanzlers und des Bundestags. Hinzu kommen zahlreiche Beispiele für politisches Verhalten, welches international teilweise für Irritation und Empörung gesorgt hat (z.B. hier und hier), wie die Ablehnung eines Waffenstillstands bei der EU-Positionierung sowie die spätere Enthaltung zur mit großer Mehrheit angenommenen UN-Generalversammlungsresolution. Zwar mögen solche Verhaltensweisen auf den ersten Blick im Lichte einer in Merkelscher Tradition formulierten deutschen „Staatsräson“ (hier und hier) noch schlüssig erscheinen. Jedoch ist die Verwendung eines lange tabuisierten Begriffs, der traditionell die Durchsetzung staatlicher Interessen zu Lasten von Gesetz und Rechten Einzelner beschreibt, für eine nachdrückliche Solidaritätsbekundung ungeeignet bis problematisch (hier sowie zur Umsetzung hier). In jedem Fall folgt aus ihr keine rechtliche Bindung, wohl aber ein konstanter politischer und moralischer Positionierungszwang.
Trotz der daher konsequenten Ankündigung Deutschlands, sich auch im Verfahren vor dem IGH solidarisch mit Israel zu zeigen, lässt die Stellungnahme der Bundesregierung aufhorchen. Darin deutet sie zunächst eine Instrumentalisierung der Konvention gegen Israel an. Gegen diesen Instrumentalisierungsvorwurf spricht jedoch grundsätzlich, dass Südafrika einen offenstehenden internationalen Rechtsweg nutzt, in dessen Zentrum die Klärung einer Rechtsfrage steht, für deren Beantwortung der IGH das richtige Forum darstellt (auch hier) – wie auch die Entscheidung im einstweiligen Verfahren belegt. Dies gilt selbst wenn Südafrika mit der Klage gleichzeitig politische Motive verfolgen mag. Andernfalls wäre wohl dem Großteil der vor dem IGH angestrengten Verfahren derselbe Vorwurf zu machen (ähnlich hier). Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass die Anstrengung eines solchen Verfahrens durch Palästina trotz Ratifikation der Konvention und Status als Beobachterstaat erheblichen Hürden ausgesetzt wäre,2) was sich auch an Palästinas stagnierendem Verfahren über die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem zeigt. Ob die Staatseigenschaft Palästinas bereits für die Zulässigkeit eines Verfahrens erforderlich wäre, ist jedenfalls umstritten (hier, hier und hier). Mit dem angestrengten Verfahren wählt Südafrika somit zulässigerweise einen Rechtsweg, der Palästina selbst nicht uneingeschränkt zugänglich ist, und lenkt die Eskalation eines höchst emotionalisierten und polarisierenden Konflikts, der bisher weder auf diplomatischem noch multilateralem Wege eingehegt werden konnte, in rechtliche Bahnen.
Daneben sticht in Deutschlands Erklärung v.a. die Behauptung hervor, der Vorwurf Südafrikas entbehre „jeder Grundlage“ (ähnlich die USA). Nicht nur die Anordnungen des IGH, sondern bereits die detaillierte quantitative wie qualitative Beweisaufbereitung Südafrikas zeigen, dass der Vorwurf des Genozids nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. In seiner Entscheidung zitiert der IGH ausdrücklich UN-Expert*innen, die in den vergangenen Monaten wiederholt vor der Gefahr eines Genozids und anderer Völkerrechtsverbrechen in Gaza gewarnt haben (hier, hier, hier und hier) und den Verfahrensbeginn vor dem IGH ausdrücklich begrüßten. Die apokalyptische Situation dort zeigt sich auch in der erstmaligen Aktivierung des Art. 99 UN-Charta seit dem Amtsantritt von Guterres, in welchem er den UN-Sicherheitsrat aufruft, eine humanitäre Katastrophe in Gaza zu verhindern und erneut auf die Dringlichkeit eines bisher erfolglos geforderten Waffenstillstands hinweist.
Eine derart pauschale Zurückweisung durch die Bundesregierung wirkt im Lichte der Entscheidung und angesichts der Aussagen von UN-Expert*innen und anerkannten Menschenrechtsorganisationen (hier, hier und hier) als vom multilateralen Diskurs entkoppelt, gefangenen in der politisch-moralischen Parteinahme eines sich in der Staatsräson manifestierenden Verantwortungsgefühls. Darüber hinaus sprechen weitere gewichtige Gründe gegen die von Deutschland angekündigte Intervention.
Ein wesentlicher Punkt ist hierbei die Pluralität und Komplexität deutscher Verantwortung im Hinblick auf den Nahostkonflikt. So lässt sich nicht leugnen, dass die grausame Vernichtungsmaschinerie des deutschen Nationalsozialismus ganz wesentlich auch zur „Nakba“ und damit der traumatischen Gewalt- und Vertreibungserfahrungen eines weiteren Volkes beigetragen hat. Diese wiederum führte zur Entstehung eines Konflikts, der geprägt von Gewalt, Unterdrückung, Entrechtung und Terrorismus den Palästinenser*innen ein selbstbestimmtes Leben verwehrt und weder dem jüdischen noch dem palästinensischen Volk ein Leben in Frieden und Sicherheit zu verschaffen vermag.
Eine besonders sensible Haltung im vorliegenden Verfahren wäre auch angesichts deutscher Verantwortung für noch weiter zurückliegende Gräueltaten angemessen, die aus der immer noch ungenügend aufgearbeiteten deutschen Kolonialzeit erwächst. Historisch wie thematisch bedeutsam fiel der Beginn der aktuellen Verhandlungen vor dem IGH auf den Jahrestag des Herero-Aufstands gegen die damalige deutsche Kolonialmacht, die vor 120 Jahren den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts an den Herero und Nama beging. Im Oktober 1904 und April 1905 befahl Generalleutnant Trotha die vollständige Vernichtung der Herero und Nama, in dessen Zuge deutsche Truppen im kolonial besetzten Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, etwa 100.000 Menschen (80% der Herero- und 50% der Nama-Bevölkerung) ermordeten, in der Wüste verdursten oder in Konzentrationslagern sterben ließen. Erst nach jahrzehntelangem Schweigen erkannte die Bundesrepublik diesen Genozid, der auch als Vorbereiter für den Holocaust gilt, im Mai 2021 schließlich an. Es ist daher wenig verwunderlich, dass gerade Namibia Deutschlands Haltung im Verfahren um einen potentiellen Völkermord am palästinensischen Volk in einer eindringlichen Stellungnahme kritisiert. Darin erinnert Namibia Deutschland an seine historische, unbeglichene Schuld und ruft auf, „seine verfrühte Entscheidung, als Drittpartei zur Verteidigung und Unterstützung […] Israels vor dem [IGH] zu intervenieren, zu überdenken.“ Während Deutschland die menschenverachtenden, mitunter sexualisierten Massaker der Hamas, die zu Recht Gegenstand völkerstrafrechtlicher Ermittlungen sind, mehrfach aufs Schärfste verurteilte, hat es die Bundesregierung versäumt, aktiv und entschieden der kollektiven Bestrafung des palästinensischen Volkes entgegenzutreten. Wo es Deutschland jedoch schwerfällt, die Kriegsverbrechen beider Seiten (auch hier) gleichermaßen zu verurteilen, setzt es sich dem berechtigten Vorwurf der Doppelmoral und westlich-hegemonialer Überheblichkeit aus.
Dies gilt umso mehr, als neben den benannten UN-Institutionen auch Stimmen aus dem Globalen Süden und von Genozidforschern ungehört bleiben (auch hier und hier). Damit riskiert die Bundesrepublik die Fortsetzung eines längst begonnenen Vertrauensverlustes, der zur Erosion des Völkerrechts und seiner Institutionen beiträgt. Wenn westliche Staaten eine „regelbasierte internationale Ordnung“ betonen und gleichzeitig der Eindruck entsteht, die Elemente dieser Ordnung würden nur je nach Interessenlage gelten, wird dem Vorwurf von Doppelstandards im Völkerrecht jedenfalls nicht entgegengewirkt. So steht ein vehementes Bestreiten der Nachvollziehbarkeit des Genozidvorwurfs in direktem Widerspruch zu Deutschlands Position in einem anderen IGH-Verfahren, wonach die strengen Anforderungen an die genozidale Absicht „die Messlatte unangemessen hoch“ legen würden (dort Rn. 51). Inwiefern Deutschland nun zur Entlastung Israels genau entgegengesetzt argumentieren will, ohne die letzten Reste an Glaubwürdigkeit zu verspielen, bleibt abzuwarten (auch hier).
Fazit
Es ist nicht zu verkennen, dass eine differenzierte deutsche Haltung im Nahostkonflikt im Bewusstsein der von Deutschland verübten Völkermorde wie auch der Kontinuitäten kolonialer Machtstrukturen die deutsche Außenpolitik vor ungewohnte Herausforderungen stellt. Die bisher wenig bemühten Leitlinien feministischer Außenpolitik wie auch die Strategie feministischer EZ könnten Räume für Zwischentöne und parteiübergreifende zivilgesellschaftliche Initiativen zur nachhaltigen Konfliktbearbeitung öffnen, die Antisemitismus, Rassismus und patriarchalen Machtstrukturen gleichermaßen keinen Platz geben.
Die Anerkennung der vielschichtigen Realität deutscher Verantwortung schmälert oder relativiert dabei keinesfalls die Schuld, die Deutschland durch die schrecklichen Verbrechen der Shoa auf sich geladen hat und mindert auch nicht die Solidarität, die es jüdischen Menschenentgegenbringen sollte. Ohnehin dürfte auch unabhängig von dem spezifischen Konflikt die Solidarität mit Menschen, wie dem jüdischem Leben in all seiner Vielfalt (auch hier), als menschenrechtsgeleiteter Ansatz zielführender sein als die (bedingungslose) Solidarität mit einem Staat. Schließlich ermöglicht die Kontextualisierung deutscher Verantwortung die Realisierung eines holistischen Ansatzes, der mittels präventiver und mediativer Wege innerhalb multilateraler Institutionen die Wahrung der universellen Rechte aller Menschen zu schützen sucht und Entmenschlichung jeglicher Form konsequent entgegentritt. Denn der Wert von Solidarität, Verantwortung und Empathie verringert sich nicht, wenn sie verschiedenen Völkern und Menschen gleichzeitig entgegengebracht werden.
Die beiden Autor*innen danken Y.K. herzlich für die Zusammenarbeit und Unterstützung bei diesem Beitrag.
References
↑1 | Mangels schriftlicher Klageerwiderung beziehen sich die folgenden Darstellungen ausschließlich auf den Vortrag Israels in der Anhörung am 12. Januar 2024. |
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↑2 | Palästina ist zurzeit kein UN-Mitgliedstaat und damit auch keine Partei des IGH-Statuts (Art. 35 Abs. 1 IGH-Statut und Art. 93 Abs. 1 UN-Charta). Nach Art. 35 Abs. 2 steht das IGH-Statut auch für Nichtmitglieder offen, sofern der Staat nach Resolution 9 des UN-Sicherheitsrats eine entsprechende Erklärung über die Anerkennung der Zuständigkeit des IGH hinterlegt hat. Eine solche Erklärung hat Palästina bisher nur im Hinblick auf Art. 1 des WÜD-Fakultativprotokolls zur obligatorischen Streitbeilegung abgegeben. |
Outstanding contribution to the debate in Germany, precise and convincing! I really hope this is widely read.
Ein wichtiger Beitrag zur Debatte in Deutschland, präzise und überzeugend! Ich hoffe, dass der Post weite Verbreitung findet.
Die Bundesregierung handelt völlig richtig. Der Vorwurf des Völkermordes gegen den Staat Israel ist eine völlig neben der Sache liegende Verleumdung, um den Staat Israel zu delegitimieren. Es ist die Hamas, die genozidal aufgestellt ist. Ich bin als Deutscher und als deutscher Jurist stolz darauf, dass Deutschland hier ein klarer Zeichen gegen diesen Wahn aufstellt.
Ihr Beitrag, der weder auf eines der vielen Sachargumente des präzise recherchierten Artikels eingeht noch eigenständige Tatsachen oder Überlegungen verbringt ist gänzlich ungeeignet, anderen Debattenteilnehmern “Wahn” vorzuwerfen.
Wenn sie diesen Vorwurf sogar auf die überwiegende Mehrheit der IGH-Richterschaft erstrecken, wäre es vielleicht – gerade als Jurist – der richtige Zeitpunkt nochmal einen Schritt zurückzugeben und die eigene Objektivität kritisch zu beleuchten.
Beste Grüße
selbst wenn man den expliziten Völkermord (derzeit) verneint, ist doch wie oben ausgeführt die “uneingeschränkte” Solidarität mit Israel falsch. und gefährlich. wir reden hier immerhin von einem Israel, dass derzeit von einer rechtsextremen Koalition regiert wird (die große Teile ihrer eigenen Bevölkerung ablehnen) und die ja tatsächlich die zitierten rassistischen und genozidalen Äußerungen getätigt hat.
Die Argumentationslinie der beiden Autoren erscheint mir recht abenteuerlich. Allein die Länge des Textes und die Erweiterung des Kontexts verdeutlichen, dass alles gesammelt wurde, was zur eigenen These passt. Und entsprechend sorgfältig wird ausgeblendet, was nicht zur eigenen Sicht auf das Geschehen im Nahen Osten passt. Ich gewinne beim Lesen den Eindruck, dass man sich hier ein gewaltiges “Luftschloss” baut. Nahezu direkt ließe sich aus der vorgetragenen Logik dieses Luftschlosses ableiten:
Wir (als Deutsche, als Europäer etc.) müssten das faschistische Deutschland genauso kritisieren und verurteilen wie die Alliierten, die den Faschismus. Denn deutsche Städte und auch Hiroshima und Nagasaki wurden ohne Rücksicht auf zivile Opfer dem Erdboden gleichgemacht.
Es mag durchaus sein, dass die heutige junge Generation tatsächlich so denkt … ganz im Sinne des “Guten”. Allerdings könnten aus solchen Überzeugungen sehr gefährliche Konstellationen in der Welt entstehen. Seinerzeit wäre ein Waffenstillstand mit Hitler die Konsequenz gewesen. Und heute …
In der “Zeit” schreibt Harald Martenstein heute zum Thema, wie wir ein neues 1933 verhindern, ebenfalls einen m.E. treffenden Vergleich: “Seit 1945 war den SS-Mördern in Wort und Tat niemand mehr so nahe gekommen wie die Hamas.”
Ein “Waffenstillstand 1945” … und ein Genozid-Urteil gegen die Alliierten hätte vermutlich den Weiterbetrieb der Konzentrationslager inkl. der Judenvernichtung bedeutet. Heute würde es der Hamas helfen, ihre ins zivile Leben der Palästinenser integrierte Terrorinfrastruktur weiternutzen zu können, deren einziges Ziel das Beschießen israelischer Städte mit Raketen ist.
Ich wünsche beiden Autoren, dass sie möglichst bald aus ihrer eigens konstruierten Traumwelt erwachen.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich finde es gut, diplomatische und juristische Mittel einzusetzen, um möglichst rasch Frieden herzustellen und langfristig zu sichern. Dazu bedarf es vieler Perspektiven, vieler Argumente und eine gemeinsame Suche nach konstruktiven Lösungen. Nicht hilfreich sind ideologisch motivierte Kämpfe um mal hier und da auf der Seite der vermeintlich ausgemachten Opfer zu stehen. Dann nämlich würde man das endlose Dilemma im Nahen Osten nur fortsetzen.
Zum Glück gibt es hier in diesem “Verfassungsblog” andere, sehr kluge und fundierte Kommentare und Einschätzungen.
Eine Beteiligung am IGH-Verfahren über das Konstrukt der Nebenintervention erscheint mir – als Laie – inzwischen plausibel. Fragt sich nur, wer sich von deutscher Seite hier nach vorn wagt. Aufzuarbeiten und zu klären gebe es viel, der Artikel illustriert es mit vielen zurechtgebogenen Argumentekonstruktionen und Deutungsmustern.
Sehr geehrter Herr Schneider,
es ist nicht ganz ohne Ironie, dass Sie “die Erweiterung des Kontexts” monieren, um nur einen Absatz später eine weitere Bezugnahme, den 2. Weltkrieg, zum Zentrum ihrer Argumentation zu machen.
Inhaltlich kann ich Ihnen insofern nicht folgen, da offen bleibt inwiefern Sie überhaupt Bezug auf die durch den Beitrag aufgeworfenen Fragen nehmen. Der Beitrag führt zunächst Klage, Verteidigung und Entscheidung durch den IGH aus und wirft Fragen auf, die die Nebenintervention der Bundesrepublik Deutschland betreffen. Eine Erweiterung des Kontext bzgl. (i) den Position von anderen Nebeninterventionen bzgl. der gegenständlichen Konvention und (ii) der deutschen Verantwortung aufgrund eigener genozidaler Geschichte sind nicht fernliegend, sondern drängen sich auf.
Sie beschränken sich abseits dieser Thematik auf eine (mit Verlaub: leider etwas polemisch anmutende) “Was wäre wenn” -Fragestellung mit Blick auf das Jahr 1945.
Ehrlicherweise halte ich die beiden Atombombenabwürfe über dem Kaiserreich Japan sowie die Bombadierungen deutscher Großstädte für ungeeignet, um den völkerrechtlichen Konsens eines Völkermordverbotes in Frage zu stellen.
Dieses Verbot ist notwendigerweise deontologisch aufgebaut, es kennt keine Abwägung, keine Folgenabschätzung.
Weder die Entscheidung des IGH noch die Autoren fordern den “Waffenstillstand”, den Sie für eine Folgenabschätzung in den Blick nehmen. Die Entscheidung fordert lediglich den Nachweis ein, dass keine genozidalen Handlungen im Zusammenhang mit der Militärintervention im Gazastreifen geschehen. Ihre Argumentation würde daher nur Sinn ergeben, wenn Sie genozidale Handlungen zur Zerstörung der Hamas für >notwendig< erachten würden, was (hoffentlich) fernliegend ist.
Beste Grüße
PS: Obgleich man als Autor oft anderer Ansicht ist, stärkt die fortwährende Diskredition der anderer Meinungen als "Traumwelt", "Luftschloss" oder "abenteuerlich" nicht zwingend die Überzeugungskraft der eigenen Argumentation – im Gegenteil.