Menschenrechtliche Grenzen für Pushbacks – und der weitergehende Schutz nach EU-Sekundärrecht
An dieser Stelle veröffentlichte Matthias Lehnert kürzlich einen Beitrag, der sich unter dem programmatischen Titel „Pushbacks sind illegal – und zwar immer“ kritisch mit einem FAZ-Beitrag meinerseits auseinandersetzte, der fünf Wochen zuvor erschienen war. Lehnert kommt unter Verweis auf diverse EGMR-Urteile zu dem Schluss, dass mein Fazit abgestufter Prüfstandards menschenrechtlich nicht zutreffe. Das Ganze schließt in ausdrücklicher Abgrenzung zu einem wörtlichen Zitat aus meinem Text mit einem Plädoyer für eine „kluge Rechtswissenschaft“, deren Ansprüche die Überlegungen meinerseits für Lehnert offenbar nicht erfüllen.
Ich möchte daher an dieser Stelle diejenigen Nachweise im Blogformat ergänzen, die in einem Zeitungsartikel nicht vorkommen können – und für das wissenschaftliche Publikum schon länger in einer juristischen Fachzeitschrift nachlesbar sind. Darüber hinaus richte ich den Blick auf das Sekundärrecht, das von der Kritik der Pushback-Praktiken bisher vernachlässigt wurde, obgleich der EU-Gesetzgeber inhaltliche tätigte, die über die menschenrechtlichen Mindeststandards hinausgehen.
Der zentrale Unterschied zwischen Lehnert und mir ist leicht erklärt. Wir beide erwähnen, dass der EGMR hervorhebt, „that neither the Convention nor its Protocols protect, as such, the right to asylum“ (hier, Rn. 188). Stattdessen enthält die Konvention „nur“ ein Refoulementverbot. Für die Beurteilung der Pushbacks macht dies für Lehnert jedoch keinen Unterschied, denn das Asylrecht jenseits des Refoulementverbots „adressiert nur die an den Schutzanspruch geknüpfte Qualität des Bleiberechts – schränkt indes nicht den Umfang der Verfahrensrechte aus den Menschenrechten ein.“ Nach meiner festen Überzeugung ist dies falsch, denn die ständige Rechtsprechung des EGMR deutet das Refoulementverbot gerade nicht als universelles Verfahrenszugangsrecht.
Refoulement bedeutet keinen generellen Verfahrenszugang
Ausgangspunkt aller EGMR-Urteile zum Refoulementverbot ist die Annahme, dass dessen Einschlägigkeit voraussetzt, dass jemand die „tatsächliche Gefahr“ (real risk) eines Verstoßes gegen Artikel 3 EMRK geltend machen kann, was mit dem deutschen Maßstab einer „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ übereinstimmt (hier, Rn. 79; hier, Rn. 22). Mit anderen Worten: Es richtet sich nach der Erfolgswahrscheinlichkeit, ob das Refoulementverbot von den Staaten eine Einzelfallprüfung verlangt oder nicht. Auch einen Rechtsbehelf gewährt Artikel 13 EMRK nur dann, wenn jemand gewisse Anhaltspunkte für eine Menschenrechtsverletzung (arguable complaint) vorbringen kann (hier, Rn. 78). Sprachlich pointiert: Das Refoulementverbot enthält, anders als das individuelle Asylrecht, keine Garantie, an jeder Grenze der Welt mit dem Wort „Asyl“ eingelassen zu werden.
Für die Beurteilung, ob eine „tatsächliche Gefahr“ (real risk) vorliegt, müssen die Staaten die allgemeine Menschenrechtslage berücksichtigen. Hierauf verweist Matthias Lehnert völlig zu Recht. Allerdings ergibt diese Pflicht nach der ständigen EGMR-Judikatur ebenfalls kein generelles Verfahrenszugangsrecht (zusammenfassend hier, Rn. 95-98). Stattdessen muss man differenzieren. Für Länder wie Libyen folgt aus der generell schlechten Menschenrechtslage, dass jede Person zumindest einen „arguable complaint“ hat. Die italienische Küstenwache verletzte also die EMRK, wenn sie Migranten und Flüchtlinge ohne Einzelfallprüfung aktiv nach Libyen zurückschickte (eine andere Frage ist, ob dasselbe gilt, wenn Informationen an die libysche Küstenwache weitergegeben werden).
In der Ägäis ist die Situation freilich eine andere. In der Türkei leben bekanntlich mehr als 3 Millionen Syrerinnen und Syrer teils seit vielen Jahren. Ihre Situation ist nicht ideal, dank des Engagements der türkischen Gesellschaft (und auch des Staates), vieler NGOs sowie der Milliardenzahlungen der EU zum Glück jedoch diesseits der Schwelle einer generell „unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung“. In abgeschwächter Form gilt dies auch für Afghaninnen und Afghanen in der Türkei sowie dem Iran (wo einige vor der Weiterreise nach Europa lebten). Lehnerts Hinweis, dass die Staaten die Menschenrechtslage eigeninitiativ berücksichtigen müssten, hilft also nur begrenzt weiter. In der Türkei besteht gerade nicht für jedermann das „tatsächliche Risiko“ (real risk) einer Misshandlung.
Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass Syrerinnen und Syrer und auch viele Afghaninnen und Afghanen in Deutschland derzeit einen positiven Asylbescheid bekommen. Der Maßstab ist nämlich ein anderer. Im deutschen Asylverfahren geht es um die Behandlung im Heimatstaat. Dagegen fragt das Refoulementverbot im Fall der Pushbacks nach dem Ort der Rückführung bzw. Rückkehr. Auch behaupte ich nicht, dass einzelne Personen auf den Schlauchbooten in der Ägäis nicht doch einem tatsächlichen Risiko von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein könnten. Das ist ganz sicher der Fall. Meine Feststellung, dass Pushbacks „nicht immer“ illegal sein müssen, schließt sprachlich überhaupt nicht aus, dass es illegale Pushback-Praktiken gibt. Allein immer und überall muss das nicht der Fall sein. In der Ägäis ebenso wie an der spanisch-marokkanischen Außengrenze, wo der EGMR Pushbacks explizit billigte.
Verfahrensrechtliche Einbahnstraße – und der Ausweg abgestufter Standards
Leserinnen und Leser mit einer gewissen asylrechtlichen Praxiserfahrung werden leicht verstehen, warum die EGMR-Standards aus einer praktischen Perspektive eine verfahrensrechtliche Einbahnstraße sind. Ob jemand einem „tatsächlichen Risiko“ der unmenschlichen Behandlung ausgesetzt ist, weiß man häufig erst nach einer ausführlicheren Einzelfallprüfung. Den prozeduralen Zugang zu dieser Einzelfallprüfung macht die Straßburger Richterschaft jedoch davon abhängig, dass man einen „arguable complaint“ besitzt. Wie kann man wissen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, wenn das Refoulementverbot keine generelle Einzelfallprüfung verlangt?
Die Große Kammer ist sich des Problems bewusst, wie eine aufmerksame Lektüre des Urteils zu den spanischen Pushbacks zeigt. Sie rechtfertigt die im ersten Schritt großzügige Deutung des Kollektivausweisungsverbots unter anderem damit, dass die Grenzpolizei ein rudimentäres Screening mit abgestuften Verfahrensstandards für jeden bereitstellen müsse, der an den Grenzen zurückgewiesen wird (hier, Rn. 171-181). Soweit ein solches erstes Screening das „tatsächliche Risiko“ eines illegalen Refoulements ergibt, greifen im zweiten Schritt die strengeren Verfahrensstandards nach Artikel 3 und 13 EMRK, die letztlich einem regulären Asylverfahren ähneln. Soweit kein Risiko besteht, kann eine Person im Einklang mit dem nationalen bzw. europäischen Recht schnell zurückgeschoben werden.
Das ist eine logische und praxistaugliche Differenzierung auch dann, wenn sie der Lehnert’schen Lesart widerspricht, wonach es entgegen Thym keine abgestuften Prüfstandards geben können, weil das Refoulementverbot einen gleichförmigen Verfahrenszugang gewährleiste. Was das Kollektivausweisungsverbot konkret verlangt, zeige ich später im Rahmen des Sekundärrechts. Für die Menschenrechte bleibt ein weiteres Problem. Vor gut einem Jahr befand die Große Kammer einstimmig, dass unter Umständen selbst auf ein rudimentäres Screening verzichtet werden könne.
Legale Pushbacks an der spanisch-marokkanischen Grenze
Matthias Lehnert kennt das grundlegende N.D. & N.T.-Urteil natürlich, befasst sich mit ihm jedoch nur kurz, denn es habe „massive Kritik“ erfahren und setze legale Zugangswege voraus, die hier nicht bestünden. Das stimmt, ist allerdings nur die halbe Geschichte. Die kritische Rechtswissenschaft übte massive Kritik, doch nicht nur der Frontex-Direktor dürfte erleichtert gewesen sein. Gleiches dürfte für Frankreich, Belgien und Italien gelten, die im Verfahren interveniert hatten, sowie die sozialdemokratische spanische Regierung, die die Beschwerde aufrecht erhalten hatte (und die Praxis bis heute nicht entscheidend änderte). Spanien obsiegte.
Es ist notorisch schwer zu beurteilen, ob man das N.D. & N.T.-Urteil auf die aktuelle Situation in der Ägäis übertragen kann. Einige meinen, dass für Seegrenzen etwas anderes gilt als für Landgrenzen (was der bosnischen Grenzpolizei mehr Spielraum gäbe); andere verweisen auf die notwendige Verfügbarkeit legaler Zugangswege. Ich legte anderweitig dar, dass die Beurteilung auch deshalb schwer fällt, weil das Urteil verschiedene Begründungsansätze verbindet, warum das „eigene Verhalten“ der Migranten die spanischen Pushbacks rechtfertigte (hier, S. 996-999).
Zum einen betonte die Große Kammer, dass die Beschwerdeführer die Grenze illegal überschreiten wollten, obwohl legale Zugangswege abstrakt bestanden, von denen UNHCR plausibel erklärt hatte, dass diese in der Praxis gar nicht zugänglich waren (hier, Rn. 155, 201, 209-232). Dieses Argument könnte man durchaus auf die Ägäis übertragen, denn auf dem Papier kann man an griechischen Grenzübergangsstellen einen Asylantrag stellen, was der EGMR in einem Folgeurteil zu Polen hervorhob (hier, Rn. 207-209); außerdem gibt es ein Resettlement aus der Türkei. All dies mag keinen Zugang im Einzelfall garantieren, was der EGMR auch gar nicht verlangte. Zum anderen stellten die Richter darauf ab, dass in Ceuta gewaltsam vorgegangen und Grenzen gestürmt wurden (hier, Rn. 201). Das trifft auf viele Boote in der Ägäis nicht zu. Es bleibt vorerst also unklar, wann die Rechtsprechung einen gänzlichen Verzicht auf jedes Verfahren erlaubt.
EU-Sekundärrecht als unterschätztes Sicherheitsnetz
Es besteht vielfach eine Diskrepanz zwischen dem Fokus der öffentlichen Diskussion auf die Menschenrechte und dem rechtsdogmatischen Schutzniveau, das nach dem EU-Sekundärrecht häufiger höher ist. Vermutlich ist es ein strategischer Fehler der kritischen Rechtswissenschaft, das erhöhte Schutzniveau für ihre Zwecke gar nicht zu nutzen, indem sie vorrangig auf die sichtbaren Menschenrechte setzt (hier, S. 87-98). Richtlinien und Verordnungen haben auch den Vorteil, mehr Details schwarz auf weiß vorzugeben. Sie auszulegen mag mühsam sein, ist für eine adäquate Bewertung der Rechtslage allerdings unerlässlich.
Ich werde daher in der gebotenen Kürze auf die Vorgaben der Asylverfahrensrichtlinie, des Schengener Grenzkodex sowie der Seeaußengrenzkontrollverordnung eingehen, die bisher viel zu wenig beachtet wurden. Auf diese diffizilen Regelungen stützt sich übrigens zumeist auch UNHCR bei seinen rechtlichen Bewertungen sowie rechtspolitischen Empfehlungen, gerade weil das EU-Sekundärrecht einen höheren Schutz bereithält als das abstrakte Refoulementverbot (etwa hier und hier). Diese Meinungen muss man berücksichtigen, auch wenn UNHCR weder die GFK geschweige denn das EU-Sekundärrecht autoritativ auslegen kann und deshalb die Gerichte manchmal anderer Meinung sind (hier, Rn. 37, 46-49).
Asylverfahrensrichtlinie: individuelles Asylrecht
Artikel 3 der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU bestimmt, dass man „in den Hoheitsgewässern“ einen Asylantrag stellen kann. Im Lichte des Artikels 18 der Grundrechtecharta könnte das individuelle Antragsrecht verpflichtend sein, auch wenn der genaue Gehalt der bewusst mehrdeutig formulierten Norm in Abgrenzung zum Refoulementverbot und als Vorgabe für die explizit genannten Gesetzgebungsakte zur Ausgestaltung des Asylrechts unklar bleibt (hier, Rn. 63). Für unsere Zwecke kommt es hierauf gar nicht an, denn die Verfahrensrichtlinie erlaubt Asylanträge „in den Hoheitsgewässern“ und damit in weiten Teilen der Ägäis.
Jüngere EuGH-Urteile bekräftigten, dass es nicht darauf ankommt, ob Antragsteller das Wort „Asyl“ verwenden, und dass man Anträge bei allen staatlichen Behörden stellen kann, also auch beim Grenzschutz (hier, Rn. 93 f.; hier, Rn. 94-102). Der Luxemburger Gerichtshof betont, dass die Staaten nach Artikel 8 Absatz 1 und Erwägung 28 der Verfahrensrichtlinie an den offiziellen Grenzübergängen aktiv über die Antragsmöglichkeit informieren und nicht näher spezifizierte „Sprachmittlungsvorkehrungen“ bereitstellen müssen. All dies soll von der Grenzpolizei geleistet werden. Speziell ausgebildetes Personal sowie eine fachmännische Übersetzung gibt es erst zu einem späteren Zeitpunkt: bei der Asylanhörung auf dem Hoheitsgebiet nach Maßgabe des Artikels 15.
Abhängig vom Verfahrensstadium variieren also die prozeduralen Vorgaben: für die Anhörung gelten strengere Regeln als für die Grenzübergänge. Für unsere Zwecke gilt ein dritter Verfahrensstandard, weil die Pushbacks während der sogenannten „Grenzüberwachung“ stattfinden, die den unbefugten Grenzübertritt zwischen Übergangsstellen verhindern sollen. Artikel 6 Absatz 1 Satz 3 sowie Erwägung 26 der Asylverfahrensrichtlinie verlangen hier weder eine aktive Information über die Antragsmöglichkeit noch Sprachmittelungsvorkehrungen. Vielmehr soll die Grenzpolizei „nur“ geschult werden, damit sie Personen weitere Informationen geben können, falls diese (eigenständig) einen Asylantrag stellen. Während der Grenzüberwachung normiert das Sekundärrecht weniger Aufklärungspflichten.
Was folgte hieraus, wenn die Migranten und Flüchtlinge in der Ägäis anfingen, das griechische Wort „ασύλου“ (Asyl) auf die Boote zu schreiben oder ein Plakat ähnlichen Inhalts hochzuhalten? Aus einer streng dogmatischen Perspektive kann man durchaus fragen, ob die Artikel 3 und 6 der Verfahrensrichtlinie eine gewisse physische Kontrolle seitens der Grenzpolizei voraussetzen – ebenso wie die ebenfalls genannte Antragsoption „an der Grenze“ wohl nicht bedeutet, dass Grenzpolizisten diejenigen proaktiv ins Land holen müssen, die in Ceuta das spanische Wort „asilo“ über den Zaun rufen, während sie „an der Grenze“ anwesend sind. Auf diese Spitzfindigkeit kommt es rechtspraktisch wohl nicht an, weil spätestens die zwangsweise Verhinderung der illegalen Einreise den jurisdiktionellen Link bereitstellte, den die Asylverfahrensrichtlinie eventuell verlangt.
Schengener Grenzkodex: mehr Spielräume bei der Grenzüberwachung
Viele dürfte der technische Charakter solcher Überlegungen intuitiv abschrecken, geht es doch um elementare Fragen. Allein so funktioniert nun einmal das Asylrecht und auch die EuGH-Judikatur, die sich häufig über Dutzende von Randnummern mit Wortlaut, Systematik und auch Genese der hochkomplizierten Asylrichtlinien auseinandersetzt. Nicht ganz so komplex, aber doch technisch sind die Regeln der Schengener Grenzkodex-Verordnung (EU) 2016/399 für die Einreiseverweigerung.
Diese zeigen erneut, was abgestufte Standards bedeuten. Artikel 14 bekräftigt, dass nur an Grenzübergangsstellen eine schriftliche Einreiseverweigerung obligatorisch ist, die nach Maßgabe des Anhangs V rudimentär zu begründen ist und einem Rechtsbehelf ohne aufschiebende Wirkung unterliegt. Dagegen verweist Artikel 13 für eine Zurückweisung im Rahmen der Grenzüberwachung auf die Rückführungsrichtlinie, wie auch die Kommission dem Frontex-Direktor kürzlich schrieb (hier, S. 5).
Für unsere Zwecke führt der Verweis auf die Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG ins Leere, weil deren Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a die Mitgliedstaaten autorisiert, diese Richtlinie nicht auf Personen anzuwenden, die im Rahmen der Grenzüberwachung aufgegriffen bzw. abgefangen werden (siehe auch hier, Rn. 71 f.). Ausweislich Artikel 4 Absatz 4 sind einige Regeln zwar immer zu beachten, allerdings sind diese für die Situation in der Ägäis ebenfalls nicht entscheidend, weil sie kein individuelles Zurückweisungsverfahren vorschreiben. Etwas anderes folgt auch nicht aus Artikel 47 der Grundrechtecharta, weil diese einen Rechtsschutz davon abhängig macht, dass unionale Rechte möglicherweise verletzt worden, die die Rückführungsrichtlinie vorliegend nicht bereitstellt.
Seeaußengrenzkontrollverordnung: rudimentäres Screening
Das Europäische Parlament und der Rat verabschiedeten einen Rechtsakt, der sich speziell mit der Grenzüberwachung befasst: die Seeaußengrenzkontrollverordnung (EU) Nr. 656/2014. Sinn und Zweck dieser Verordnung war immer schon, die menschenrechtlichen Mindeststandards mit dem EU-Vertragsziel einer „verstärkte(n) Bekämpfung von illegaler Einwanderung“ sowie dem Protokoll gegen die Schleusung von Migranten, das von den UN aufgelegt wurde und derzeit über 100 Staaten bindet, in Einklang zu bringen. Artikel 6 Absatz 2 Buchstabe b autorisiert die griechische Küstenwache explizit, ein Boot anzuweisen, den Kurs zu ändern und einen Hafen jenseits des Küstenmeers anzusteuern, wenn es Passagiere befördert, „die sich den Kontrollen an den Grenzübergangsstellen zu entziehen beabsichtigen“. In der Ägäis ist das typischerweise der Fall.
Pushbacks wurden vom EU-Gesetzgeber unter bestimmten Umständen also für rechtmäßig erachtet. Zugleich jedoch normiert Artikel 4 Absatz 3 der Verordnung eine rudimentäre Screeningpflicht, die immer dann eingreift, wenn jemand „abgefangen“ oder „gerettet“ wurde. Es geht um eine Identifikation und auch die Möglichkeit, individuelle Gründe vorzubringen, die auf ein illegales Refoulement hindeuten. Die ausdrückliche Pflicht der Grenzpolizei, die geretteten oder abgefangenen Personen über den Zielort der beabsichtigten Ausschiffung zu informieren, erklärt sich aus dem Regelungszweck: Artikel 4 Absatz 3 sollte die menschenrechtlichen Anforderungen aus der EMRK in der Nachlese zum Hirsi-Urteil umsetzen.
Was hieraus für die Anwendbarkeit der Norm in der Ägäis folgt, wird abschließend dargetan. Doch selbst wenn die Norm eingreift, bekräftigt der vergleichsweise schwache Schutzstandard, dass die Menschenrechte und das Sekundärrecht abgestufte Prüfpflichten kennen. Auch das Kollektivausweisungsverbot gibt nämlich nur rudimentäre Verfahrenspflichten vor, so diese überhaupt gelten (anders als in Ceuta). Konkret verlangt der EGMR eine basale Identitätsklärung sowie die Möglichkeit, eigene Argumente vorzubringen, nicht jedoch den Einsatz von trainierten Personal nach dem Modus einer Asylanhörung oder auch einen Rechtsschutz mit Suspensiveffekt (hier, Rn. 237-242, 276 f.; hier, Rn. 57-61).
„Abfangen“: ungeklärte Anwendungsschwelle
Leider definiert die 15-seitige Seeaußengrenzkontrollverordnung den Begriff des „Abfangens“ nicht, obgleich er für unsere Zwecke überaus relevant ist, weil nur dann die Verfahrensstandards des Artikels 4 Absatz 3 eingreifen. Es besteht auch keine universell anerkannte Völkerrechtspraxis, auf die wir zurückgreifen könnten, zumal der EuGH den Sekundärrechtsinhalt im Zweifel ohnehin autonom und unabhängig vom Völkerrecht auslegt. Insoweit bestehen mindestens zwei Deutungsmöglichkeiten.
Auf der einen Seite könnte man dem Begriff weit auslegen und jede Verhinderung der Weiterreise darunter fassen. Wenn dies der Fall wäre, wären die Pushbacks in der Ägäis immer ein „Abfangen“. Auf der anderen Seite könnte man eine physische Kontrolle der Grenzpolizei verlangen, wenn etwa die griechische Küstenwache ein Schlauchboot aktiv in türkische Gewässer zurückschleppt. Hierfür spricht die Grundanlage der Seeaußengrenzkontrollverordnung, deren Artikel 6 sich vorrangig mit operativen Maßnahmen wie dem Betreten oder Durchsuchen von Schiffen beschäftigt; auch gehen die Verfahrensgarantien des Artikels 4 Absatz 3 offenbar davon aus, dass die Betroffenen sich an Bord des Küstenwachschiffs befinden (ebenso wie im Fall der „Rettung“, die ebenfalls genannt ist).
Natürlich ist es frustrierend, dass solch grundlegende Rechtsfragen rechtlich ungeklärt bleiben. Der Grund hierfür ist, dass der EU-Gesetzgeber das Hirsi-Urteil vor Augen hatte, als er die Seeaußengrenzkontrollverordnung verfasste. Dieses betraf gleichfalls eine Situation, in der die Personen bereits auf dem Grenzschutzschiff waren. Insofern könnte man „Abfangen“ ähnlich deuten wie den EMRK-Begriff der „Jurisdiktion“. Tatsächlich steht nämlich überhaupt nicht fest, dass die EMRK auf alle Pushback-Konstellationen überhaupt anzuwenden ist. Speziell das Hirsi-Urteil stellte nämlich darauf ab, dass die italienische Küstenwache das Boot bereits betreten hatte (hier, Rn. 70-82). In der Ägäis ist das nicht immer der Fall.
Gewiss gibt es Vorschläge, wie man dies im Wege der dynamischen Menschenrechtsauslegung zukünftig eventuell auch anders sehen könnte. Auch der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen äußerte in einer unverbindlichen Meinungsäußerung (views), dass jedenfalls in bestimmten Konstellationen einer verzögerten Seenotrettung eine vorgelagerte Kontrolle bestehen kann (hier, Abschn. 7.4-7.8). Eine höchstrichterliche Judikatur des EGMR und EuGH, die auch vergleichbare Fälle von Pushbacks erfasst, steht bisher jedoch aus. Leider.
Fazit
Man kann nur hoffen, dass der EuGH alsbald die Gelegenheit bekommt, die offenen Fragen zu klären. Das ist wohlgemerkt kein Plädoyer dafür, dass die Rechtswissenschaft sich auf Gerichte konzentrieren sollte. Für die öffentliche Debatte jedoch sind sie der relevante Maßstab. Dass dies nicht passiert, ist eines von mehreren Strukturproblemen, die das europäische Asylrecht plagen. Dieses setzt nicht nur auf hochkomplizierte Verfahren, die in langen Verordnungen niedergelegt sind, die an den europäischen Außengrenzen rechtspraktisch vielfach nicht funktionieren. Darüber hinaus verlangt die Rechtsdurchsetzung, dass die nationalen Gerichte ihre Kontrollaufgabe wirkungsvoll wahrnehmen und offene Auslegungsfragen an den EuGH senden. Speziell im Fall von Griechenland funktioniert das traditionell schlecht. Es gibt bis zum heutigen Tag keine einzige Vorlage eines griechischen Gerichts, die sich mit der Situation auf den griechischen Inseln oder gar mit der Grenzüberwachung in der Ägäis beschäftigte.
Zutreffend weist Daniel Thym in dem Beitrag darauf hin, dass der zentrale Unterschied zwischen meinem Beitrag und seiner Überzeugung darin besteht, ob und inwiefern das Refoulement-Verbot ein Verfahrenszugangsrecht beinhaltet.
Bei dieser Frage müssen derweil der Maßstab und die rechtlichen wie tatsächlichen Ausgangspzunkte nochmals präzisiert werden: Wir reden hier über Zurückweisungen in präsumptiv als sicher deklarierte Dritt- bzw. Transitstaaten – allein darum geht es bei Pushbacks an den europäischen Außengrenzen – zuvorderst am Maßstab von Art. 3 EMRK.
Besonders erhellend und letzten Endes maßgeblich für die verfahrensrechtliche Komponenten und den Prüfungsmaßstab des Art. 3 bei Zurückweisungen in Drittstaaten ist die Entscheidung der (letztinstanzlichen) Großen Kammer in der Rechtssache Ilias und Ahmed gg. Ungarn im November 2019 (https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-198760%22]}, und hier die Rn. 123 – 165: Darin wird zunächst, und unter Verweis auf zahlreiche weitere Entscheidungen des Gerichtshofs, die Pflicht des handelnden Staates dargelegt, vor einer Abschiebung zu prüfen, dass in dem Drittstaat ein effektives Asylverfahren gewährleistet ist, keine Kettenabschiebung droht und menschenrechtskonforme Lebensbedingungen zu erwarten sind. In einem solchen Verfahren geht es demnach nicht um die Prüfung des Schutzbedarfs im Herkunftsstaat, als dass hier nicht geprüft werden muss „whether the persons to be expelled risk treatment contrary to Article 3 in their country of origin or are simply economic migrants.“ Sodann heißt es, dass die Prüfung vor allem in dieser Konstellation, in der die Schutzsuchenden in der Regel keinen Vortrag zur Situation in dem Drittstaat leisten können, die Staaten „must carry out of their own motion an up-to-date assessment, notably, of the accessibility and functioning of the receiving country’s asylum system and the safeguards it affords in practice.“ Sodann, und das ist der entscheidende Punkt (Rn. 148), ist der Prüfungsmaßstab des Gerichtshofs, und damit der Maßstab von Art. 3 bei Zurückweisungen in Drittstaaten zweierlei: Erstens muss – in diesem Fall anhand einer Abschiebung von Ungarn nach Serbien – geprüft werden „whether these authorities took into account the available general information about Serbia and its asylum system in an adequate manner and of their own initiative”; zweitens „whether the applicants were given sufficient opportunity to demonstrate that Serbia was not a safe third country in their particular case.“ In dem konkreten Verfahren führt dies die Große Kammer zu dem Schluss, dass die unzureichende Berücksichtigung der Erkenntnislage durch die ungarischen Behörden „are sufficient for the Court to find that there has been a violation of Article 3 of the Convention.“
Das heißt im Ergebnis: Die reine Verletzung von aus Art. 3 EMRK erwachsenden Verfahrensrechten im Fall von Zurückweisungen in Dritt- oder Transitstaaten führt zu einer Verletzung dieser Vorschrift. Weder ist die Geltendmachung eines individuellen „real risk“ oder eines „arguable complaint“ (was richtigerweise keine Frage von Art. 3, sondern von Art. 13 EMRK ist) erforderlich. Noch ist diese Rechtsprechung in der Rechtssache Ilias und Ahmed vom EGMR im Nachhinein in Frage gestellt worden.
Insofern ist es weniger erhellend, sondern vielmehr irreführend, auf die Urteile des EGMR in der Rechtssache N.D. und N.T. gegen Spanien und das an anderer Stelle von Thym erwähnte Urteil in der Rechtssache Khlaifia gg. Italien von 2016 (https://hudoc.echr.coe.int/fre#{%22fulltext%22:[%22Khlaifia%22],%22itemid%22:[%22001-170054%22]} hinzuweisen. Denn diese und andere ins Feld geführte Entscheidungen äußern sich für die hier relevanten Fragen allein zum Maßstab des Verbots der Kollektivausweisung aus Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls der EMRK; sie haben jedoch für die Auslegung von Art. 3 EMRK und den ausgeführten Verfahrensrechten keinerlei Mehrwert. Zumal Griechenland das 4. Zusatzprotokoll zur EMRK nicht ratifiziert hat.
Ebenfalls sind die Ausführungen zum europäischen Sekundärrecht und die von Thym vorgebrachte Praxisuntauglichkeit sowie der Hinweis auf offene Rechtsfragen wichtige Punkte im rechtspolitischen Diskurs – sie haben jedoch für den Umfang und die Reichweite der menschenrechtlichen Garantien normenhierarchisch keine Bedeutung. Sie sind entscheidend für die Frage, wie menschenrechtliche Vorgaben in der Praxis umgesetzt werden – sie sind damit, und damit wiederhole ich mich, eine Frage politischen Willens.
In der Debatte um das Verfahren bei Zurückweisungen teile ich die Auffassung von Lehnert, dass im Interesse der effektiven Vermeidung von refoulement-Verstößen IMMER ein individuelles Prüfverfahren erforderlich ist. Und seine Auffassung, dass den sich häufenden Versuchen, daran (insbes. für Personen, die aus bestimmten Transitstaaten anreisen) rechtlich “zu nagen”, entschieden zu widersprechen ist.
Allerdings trifft zu – und das ist evtl. der Grund, warum Thym die Prüfpflichten unter dem Gesichtspunkt eines “arguable claim” relativieren will -, dass der EGMR nach pushbacks durchaus nicht immer und für jeden betroffenen Beschwerdeführer eine Art. 3-Verletzung feststellt. Bei Beschwerdeführern, bei denen (nach Maßgabe dessen, was ex post bekannt ist) für ein real risk gar nichts vorlag, kommt es vor, dass der EGMR trotz prüfungsloser Zurückweisung keine (prozedurale) Verletzung feststellt: so geschehen in der EGMR-Entscheidung ND&NT 2015 (das ist nicht die Kollektivausweisungsentscheidung von 2020, sondern eine Kammer-Entscheidung, mit der im selben Fall zunächst die Art. 3, 13-Rüge abgeschichtet wurde). Andererseits hat der EGMR in Ilias&Ahmed – das hat Lehnert ausgeführt – für die Annahme einer Art.3-Verletzung genügen lassen, dass die (prozedurale) Pflicht verletzt wurde, die Sicherheit des Drittstaates ausreichend zu prüfen, die Lage im Heimatstaat hat der EGMR gar nicht geprüft.
Warum ist ein individuelles Prüfverfahren immer geboten, obwohl, wenn es unterlassen wurde, ex post nicht immer eine Art. 3-Verletzung festgestellt wird? Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, Verletzungen von Art. 3 EMRK effektiv zu vermeiden. Die lassen sich nur effektiv vermeiden, wenn jeder einzelne Fall hinreichend gründlich daraufhin geprüft wird, ob ein real risk besteht (das kann sich natürlich – das Thema hatten wir schon bei Dublin-Überstellungen – nicht nur aus einer allgemein, für alle nicht-sicheren Lage im Transitstaat ergeben, sondern auch aus bes. Umständen des Einzelfalles, deshalb indiv. Prüfung). Diese Prüfungspflicht besteht allerdings im Interesse derjenigen abzuschiebenden Personen, denen eine Art.3-Verletzung droht – die müssen identifiziert werden -, für die anderen handelt es sich um einen Rechtsreflex, weshalb sie nach pushbacks (wie im Fall ND&NT 2015) eine (prozedurale) Art.3-Verletzung nicht mit Aussicht auf Erfolg rügen können.
Im Ergebnis bleibt es dabei: Nur wenn jeder Zurückweisungsfall individuell auf ein entspr. Risiko hin geprüft wird, lassen sich Art.3-Verletzungen effektiv vermeiden. Folglich müssen die Staaten das vor Zurückweisungen leisten. Weder EGMR ND&NT 2015 noch EGMR ND&NT 2020 ändern daran irgendetwas.
Herr Lehnert möge doch mal das EGMR-Urteil vom 11. 12. 2018 – 59793/17 zur Kenntnis nehmen. Nach dieser Entscheidung ist sehr wohl ein „real risk“ oder ein „arguable complaint“ erforderlich._Dort steht explizit in Rn 102 ….expulsion of an alien by a Contracting State may give rise to an issue under Article 3 of the Convention where substantial grounds have been shown for believing that the person concerned faces a real risk of being subjected to torture or inhuman or degrading treatment or punishment in the receiving country.”