Menschenrechtliche Grenzen für Pushbacks – und der weitergehende Schutz nach EU-Sekundärrecht
An dieser Stelle veröffentlichte Matthias Lehnert kürzlich einen Beitrag, der sich unter dem programmatischen Titel „Pushbacks sind illegal – und zwar immer“ kritisch mit einem FAZ-Beitrag meinerseits auseinandersetzte, der fünf Wochen zuvor erschienen war. Lehnert kommt unter Verweis auf diverse EGMR-Urteile zu dem Schluss, dass mein Fazit abgestufter Prüfstandards menschenrechtlich nicht zutreffe. Das Ganze schließt in ausdrücklicher Abgrenzung zu einem wörtlichen Zitat aus meinem Text mit einem Plädoyer für eine „kluge Rechtswissenschaft“, deren Ansprüche die Überlegungen meinerseits für Lehnert offenbar nicht erfüllen.
Ich möchte daher an dieser Stelle diejenigen Nachweise im Blogformat ergänzen, die in einem Zeitungsartikel nicht vorkommen können – und für das wissenschaftliche Publikum schon länger in einer juristischen Fachzeitschrift nachlesbar sind. Darüber hinaus richte ich den Blick auf das Sekundärrecht, das von der Kritik der Pushback-Praktiken bisher vernachlässigt wurde, obgleich der EU-Gesetzgeber inhaltliche tätigte, die über die menschenrechtlichen Mindeststandards hinausgehen.
Der zentrale Unterschied zwischen Lehnert und mir ist leicht erklärt. Wir beide erwähnen, dass der EGMR hervorhebt, „that neither the Convention nor its Protocols protect, as such, the right to asylum“ (hier, Rn. 188). Stattdessen enthält die Konvention „nur“ ein Refoulementverbot. Für die Beurteilung der Pushbacks macht dies für Lehnert jedoch keinen Unterschied, denn das Asylrecht jenseits des Refoulementverbots „adressiert nur die an den Schutzanspruch geknüpfte Qualität des Bleiberechts – schränkt indes nicht den Umfang der Verfahrensrechte aus den Menschenrechten ein.“ Nach meiner festen Überzeugung ist dies falsch, denn die ständige Rechtsprechung des EGMR deutet das Refoulementverbot gerade nicht als universelles Verfahrenszugangsrecht.
Refoulement bedeutet keinen generellen Verfahrenszugang
Ausgangspunkt aller EGMR-Urteile zum Refoulementverbot ist die Annahme, dass dessen Einschlägigkeit voraussetzt, dass jemand die „tatsächliche Gefahr“ (real risk) eines Verstoßes gegen Artikel 3 EMRK geltend machen kann, was mit dem deutschen Maßstab einer „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ übereinstimmt (hier, Rn. 79; hier, Rn. 22). Mit anderen Worten: Es richtet sich nach der Erfolgswahrscheinlichkeit, ob das Refoulementverbot von den Staaten eine Einzelfallprüfung verlangt oder nicht. Auch einen Rechtsbehelf gewährt Artikel 13 EMRK nur dann, wenn jemand gewisse Anhaltspunkte für eine Menschenrechtsverletzung (arguable complaint) vorbringen kann (hier, Rn. 78). Sprachlich pointiert: Das Refoulementverbot enthält, anders als das individuelle Asylrecht, keine Garantie, an jeder Grenze der Welt mit dem Wort „Asyl“ eingelassen zu werden.
Für die Beurteilung, ob eine „tatsächliche Gefahr“ (real risk) vorliegt, müssen die Staaten die allgemeine Menschenrechtslage berücksichtigen. Hierauf verweist Matthias Lehnert völlig zu Recht. Allerdings ergibt diese Pflicht nach der ständigen EGMR-Judikatur ebenfalls kein generelles Verfahrenszugangsrecht (zusammenfassend hier, Rn. 95-98). Stattdessen muss man differenzieren. Für Länder wie Libyen folgt aus der generell schlechten Menschenrechtslage, dass jede Person zumindest einen „arguable complaint“ hat. Die italienische Küstenwache verletzte also die EMRK, wenn sie Migranten und Flüchtlinge ohne Einzelfallprüfung aktiv nach Libyen zurückschickte (eine andere Frage ist, ob dasselbe gilt, wenn Informationen an die libysche Küstenwache weitergegeben werden).
In der Ägäis ist die Situation freilich eine andere. In der Türkei leben bekanntlich mehr als 3 Millionen Syrerinnen und Syrer teils seit vielen Jahren. Ihre Situation ist nicht ideal, dank des Engagements der türkischen Gesellschaft (und auch des Staates), vieler NGOs sowie der Milliardenzahlungen der EU zum Glück jedoch diesseits der Schwelle einer generell „unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung“. In abgeschwächter Form gilt dies auch für Afghaninnen und Afghanen in der Türkei sowie dem Iran (wo einige vor der Weiterreise nach Europa lebten). Lehnerts Hinweis, dass die Staaten die Menschenrechtslage eigeninitiativ berücksichtigen müssten, hilft also nur begrenzt weiter. In der Türkei besteht gerade nicht für jedermann das „tatsächliche Risiko“ (real risk) einer Misshandlung.
Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass Syrerinnen und Syrer und auch viele Afghaninnen und Afghanen in Deutschland derzeit einen positiven Asylbescheid bekommen. Der Maßstab ist nämlich ein anderer. Im deutschen Asylverfahren geht es um die Behandlung im Heimatstaat. Dagegen fragt das Refoulementverbot im Fall der Pushbacks nach dem Ort der Rückführung bzw. Rückkehr. Auch behaupte ich nicht, dass einzelne Personen auf den Schlauchbooten in der Ägäis nicht doch einem tatsächlichen Risiko von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein könnten. Das ist ganz sicher der Fall. Meine Feststellung, dass Pushbacks „nicht immer“ illegal sein müssen, schließt sprachlich überhaupt nicht aus, dass es illegale Pushback-Praktiken gibt. Allein immer und überall muss das nicht der Fall sein. In der Ägäis ebenso wie an der spanisch-marokkanischen Außengrenze, wo der EGMR Pushbacks explizit billigte.
Verfahrensrechtliche Einbahnstraße – und der Ausweg abgestufter Standards
Leserinnen und Leser mit einer gewissen asylrechtlichen Praxiserfahrung werden leicht verstehen, warum die EGMR-Standards aus einer praktischen Perspektive eine verfahrensrechtliche Einbahnstraße sind. Ob jemand einem „tatsächlichen Risiko“ der unmenschlichen Behandlung ausgesetzt ist, weiß man häufig erst nach einer ausführlicheren Einzelfallprüfung. Den prozeduralen Zugang zu dieser Einzelfallprüfung macht die Straßburger Richterschaft jedoch davon abhängig, dass man einen „arguable complaint“ besitzt. Wie kann man wissen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, wenn das Refoulementverbot keine generelle Einzelfallprüfung verlangt?
Die Große Kammer ist sich des Problems bewusst, wie eine aufmerksame Lektüre des Urteils zu den spanischen Pushbacks zeigt. Sie rechtfertigt die im ersten Schritt großzügige Deutung des Kollektivausweisungsverbots unter anderem damit, dass die Grenzpolizei ein rudimentäres Screening mit abgestuften Verfahrensstandards für jeden bereitstellen müsse, der an den Grenzen zurückgewiesen wird (hier, Rn. 171-181). Soweit ein solches erstes Screening das „tatsächliche Risiko“ eines illegalen Refoulements ergibt, greifen im zweiten Schritt die strengeren Verfahrensstandards nach Artikel 3 und 13 EMRK, die letztlich einem regulären Asylverfahren ähneln. Soweit kein Risiko besteht, kann eine Person im Einklang mit dem nationalen bzw. europäischen Recht schnell zurückgeschoben werden.
Das ist eine logische und praxistaugliche Differenzierung auch dann, wenn sie der Lehnert’schen Lesart widerspricht, wonach es entgegen Thym keine abgestuften Prüfstandards geben können, weil das Refoulementverbot einen gleichförmigen Verfahrenszugang gewährleiste. Was das Kollektivausweisungsverbot konkret verlangt, zeige ich später im Rahmen des Sekundärrechts. Für die Menschenrechte bleibt ein weiteres Problem. Vor gut einem Jahr befand die Große Kammer einstimmig, dass unter Umständen selbst auf ein rudimentäres Screening verzichtet werden könne.
Legale Pushbacks an der spanisch-marokkanischen Grenze
Matthias Lehnert kennt das grundlegende N.D. & N.T.-Urteil natürlich, befasst sich mit ihm jedoch nur kurz, denn es habe „massive Kritik“ erfahren und setze legale Zugangswege voraus, die hier nicht bestünden. Das stimmt, ist allerdings nur die halbe Geschichte. Die kritische Rechtswissenschaft übte massive Kritik, doch nicht nur der Frontex-Direktor dürfte erleichtert gewesen sein. Gleiches dürfte für Frankreich, Belgien und Italien gelten, die im Verfahren interveniert hatten, sowie die sozialdemokratische spanische Regierung, die die Beschwerde aufrecht erhalten hatte (und die Praxis bis heute nicht entscheidend änderte). Spanien obsiegte.
Es ist notorisch schwer zu beurteilen, ob man das N.D. & N.T.-Urteil auf die aktuelle Situation in der Ägäis übertragen kann. Einige meinen, dass für Seegrenzen etwas anderes gilt als für Landgrenzen (was der bosnischen Grenzpolizei mehr Spielraum gäbe); andere verweisen auf die notwendige Verfügbarkeit legaler Zugangswege. Ich legte anderweitig dar, dass die Beurteilung auch deshalb schwer fällt, weil das Urteil verschiedene Begründungsansätze verbindet, warum das „eigene Verhalten“ der Migranten die spanischen Pushbacks rechtfertigte (hier, S. 996-999).
Zum einen betonte die Große Kammer, dass die Beschwerdeführer die Grenze illegal überschreiten wollten, obwohl legale Zugangswege abstrakt bestanden, von denen UNHCR plausibel erklärt hatte, dass diese in der Praxis gar nicht zugänglich waren (hier, Rn. 155, 201, 209-232). Dieses Argument könnte man durchaus auf die Ägäis übertragen, denn auf dem Papier kann man an griechischen Grenzübergangsstellen einen Asylantrag stellen, was der EGMR in einem Folgeurteil zu Polen hervorhob (hier, Rn. 207-209); außerdem gibt es ein Resettlement aus der Türkei. All dies mag keinen Zugang im Einzelfall garantieren, was der EGMR auch gar nicht verlangte. Zum anderen stellten die Richter darauf ab, dass in Ceuta gewaltsam vorgegangen und Grenzen gestürmt wurden (hier, Rn. 201). Das trifft auf viele Boote in der Ägäis nicht zu. Es bleibt vorerst also unklar, wann die Rechtsprechung einen gänzlichen Verzicht auf jedes Verfahren erlaubt.
EU-Sekundärrecht als unterschätztes Sicherheitsnetz
Es besteht vielfach eine Diskrepanz zwischen dem Fokus der öffentlichen Diskussion auf die Menschenrechte und dem rechtsdogmatischen Schutzniveau, das nach dem EU-Sekundärrecht häufiger höher ist. Vermutlich ist es ein strategischer Fehler der kritischen Rechtswissenschaft, das erhöhte Schutzniveau für ihre Zwecke gar nicht zu nutzen, indem sie vorrangig auf die sichtbaren Menschenrechte setzt (hier, S. 87-98). Richtlinien und Verordnungen haben auch den Vorteil, mehr Details schwarz auf weiß vorzugeben. Sie auszulegen mag mühsam sein, ist für eine adäquate Bewertung der Rechtslage allerdings unerlässlich.
Ich werde daher in der gebotenen Kürze auf die Vorgaben der Asylverfahrensrichtlinie, des Schengener Grenzkodex sowie der Seeaußengrenzkontrollverordnung eingehen, die bisher viel zu wenig beachtet wurden. Auf diese diffizilen Regelungen stützt sich übrigens zumeist auch UNHCR bei seinen rechtlichen Bewertungen sowie rechtspolitischen Empfehlungen, gerade weil das EU-Sekundärrecht einen höheren Schutz bereithält als das abstrakte Refoulementverbot (etwa hier und hier). Diese Meinungen muss man berücksichtigen, auch wenn UNHCR weder die GFK geschweige denn das EU-Sekundärrecht autoritativ auslegen kann und deshalb die Gerichte manchmal anderer Meinung sind (hier, Rn. 37, 46-49).
Asylverfahrensrichtlinie: individuelles Asylrecht
Artikel 3 der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU bestimmt, dass man „in den Hoheitsgewässern“ einen Asylantrag stellen kann. Im Lichte des Artikels 18 der Grundrechtecharta könnte das individuelle Antragsrecht verpflichtend sein, auch wenn der genaue Gehalt der bewusst mehrdeutig formulierten Norm in Abgrenzung zum Refoulementverbot und als Vorgabe für die explizit genannten Gesetzgebungsakte zur Ausgestaltung des Asylrechts unklar bleibt (hier, Rn. 63). Für unsere Zwecke kommt es hierauf gar nicht an, denn die Verfahrensrichtlinie erlaubt Asylanträge „in den Hoheitsgewässern“ und damit in weiten Teilen der Ägäis.
Jüngere EuGH-Urteile bekräftigten, dass es nicht darauf ankommt, ob Antragsteller das Wort „Asyl“ verwenden, und dass man Anträge bei allen staatlichen Behörden stellen kann, also auch beim Grenzschutz (hier, Rn. 93 f.; hier, Rn. 94-102). Der Luxemburger Gerichtshof betont, dass die Staaten nach Artikel 8 Absatz 1 und Erwägung 28 der Verfahrensrichtlinie an den offiziellen Grenzübergängen aktiv über die Antragsmöglichkeit informieren und nicht näher spezifizierte „Sprachmittlungsvorkehrungen“ bereitstellen müssen. All dies soll von der Grenzpolizei geleistet werden. Speziell ausgebildetes Personal sowie eine fachmännische Übersetzung gibt es erst zu einem späteren Zeitpunkt: bei der Asylanhörung auf dem Hoheitsgebiet nach Maßgabe des Artikels 15.
Abhängig vom Verfahrensstadium variieren also die prozeduralen Vorgaben: für die Anhörung gelten strengere Regeln als für die Grenzübergänge. Für unsere Zwecke gilt ein dritter Verfahrensstandard, weil die Pushbacks während der sogenannten „Grenzüberwachung“ stattfinden, die den unbefugten Grenzübertritt zwischen Übergangsstellen verhindern sollen. Artikel 6 Absatz 1 Satz 3 sowie Erwägung 26 der Asylverfahrensrichtlinie verlangen hier weder eine aktive Information über die Antragsmöglichkeit noch Sprachmittelungsvorkehrungen. Vielmehr soll die Grenzpolizei „nur“ geschult werden, damit sie Personen weitere Informationen geben können, falls diese (eigenständig) einen Asylantrag stellen. Während der Grenzüberwachung normiert das Sekundärrecht weniger Aufklärungspflichten.
Was folgte hieraus, wenn die Migranten und Flüchtlinge in der Ägäis anfingen, das griechische Wort „ασύλου“ (Asyl) auf die Boote zu schreiben oder ein Plakat ähnlichen Inhalts hochzuhalten? Aus einer streng dogmatischen Perspektive kann man durchaus fragen, ob die Artikel 3 und 6 der Verfahrensrichtlinie eine gewisse physische Kontrolle seitens der Grenzpolizei voraussetzen – ebenso wie die ebenfalls genannte Antragsoption „an der Grenze“ wohl nicht bedeutet, dass Grenzpolizisten diejenigen proaktiv ins Land holen müssen, die in Ceuta das spanische Wort „asilo“ über den Zaun rufen, während sie „an der Grenze“ anwesend sind. Auf diese Spitzfindigkeit kommt es rechtspraktisch wohl nicht an, weil spätestens die zwangsweise Verhinderung der illegalen Einreise den jurisdiktionellen Link bereitstellte, den die Asylverfahrensrichtlinie eventuell verlangt.
Schengener Grenzkodex: mehr Spielräume bei der Grenzüberwachung
Viele dürfte der technische Charakter solcher Überlegungen intuitiv abschrecken, geht es doch um elementare Fragen. Allein so funktioniert nun einmal das Asylrecht und auch die EuGH-Judikatur, die sich häufig über Dutzende von Randnummern mit Wortlaut, Systematik und auch Genese der hochkomplizierten Asylrichtlinien auseinandersetzt. Nicht ganz so komplex, aber doch technisch sind die Regeln der Schengener Grenzkodex-Verordnung (EU) 2016/399 für die Einreiseverweigerung.
Diese zeigen erneut, was abgestufte Standards bedeuten. Artikel 14 bekräftigt, dass nur an Grenzübergangsstellen eine schriftliche Einreiseverweigerung obligatorisch ist, die nach Maßgabe des Anhangs V rudimentär zu begründen ist und einem Rechtsbehelf ohne aufschiebende Wirkung unterliegt. Dagegen verweist Artikel 13 für eine Zurückweisung im Rahmen der Grenzüberwachung auf die Rückführungsrichtlinie, wie auch die Kommission dem Frontex-Direktor kürzlich schrieb (hier, S. 5).
Für unsere Zwecke führt der Verweis auf die Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG ins Leere, weil deren Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a die Mitgliedstaaten autorisiert, diese Richtlinie nicht auf Personen anzuwenden, die im Rahmen der Grenzüberwachung aufgegriffen bzw. abgefangen werden (siehe auch hier, Rn. 71 f.). Ausweislich Artikel 4 Absatz 4 sind einige Regeln zwar immer zu beachten, allerdings sind diese für die Situation in der Ägäis ebenfalls nicht entscheidend, weil sie kein individuelles Zurückweisungsverfahren vorschreiben. Etwas anderes folgt auch nicht aus Artikel 47 der Grundrechtecharta, weil diese einen Rechtsschutz davon abhängig macht, dass unionale Rechte möglicherweise verletzt worden, die die Rückführungsrichtlinie vorliegend nicht bereitstellt.
Seeaußengrenzkontrollverordnung: rudimentäres Screening
Das Europäische Parlament und der Rat verabschiedeten einen Rechtsakt, der sich speziell mit der Grenzüberwachung befasst: die Seeaußengrenzkontrollverordnung (EU) Nr. 656/2014. Sinn und Zweck dieser Verordnung war immer schon, die menschenrechtlichen Mindeststandards mit dem EU-Vertragsziel einer „verstärkte(n) Bekämpfung von illegaler Einwanderung“ sowie dem Protokoll gegen die Schleusung von Migranten, das von den UN aufgelegt wurde und derzeit über 100 Staaten bindet, in Einklang zu bringen. Artikel 6 Absatz 2 Buchstabe b autorisiert die griechische Küstenwache explizit, ein Boot anzuweisen, den Kurs zu ändern und einen Hafen jenseits des Küstenmeers anzusteuern, wenn es Passagiere befördert, „die sich den Kontrollen an den Grenzübergangsstellen zu entziehen beabsichtigen“. In der Ägäis ist das typischerweise der Fall.
Pushbacks wurden vom EU-Gesetzgeber unter bestimmten Umständen also für rechtmäßig erachtet. Zugleich jedoch normiert Artikel 4 Absatz 3 der Verordnung eine rudimentäre Screeningpflicht, die immer dann eingreift, wenn jemand „abgefangen“ oder „gerettet“ wurde. Es geht um eine Identifikation und auch die Möglichkeit, individuelle Gründe vorzubringen, die auf ein illegales Refoulement hindeuten. Die ausdrückliche Pflicht der Grenzpolizei, die geretteten oder abgefangenen Personen über den Zielort der beabsichtigten Ausschiffung zu informieren, erklärt sich aus dem Regelungszweck: Artikel 4 Absatz 3 sollte die menschenrechtlichen Anforderungen aus der EMRK in der Nachlese zum Hirsi-Urteil umsetzen.
Was hieraus für die Anwendbarkeit der Norm in der Ägäis folgt, wird abschließend dargetan. Doch selbst wenn die Norm eingreift, bekräftigt der vergleichsweise schwache Schutzstandard, dass di