Konturen eines allgemeinen Nachrichtendienstverfassungsrechts
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat mit seinem Urteil vom 26. April 2022 (1 BvR 1619/17) erhebliche Teile des umfänglich angegriffenen Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (BayVSG) für verfassungswidrig erachtet. In dem atemberaubend langen Urteil geht es um ein sehr heterogenes Bündel an Eingriffsmaßnahmen, deren Behandlung durch das Gericht in einem Blog-Kurzkommentar unmöglich näher besprochen werden kann. Ungeachtet dessen hat das BVerfG einige übergreifende Grundsätze zu verfassungsrechtlichen Anforderungen in Bezug auf die nachrichtendienstliche Tätigkeit von Verfassungsschutzbehörden formuliert. Insoweit hat das Urteil die Funktion einer orientierungsgebenden Grundsatzentscheidung, vergleichbar der Entscheidung zum Bundesnachrichtendienst und dessen Auslandsaufklärung. Da es im Wesentlichen um Normbestimmtheit und Angemessenheit der Eingriffsstruktur geht, lassen sich der Entscheidung auch verschiedentlich Anforderungen an die Ausgestaltung künftiger oder jedenfalls an die verfassungskonforme Handhabung bestehender Ermächtigungen der Verfassungsschutzbehörden des Bundes (sprich: Bundesamt für Verfassungsschutz) und der anderen Länder entnehmen.
Besonderheiten nachrichtendienstlicher Aufklärung
Das Gericht arbeitet zunächst Besonderheiten der nachrichtendienstlichen Aufklärung gegenüber der polizeilichen Gefahrenabwehr heraus, die dann auch grundsätzlich abweichende Strukturen der Eingriffsermächtigung rechtfertigen (Rn. 153 ff.). Das BVerfG differenziert hierbei nach der jeweiligen Eingriffsintensität, die zwar einerseits durch die Spezifika des nachrichtendienstlichen Zugriffs präformiert sein kann, andererseits aber vom Senat auch nicht pauschal geringeren Eingriffsanforderungen unterworfen wird.
„Das Erfordernis einer polizeilichen Gefahr würde als generelle Eingriffsschwelle dem Aufgabenprofil einer Verfassungsschutzbehörde nicht gerecht“, so zunächst der überzeugende Ausgangspunkt des Senats (Rn. 163). Der typische Grad notwendiger Konkretisierung der polizeilichen Gefahr wäre inadäquat, um verfassungsfeindliche Bestrebungen im Vorfeld beobachten zu können und Informationen rechtzeitig zu gewinnen, bevor die Schwelle zur unmittelbaren Gefahr überschritten wird. Historisch erfahrungsgesättigt wäre es dann im Staatsschutzbereich oft zu spät. Korrespondierend haben Nachrichtendienstbehörden nach geltendem Recht keine Anschlussbefugnisse, aufgrund ihrer so gewonnenen Erkenntnisse durch Zwangsmaßnahmen selbst eine Gefahr abzuwehren (Rn. 154, 159). Dass sich dadurch die Eingriffsschwere signifikant reduzieren kann, anerkennt das Gericht. Grundsätzlich muss die Überwachungsbefugnis einer Verfassungsschutzbehörde daher nicht an eine konkrete oder konkretisierte Gefahr im polizeilichen Sinne geknüpft werden (Rn. 181).
Dies zieht dann aber umgekehrt qualifizierte Anforderungen nach sich, unter denen Daten von Verfassungsschutzbehörden an Stellen mit Zwangsbefugnissen (namentlich Polizei und Strafverfolgungsbehörden) übermittelt werden dürfen (Rn. 171 ff., 225 ff.). Insoweit fügt sich die Entscheidung in die bisherige Rechtsprechungslinie ein, wonach das Gesamtgefüge von primären Eingriffs- und Übermittlungsschwellen in den Blick genommen werden muss, um die Verhältnismäßigkeit eines Maßnahmenbündels zu beurteilen.
Hinreichender verfassungsschutzspezifischer Aufklärungsbedarf
Für allgemeine Maßnahmen des Verfassungsschutzes im Bereich der Vorfeldaufklärung, die keine spezifische Eingriffsintensität aufweisen, muss – so die neue sicherheitsverfassungsrechtliche Formel des Senats – „ein hinreichender verfassungsschutzspezifischer Aufklärungsbedarf bestehen“ (Rn. 181). Die verfassungsschutzspezifische Eingriffsschwelle setzt nach dem Gericht hinreichende Anhaltspunkte dafür voraus, dass eine beobachtungsbedürftige Bestrebung besteht und die ergriffene Maßnahme im Einzelfall zur Aufklärung geboten ist (Rn. 182 ff.). Das entspricht den gesetzlichen Anforderungen des geltenden Nachrichtendienstrechts (z. B. § 4 Abs. 1 Sätze 1 & 4 sowie § 8 Abs. 4 BVerfSchG).
Verfassungsfeindliche Bestrebungen können hierbei auch dann beobachtet werden, wenn sie noch auf dem Boden der Legalität operieren. „Überwachungsmaßnahmen des Verfassungsschutzes sind auch nicht von vornherein auf militante und volksverhetzende Bestrebungen beschränkt […] und können zu rechtfertigen sein, bevor nach außen eine kämpferisch-aggressive Haltung gegenüber den elementaren Grundsätzen der Verfassung eingenommen wird“. Diese wichtige und richtige Klarstellung dürfte auch laufende Beobachtungen und die damit verbundenen (teils gerichtlich anhängigen) Auseinandersetzungen im Blick gehabt haben. Weder das Vorliegen einer Bestrebung noch deren Verfassungsfeindlichkeit muss bereits erwiesen sein. Das auch der Verhältnismäßigkeit entsprechende Erfordernis tatsächlicher Anhaltspunkte verbietet aber, einen diffusen Verdacht ins Blaue hinein zu generieren und zum Anlass für eine Beobachtung zu nehmen (Rn. 188). Dies wird alles vom Gericht gleichermaßen überzeugend wie überraschungsfrei ausgebreitet.
Qualifizierte Eingriffe von Verfassungsschutzbehörden
Es gibt allerdings auch eingriffsintensive Maßnahmen, an die dieselben Anforderungen wie an polizeiliche Maßnahmen zu stellen sind, „wenn die Grundrechtsbeeinträchtigung durch den Eingriff der Verfassungsschutzbehörde bereits für sich gesehen ‒ also nicht erst wegen möglicher Folgeeingriffe ‒ eine Intensität erlangt, die es unerheblich erscheinen lässt, welche Folgeeingriffe noch durch weitere Verwendungen möglich sind“ (Rn. 166). Insoweit geht es also um Eingriffe, die nach ihrer Struktur bzw. ihrer Eindringtiefe in die Persönlichkeitssphäre der Überwachten aus sich heraus erhebliches Gewicht haben. Teil wird dies schon verfassungsunmittelbar durch einen besonderen Grundrechtsschutz abgebildet (vgl. Art. 10, 13 GG) und kann im Übrigen dem persönlichkeitsbezogenen Eingriffsprofil entnommen werden. Dies schließe es aber wiederum nicht aus, „wegen des grundsätzlich geringeren Eingriffsgewichts“ Eingriffsschwellen des Nachrichtendienstrechts im Vergleich zu denen für polizeiliche Überwachungsbefugnisse zu modifizieren. Eine solche „Modifikation der Eingriffsschwellen kann dem Charakter der Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden und damit deren besonderer Aufgabenstellung Rechnung tragen, verfassungsfeindliche Bestrebungen im Vorfeld konkreter Gefahren aufzuklären“ (Rn. 162). Hier zeigt sich der Senat erfreulicherweise problemsensibel und verdeutlicht, dass es nicht darum geht, die für den Bereich der Gefahrenabwehr entwickelte Verfassungsdogmatik schematisch auch dem Nachrichtendienstrecht überzustülpen, was zeitweilig unklar war.
Qualifizierte Eingriffsintensität erfordert freilich – so auch das hier fortgeschriebene Credo der jüngsten Rechtsprechung zum Sicherheitsverfassungsrecht – zugleich erhöhte Anforderungen an die Normbestimmtheit der Eingriffsermächtigungen, einen spezifischen Schutz des Kernbereichs der persönlichen Lebensgestaltung sowie besondere Kontrollstrukturen. An diesen letztgenannten Punkten sind die durch das Urteil für verfassungswidrig befundenen Regelungen des BayVSG dann letztlich auch gescheitert.
Neue unabhängige Kontrollstrukturen?
Näher entfaltet wird das bereits in der früheren Rechtsprechung etablierte Erfordernis der Vorab-Kontrolle schwerer Grundrechtseingriffe durch eine unabhängige Stelle (Rn. 214 ff.), was die Gesetzlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Grundrechtseingriffe durch einen von der heimlich handelnden Behörde und ihrer Handlungsrationalität unabhängigen Blick präventiv sowie prozedural gewährleisten soll. Diese Anforderung könnte noch höheren Umsetzungsaufwand bereiten. Hierbei muss es nicht um Richtervorbehalte gehen (Rn. 224); näher liegt eine nachrichtendienstspezifische unabhängige behördliche Kontrollinstitution nach dem Vorbild des Unabhängigen Kontrollrats (UKR) des Bundes (§ 41 BNDG). Für den Verfassungsschutz des Bundes, wo sich einmal vergleichbare Fragen stellen könnten, würde es dann naheliegen, alle Vorabkontrollen heimlicher Überwachungsmaßnahmen (jenseits des Art. 13 Abs. 4 Satz 1 GG) schlicht dem UKR zuzuweisen. Auf Landesebene sind – mit Blick auf Art. 83, 84 Abs. 1 GG – indes eigene Kontrollstrukturen notwendig. Der Vollzug von Landesrecht durch Bundesbehörden (vollzugsintegrierte Kontrolle eingeschlossen) ist bekanntlich unzulässig (BVerfGE 12, 205 (221); 21, 312 (325)), der UKR könnte also von vornherein nicht in die Kontrolle der Landesverfassungsschutzbehörden eingebunden werden. Vielmehr sind hierfür neue organisationsrechtliche Konzepte sowie geeignete personale und sachliche Infrastrukturen auf Landeseben erforderlich. Das wird dem hier unmittelbar betroffenen Freistaat Bayern kaum größere Probleme bereiten, dürfte aber kleine Länder mit ohnehin leistungsschwachen Verfassungsschutzbehörden vor erhebliche Herausforderungen stellen, wenn sie vergleichbare Eingriffsermächtigungen schaffen wollen.
Die Rechtsprechungslinie
Der Erste Senat des BVerfG hat nach alledem mit der Entscheidung zum BayVSG letztlich nur eine lange Rechtsprechungslinie zu heimlichen Überwachungsmaßnahmen fortgeschrieben, deren zaghafte Anfänge wohl in den um die Jahrtausendwende ergangenen Entscheidungen zur Überwachung der internationalen Satellitenkommunikation und zum „Großen Lauschangriff“ zu finden sind. Sich zunehmend verdichtende verfassungsdogmatische Strukturen gewann die Rechtsprechung dann (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) in den Entscheidungen zur Online-Durchsuchung, zur „Vorratsdatenspeicherung“, zur TÜ-Neuregelung, zu dynamischen IP-Adressen (Bestandsdatenauskunft I), zum ATDG I, zum BKAG, zur anlasslosen Kennzeichenerfassung I & II, zur Auslands-Fernmeldeüberwachung des BND, zur Bestandsdatenauskunft II und zuletzt zum ATDG II.
Einen gewissen begründungstechnischen Wendepunkt markierte im Jahr 2016 die Entscheidung zum BKAG, die sich bemühte, die fragmentierte und unübersichtliche Rechtsprechung zum „Sicherheitsverfassungsrecht“ zu bündeln, zu konsolidieren und auf der Grundlage einer einheitlichen Matrix zusammenzuführen. Der damit einhergehende Kohärenzgewinn war erkauft mit einer beinahe lehrbuchartigen Sonder-Grundrechtsdogmatik, die mit zunehmender Granularität immer mehr Details der selbstbewusst vom Verfassungstext emanzipierten Verhältnismäßigkeitskontrolle herausgeschält hat. Nicht immer war dies überzeugend, manches ließ eine stringente verfassungsdogmatische Begründung vermissen.
Angemessenheitskontrolle und Stil des verfassungsdogmatischen Overkills
Zentraler Lokus der verfassungsrechtlichen Prüfung war durchweg die Angemessenheit, die als relationale Abwägungsentscheidung dem BVerfG als Institution der Verfassungskontrolle die größte Elastizität vermittelt, Maßstäbe gestalterisch zu elaborieren. Das Verfassungsschutzurteil setzt diese Linie fort. Die Länge des Urteils ist gewiss zunächst einmal der ungewöhnlichen Häufung der Angriffsgegenstände geschuldet, gegen die zulässig Verfassungsbeschwerde erhoben worden war. Freilich entfielen von den etwa 250 Randnummern, die das Gericht der Begründetheit widmet (Rn. 147-401), immer noch fast 150 auf einen internen „Allgemeinen Teil“, der vor die Klammer gezogen wird (Rn. 148-290).
Dieser Begründungsstil verschafft den Entscheidungen einerseits eine beeindruckende Kohärenz, produziert aber andererseits einen Overkill zunehmend sedimentierter Verfassungsdogmatik, die selbstreferentiell fortgeschrieben wird und hierdurch unter den anwachsenden Begründungsschichten eine immer weitere Verdichtung erfährt. Je mehr Erwägungen verallgemeinert und vor die Klammer gezogen werden, desto mehr werden die legislativen Gestaltungsspielräume über den konkret streitgegenständlichen Regelungskomplex hinaus in die Zukunft verengt. Das Gericht ist sich dessen gewiss bewusst und formuliert die Anforderungen durchaus legislativ gestaltungsoffen, produziert aber durch die Verallgemeinerung gleichwohl unvermeidbar weitreichende Aussagen, die über die punktuellen Probleme des angegriffenen Gesetzes weit hinausweisen.
Eine stärkere Fokussierung auf die konkreten gesetzlichen Regelungen mag weniger Charme dogmatischer Systemkohärenz haben, würde aber eine Kontextualisierung der Verfassungsrechtsprechung und damit deren Verzeitlichung erleichtern. So ist jedoch die Sicherheitsverfassung zu einem nur noch für wenige Expertinnen und Experten überhaupt zu durchblickenden Dickicht an verästelten Vorgaben geworden, das politischem Gestaltungswillen die Luft zum Atmen raubt, weil die Kärrnerarbeit gegenwärtiger Sicherheitspolitik längst in die Verfassungsdeutung abgewandert ist. Aus praktischer Erfahrung als gelegentlicher (und desillusionierter) Sachverständiger in Parlamentsanhörungen habe ich freilich den Eindruck mitgenommen, dass in der Hektik des parlamentarischen Geschäfts ohnehin oftmals detaillierte Segelanweisungen des BVerfG sogar erwünscht sind, weil diese Konflikte faktisch erledigen, die man scheut. Die Frage, was eine politisch vernünftige Regelung wäre, verschwindet dann nicht selten hinter akribischer Exegese bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungsbegründungen. Die Konstitutionalisierung des Sicherheitsrechts ist insoweit auch ein Gemeinschaftswerk aller beteiligten Akteure.
Vorläufige Bewertung
Im vorliegenden Rahmen kann angesichts der Detailfülle und der Verästelung der Ausführungen des Senats keine abschließende Bewertung des Urteils vorgenommen werden. Über die Überzeugungskraft einzelner Ausschärfungen der Angemessenheit lässt sich – wie auch sonst – gewiss streiten. Legt man die Prämissen zugrunde, die bereits die frühere Rechtsprechung vorgezeichnet hat, konnte das allermeiste, was das Gericht in seinem vorliegenden Urteil ausführt, kaum überraschen. Die praktischen Folgen sind nicht leicht einzuschätzen, es spricht aber vieles dafür, dass sie sich in Grenzen halten. Die vom BVerfG ausformulierten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit dürften, wenn mich nicht alles täuscht, im Wesentlichen ohnehin den Praktiken entsprechen, nach denen die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern ihre Beobachtung ausrichten und die Verhältnismäßigkeit sicherstellen. Insoweit geht es dann vornehmlich nur darum, dies auch durch hinreichend präzise Eingriffsermächtigungen nachzuzeichnen. Im Übrigen tragen die differenzierten Anforderungen, die das Gericht an die Verhältnismäßigkeit anlegt, der spezifisch nachrichtendienstlichen Aufklärungsrationalität grundsätzlich hinreichend Rechnung.
Der Umfang, mit dem das BayVSG für verfassungswidrig befunden wurde, mag auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, der Freistaat Bayern hätte seine Sicherheitsgesetzgebung „an die Wand gefahren“. Das verbreitete Medienecho hat dies jedenfalls suggeriert. Mit journalistisch geschultem Blick würdigte es bisweilen schon das Urteil in seiner Bedeutung ganz grundsätzlich, als ich mit meinem Bemühen um sorgfältige Lektüre gerade einmal bei der Zulässigkeit angekommen war. Sieht man indes genauer hin, trifft dies so nicht zu. Insgesamt geht es überwiegend um Korrekturen im Detail und um eine gesetzliche Nachkonturierung, die die nachrichtendienstlichen Eingriffsvoraussetzungen entlang der Regelungsziele präziser vertatbestandlicht. Das Gericht konnte daher bei den meisten Regelungen die Feststellung der Verfassungswidrigkeit auch mit einer Fortgeltungsanordnung verbinden, die dem Landesgesetzgeber die Gelegenheit gibt, die Beanstandungen zu beheben, was bei den meisten beanstandeten Normen nicht schwerfallen dürfte.