„Legalistischer Islamismus“
Warum der Begriff rechtsstaatlich gefährlich ist
Das Bundesinnenministerium (BMI) will künftig nicht mehr allein den „gewaltbereiten Islamismus“, sondern auch den sogenannten „legalistischen Islamismus“ bekämpfen, der nach Auffassung des Ministeriums „ebenfalls die Demokratie und den gesellschaftlichen Frieden“ bedrohe. Laut Mitteilung vom 21. November 2025 soll ein Beraterkreis „Islamismusprävention und Islamismusbekämpfung“ dauerhaft eingerichtet werden, um den im Koalitionsvertrag vereinbarten Bund-Länder-Aktionsplans umzusetzen. „Neben repressiven Maßnahmen wie Vereinsverboten und Exekutivmaßnahmen“ hält das Ministerium einen „ganzheitliche[n] politische[n] und gesellschaftliche[n] Ansatz“ für erforderlich. Mit dieser begrifflichen Ausweitung betritt das BMI ein rechtsstaatlich problematisches Terrain, in dem sicherheitspolitische Bewertungen Vorrang vor verfassungsrechtlich garantierten Grundrechten und der Rechtsweggarantie erhalten.
Wenn Sicherheitsbegriffe wie Recht klingen
Anders als der Begriff des „legalistischen Islamismus“ vermuten lässt („legalistisch“), entstammt er nicht der Rechtsdogmatik, sondern dem sicherheitsbehördlichen Sprachgebrauch – und scheint nun in den exekutiven Sprachgebrauch überzugehen. Seit den 2010er-Jahren findet er sich in Bundes- und Landesverfassungsschutzberichten1) und beschreibt dort Akteure, die „alle rechtlich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten […] nutzen“ (siehe LfV Berlin, 2018, S. 62), um islamistische Vorstellungen durchzusetzen. Diese Deutung erinnert an den politisch-strategischen Begriff „Lawfare“, der die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes als missbräuchlich und gefährlich markiert. So heißt es beispielsweise im Bundesverfassungsschutzbericht 2013 (S. 21-22):
„Der ganz überwiegende Teil der Islamisten in Deutschland zählt zu den sogenannten Legalisten. Damit sind islamistische Organisationen in Deutschland gemeint, die bestrebt sind, auf islamistischer Ideologie basierende Vorstellungen des gesellschaftlichen und individuellen Lebens auf legalem Weg durchzusetzen. Um ihre Vorstellungen umzusetzen, betreiben Funktionäre und Unterstützer dieser Organisationen Lobbyarbeit. Sie nutzen dabei intensiv die Möglichkeiten des deutschen Rechtsstaates (‚Gang durch die Instanzen‘). Nach innen sollen für die Mitglieder umfassende und dauerhafte Freiräume für ein schariakonformes Leben geschaffen werden. Dadurch können sich jedoch islamistisch geprägte Parallelgesellschaften entwickeln, welche die Integration behindern.“
Vergleichbare Formulierungen finden sich auch in Landesverfassungsschutzberichten (siehe etwa Landesverfassungsschutzbericht Berlin 2018, S. 62).
Gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich im Verfassungsstaat regelmäßig in rechtlichen Formen und ist auf die Inanspruchnahme der bestehenden Rechtsordnung, insbesondere der Grundrechte und des Rechtswegs, angewiesen. Das gilt vor allem für die Umsetzung von Gleichheitsrechten oder das verfassungsrechtlich geschützte religiöse Selbstverständnis,. Anders als bei dem Konzept „autocratic legalism“, bei dem staatliche Akteure das Recht gezielt als Mittel zur Machtsicherung und -ausweitung instrumentalisieren, sind religiöse Minderheiten auf den Rechtsstaat angewiesen, um ihre Rechte zu schützen. Das Recht fungiert für sie nicht als Macht-, sondern als Schutzinstrumentarium. Das hier inkriminierte Verhalten begründet dabei auch keine Gefahr im Sinne des Gefahrenabwehrrechts. Vielmehr scheint hier schlicht die religiöse Ausrichtung einer Minderheit ein Dorn im Auge zu sein. Daran zeigt sich weniger eine tatsächliche Gefahr als das staatliche Bedürfnis, die religiöse Ausrichtung seiner Minderheiten zu bestimmen – ein Bedürfnis, das einem vermeintlich säkularen, liberalen Staat rechtlich nicht zusteht. Denn ein religiös neutraler Staat bewertet das religiöse Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften nicht, sondern achtet deren religiöses Selbstbestimmungsrecht (zum besonderen Schutz des Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaften siehe jüngst wieder BVerfG, Rn. 179 ff.). Der Begriff des „legalistischen Islamismus“ setzt nun Religionsgemeinschaften dem Generalverdacht aus, die Rechtsordnung und das Gesellschaftssystem Deutschlands böswillig zu unterwandern. Das kommt verschwörerischen Theorien nahe, die man schon anderen religiös-rassischen Minoritäten in Deutschland vorgeworfen hat.
Die Nutzung von rechtlich eröffneten Handlungsmöglichkeiten lässt sich nur dann als rechtsmissbräuchlich qualifizieren, wenn man den Akteuren gewisse Motive spekulativ zuschreibt. Tatsächlich sind gerade religiöse Minderheiten aufgrund ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit und anhaltender Diskriminierung häufig darauf angewiesen, ihre Rechte auf dem Rechtsweg durchzusetzen. Exemplarisch zeigen dies die gemeinsamen, letztlich erfolglosen Klagen mehrerer Moscheegemeinden und jüdischer Gemeinden gegen das Verbot ritueller Schächtung in Belgien vor dem EuGH und dem EGMR.
Für die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ist es dabei unerheblich, ob eine Person als religiös oder politisch extremistisch eingeordnet wird; das Grundgesetz gewährt allen Zugang zu Gerichten. Justitia ist bekanntlich blind. „Legalistischer Islamismus“ politisiert damit eine zulässige Grundrechtsausübung – und widerspricht so dem Anspruch auf einen effektiven Zugang zum Recht, den das Bundesministerium der Justiz selbst betont.
Das geltende Recht ist nicht wehrlos
Diese Form exekutiver Verdächtigung ist auch deshalb besonders problematisch, weil die juristische Dogmatik bereits über gefestigte Kategorien verfügt, um rechtsfeindliches oder missbräuchliches Verhalten zu adressieren: Das Recht kennt etwa den Rechtsmissbrauch (im öffentlichen Recht gemäß Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeits- und Willkürverbot), das Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB, treuwidrige Rechtsausübung im Zivilprozess) oder gesetzliche Verbote (z.B. § 42 AO im Steuerrecht; § 134 BGB). Im öffentlichen Sicherheitsrecht markiert das Tatbestandsmerkmal der „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ (vgl. § 4 Abs. 1 BVerfSchG), ab wann die Verfassungsschutzbehörden tätig werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Schutzgut der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ bewusst restriktiv definiert: Es umfasse nur „wenige, zentrale Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unverzichtbar sind“ (hier, Rn. 247). Mit dem freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat unvereinbar sind danach nur Bestrebungen gegen den unverzichtbaren Kern der Menschenwürde, des Demokratieprinzips und des Rechtsstaatsprinzips.
Begriffe unterhalb dieser Schwelle, die weder tatbestandliche Voraussetzungen definieren noch rechtliche Prüfprogramme enthalten, sind daher nicht erforderlich und drohen die geltenden Maßstäbe zu verschieben. Schlimmer noch: Sie drohen zu politischen Kampfbegriffen zu werden, die sich einen Weg ins Recht („legalistisch“) bahnen wollen.
Auswirkungen auf Grundrechtsausübung religiöser Minderheiten und Zugang zum Recht
Besonders problematisch ist die begriffliche Politisierung legaler Rechtsausübung wegen ihrer Auswirkungen auf religiöse Minderheiten. Wenn rechtliches Engagement oder der Gang vor Gerichte für bestimmte religiöse Gruppen pauschal unter einen sicherheitsbehördlichen Verdacht gestellt werden, entsteht der Eindruck eines faktischen Sonderrechts. Dies betrifft insbesondere muslimische Gemeinschaften, die ohnehin verstärkt staatlicher und gesellschaftlicher Beobachtung ausgesetzt sind. In der Vergangenheit waren selbst muslimische Lehrerinnen oder Referendarinnen, die ihre Rechte aus Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 und Art. 33 Abs. 3 GG gerichtlich geltend machten, dem Vorwurf der Instrumentalisierung des Rechts oder des „Islamismus“ ausgesetzt.2) Dabei wird schon der Begriff „Islamismus“, selbst mehr als zwanzig Jahre nach 9/11, im rechtlichen und gerichtlichen Diskurs weiterhin uneinheitlich verwendet und führt zu erheblichen Unschärfen.3) Die Kategorie des „legalistischen Islamismus“ senkt die Hürden für Eingriffe in die Religionsfreiheit nun zusätzlich.
Überwachungs- statt Rechtsstaat
Wozu dient also der Begriff des „legalistischen Islamismus“? Der Begriff rückt religiöse Minderheiten in die Nähe von „verfassungsfeindlichen Bestrebungen“ und ermöglicht es dem Bundesinnenministerium, diese leichter zu überwachen. Der Begriff kann außerdem rechtssuchende Muslime aus dem öffentlichen Diskurs drängen, weil er auch für die Förderung aus Haushaltsmitteln (beispielsweise aus den Haushaltsmitteln der Linie „Demokratie leben!) oder bei der staatlichen und gesellschaftlichen Auswahl von muslimischen Gesprächspartner*innen relevant ist. Konzepte wie „legalistischer Islamismus“ können daher beim BMI weniger als rechtlich justiziable Kategorien wirken, sondern als sicherheitspolitische Deutungsmuster, die Verwaltungspraxis, Gefahreneinschätzungen und Grundrechtsabwägungen prägen können, mit erheblichen Auswirkungen auf religiöse Minderheiten, obwohl diese sich innerhalb der Rechtsordnung bewegen.
Für die Feststellung verfassungsfeindlicher Bestrebungen gelten zu Recht strenge verfassungsrechtliche Voraussetzungen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts reicht eine bloß „diffuse“ Ablehnung staatlicher Institutionen oder eine fundamentalistische Orientierung nicht aus; erforderlich ist, dass die Bestrebung gezielt zentrale Verfassungsprinzipien bekämpft. Der Begriff „legalistischer Islamismus“ droht diese Schwelle zu unterlaufen. In einem Rechtsstaat dürfen Exekutive oder Überwachungsbehörden den legalen Rechtsgebrauch nicht stigmatisieren. Das gilt erst recht, wenn der Gang zu Gericht den Erwartungen der politisch motivierten Exekutive nicht entspricht – denn Grundrechte und die Rechtsweggarantie nach Art. 19 IV GG schützen Minderheiten.
Das Bundesministerium sollte deshalb ausschließlich auf klar definierte und rechtsstaatlich überprüfbare Kriterien zurückgreifen – Verwaltungshandeln jeder Art muss auf juristisch überprüfbare Maßstäbe beruhen und nicht auf politisch-diskursiven Zuschreibungen, die legale politische Partizipation vorschnell als verdächtig klassifizieren.
References
| ↑1 | Schiffauer, Werner (2011), Die Bekämpfung des legalistischen Islamismus, in: Marianne Krüger-Potratz/Werner Schiffauer (Hg.), Migrationsreport 2010, Frankfurt am Main/New York: Campus, S. 161-200. |
|---|---|
| ↑2 | S. nur Bertrams, Lehrerin mit Kopftuch? Islamismus und Menschenbild des Grundgesetzes, DVBl 2003, 1225 ff., seinerseits auch Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land NRW und Präsident des OVG NRW; aus der Perspektive einer Betroffenen: Ludin, Enthüllung der Fereshta Ludin, 2015. |
| ↑3 | Samour, N., Religiöse Praxis in der sicherheitsbehördlichen und gerichtlichen Gefahrenprognose, in Hrsg: Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit (CLAIM), Zivilgesellschaftliches Lagebild und antimuslimischer Rassismus, 2023, S. 49-53. |



