11 November 2022

Nicht in Ordnung

Heute beginnt, was man im Rheinland Karneval nennt: Die so genannte fünfte Jahreszeit des Quatsches, der Verkleidung und des Tuns dessen, was man eigentlich nicht tut, heute Schlag 11 Uhr 11 fängt sie an, das dionysische Prinzip tanzt über den Kölschen Heu- und Alter Markt und feiert die Einheit des Unterschiedenen, liegt sich in den Armen mit Wildfremden, singt im Chor und trinkt sich einen ordentlichen Rausch an. So lässt sich die katholische Ordnung besser aushalten, die Ausnahme bestätigt aufs Schönste die Regel, und auch die Ordnung hat nichts dagegen, weil sie ja erst im Widerspruch zum Widerspruch zu dem wird, was sie ist, und an Aschermittwoch ist jedenfalls und sicherheitshalber alles vorbei.

Im evangelisch-heidnischen Berlin gibt es keinen Karneval, da muss jede*r selber zusehen, wie er mit seiner Vereinzelung zurecht kommt, und ich stehe stumm und unverkleidet vor meinem Bücherregal und halte ein Büchlein in den Händen, dessen Existenz ich schon ganz vergessen hatte: “Protest!” steht drauf, und: “Wie man die Mächtigen das Fürchten lehrt.” Geschrieben hat es Srdja Popovic, der serbische Aktivist und Mitgründer von OTPOR, der gewaltlosen Widerstandsgruppe, die mit humorvollen und spielerischen Methoden den Diktator und Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic stürzte und damit für die Demokratiebewegungen von Kairo bis Kiew zum Vorbild wurde. Provoziert die Machthaber, sich lächerlich zu machen, sich zu exponieren als die Wenigen, Dummen, Brutalen, so das Rezept, im Kontrast zu den Vielen, Coolen, Lustigen, also: euch! Das halten die nicht lange aus. “Mit Lachen zum Sieg” lautet eine Kapitelüberschrift. Das Buch ist von 2015, ein Dokument einer versunkenen Epoche. Heute herrscht in Belgrad wie in Kairo wieder bleiernster Autoritarismus-Aschermittwoch, von Aleppo ganz zu schweigen, in Hongkong macht niemand mehr einen Mucks, Teheran bereitet zur Stunde Massenhinrichtungen vor, und Kiew ist im Krieg.

Mit Humor und Karneval, so scheint es, haben die aktuellen Aktionen der “Letzten Generation” und entsprechender Organisationen in den europäischen Städten nicht viel zu tun. Der Spaß hat längst aufgehört, darin sind sich die Protestierenden und Markus Söder ausnahmsweise völlig einig. Einzelne sind es, die sich mit grimmiger Miene an Autobahnen und Gemälderahmen festkleben, während die Vielen, Coolen, Lustigen im Stau stehen und sich fragen, was das soll. Der Widerspruch derer, die da kleben, lässt sich nicht in Rausch und Gelächter auflösen, sondern steht da, mitten in unseren Städten, todernst und unversöhnlich. Er steht im Widerspruch zur Rechtsordnung, das ist der ganze Punkt, daraus bezieht ihr Protest ja seine Kraft. Er macht sich strafbar, bewusst und gezielt, lässt sich verhaften, in Gewahrsam nehmen, verurteilen. Das wissen die Protestierenden, das bestreiten sie gar nicht, das nehmen sie in Kauf. Das ist es, womit die Rechtsordnung ganz fundamental nicht zurecht kommt.

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Referent für Recht und Politik (m/w/d) gesucht

Die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. sucht zum 01.03.2023 für den Standort Berlin einen Referent für Recht und Politik (m/w/d). Voraussetzung ist ein abgeschlossenes wissenschaftliches Hochschulstudium im Bereich der Rechts- oder Politikwissenschaft (Volljuristinnen und -juristen bevorzugt).

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Die Versuchung ist groß, den Widerspruch in die eine oder, je nach politischer Präferenz, in die andere Richtung aufzulösen. Kann man das nicht doch rechtfertigen, fragen die einen, kann man das nicht in Ordnung bringen? Ziviler Ungehorsam? Grundrecht auf Versammlungsfreiheit? Rechtfertigender Notstand? Das scheint nicht leicht zu gehen, ohne dem Strafrecht und letztlich auch dem Sachverhalt – Rechtsbruch als Protestform – Gewalt anzutun. Die anderen suchen den Ausweg im um so schärferen Widerspruch gegen den Widerspruch: Schwerere Strafen müssen her, “Strafen, die wirksam sind” (Söder), i.e. den Widerspruch so teuer machen, dass er verschwindet. Ob und zu welchem Preis eine solche Eskalation überhaupt erfolgreich sein kann, kann aber keiner sagen.

So bleibt er also stehen, der Widerspruch, und treibt die Bewahrer der Ordnung schier in den Wahnsinn. Wo kommen wir denn da hin? Ist das nicht irgendwie verfassungsfeindlich? CSU-Landesgruppenchef Dobrindt wähnt in den Protestierenden eine entstehende “Klima-RAF” zu erkennen. In Spanien und UK werden berichtende Journalist*innen am Ort des Protests gleich mitverhaftet, als sei ihr Beitrag, dem Protest zu öffentlicher Sichtbarkeit zu verhelfen, schon gefährlich. Den Verdacht, es sei nicht nur rechtlich, sondern auch demokratisch anrüchig, was die Protestierenden da treiben, findet man auch in der deutschen konservativen Presse. Das Recht, das ihr euch zu brechen herausnehmt, so wird die “Letzte Generation” belehrt, besteht aus “demokratisch gesetzte[n] Regeln in einer freien Ordnung, in der gerade heute jeder alle Möglichkeiten hat, ebenso friedlich wie intensiv seine Forderungen geltend zu machen“. Wenn euch der Klimaschutz nicht schnell genug geht, dann versucht halt eine Mehrheit davon zu überzeugen, die Regeln entsprechend zu ändern. Dafür sind wir doch eine Demokratie.

Was aber, wenn es tatsächlich ein Demokratieproblem ist, auf das dieser Widerspruch zeigt? Jede Stimme zählt gleich in einer Demokratie. Aber der Klimawandel betrifft nicht alle gleich. Um ihn abzuwenden, muss zu einem Zeitpunkt gehandelt werden, wo die Mehrheit noch aus ganz anderen Menschen besteht als zu dem Zeitpunkt seines Eintretens. Ich bin 52 und habe mich – nicht untypisch für meine Generation, wie mir scheint – die längste Zeit meines Lebens daran orientiert, bei den Vielen, Coolen, Lustigen dabei zu sein. Ich ertappe mich regelmäßig bei dem Gedanken: 2050, da bin ich 80. Puh, wie gut, dass das dann alles nicht mehr mein Problem ist. Kann ich es da meinen Kindern als undemokratisch verübeln, wenn sie sich von meinesgleichen nicht länger majorisieren lassen wollen?

Mehrheitsentscheid ist ein Verfahren, kein Argument. Mehrheit rechtfertigt nichts. Was die Mehrheit für die Minderheit mitbeschließt, muss sie ihr gegenüber rechtfertigen können, sonst ist es Gewalt. Und rechtfertigen, warum sie der aktuellen Minderheit der Jungen die Hölle zumutet, die nach gesicherter wissenschaftlicher Einschätzung spätestens ab 2050 auf sie zukommen wird, das kann die aktuelle Mehrheit der Alten nicht. Das ist es, was der Widerspruch zu den “demokratisch gesetzten Regeln in einer freien Ordnung”, in den sich die Klima-Aktivist*innen setzen, sichtbar macht. Dafür lassen die sich bestrafen. Mein Respekt ist das Mindeste, was ich ihnen dafür schuldig bin.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:

FYNN WENGLARCZYK zeigt, welches Strafrechtsverständnis die Diskussion über Strafverschärfungen für Klima-Aktivist*innen offenbart und welche Gefahren damit einhergehen.

Die sogenannten NSU-Akten sind geleakt. SOO MIN KIM schaut sich an, welche Verfassungsschutzaufgaben im Umgang mit dem „NSU“ verletzt wurden.

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»Recht im Kontext« und das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht laden ein zum Rechtsgespräch mit Armin von Bogdandy (Heidelberg) über „Entstehung und Demokratisierung der europäischen Gesellschaft“ (21. November, 19:00-21:00, Humboldt-Universität zu Berlin). Jetzt anmelden und dabei sein.

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Die Bundesregierung plant, im Asylverfahren das Bundesverwaltungsgericht sog. Länderleitentscheidungen treffen zu lassen. VALENTIN FENEBERG & PAUL PETTERSSON kommentieren den Gesetzesentwurf.

Die ‘Lageberichte’ des Auswärtigen Amtes sind ein wichtiges Erkenntnismittel im Asylverfahren, werden aber unter Verschluss gehalten. VIVIAN KUBE & HANNAH VOS fordern, die Lageberichte öffentlich zugänglich zu machen.

KATHARINA LEUSCH legt dar, inwieweit das österreichische Gesetz zur Regelung parteinaher Stiftungen ein Vorbild für den deutschen Gesetzgeber sein könnte.

Die FDP will “verlässliche Infrastruktur” als Staatsziel ins Grundgesetz aufnehmen. Was davon zu halten ist, erklären PHILIPP SCHÖNBERGER & MARIE BOHLMANN.

Die Evangelische Kirche in Deutschland plant die für Grundlagenfragen zuständigen Kammern durch ein sogenanntes “Kammer-Netzwerk” abzuschaffen. HINNERK WIßMANN kritisiert den Vorgang.

Das Bundesverfassungsgericht hält die Regeln zur nachrichtendienstlichen Datenübermittlung an Strafverfolgungsbehörden für verfassungswidrig – und verheddere sich dabei in einer überkomplexen Dogmatik, so KAROLINE MARIA LINZBACH.

Nach dem jüngsten EuGH-Urteil zur Vorratsdatenspeicherung streitet auch die Bundesregierung wieder über das Thema. SOFIANE BENAMOR geht vor diesem Hintergrund der Frage nach der Konstitutionalisierung sicherheitspolitischer Debattenräume nach.

Wem in den USA lebenslang ohne Aussicht auf Bewährung droht, durfte bislang nicht ausgeliefert werden. Jetzt hat der EGMR seine Rechtsprechung dazu geändert. MARTEN BREUER erklärt, was dahinter steckt.

Für Julian Assange ist der Rechtsweg in Großbritannien bald erschöpft. HENNING GOEKE beleuchtet, welche Folgen eine Anrufung des EGMR im Fall Assange haben könnte, jetzt auch auf Englisch.

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Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht lädt ein zum MPIL Momentum Buchgespräch „Eine unvollendete Transformation: Zum Verfahrens- und Organisationsrecht des EuGH“ am 21.11., 12:30-14:30 in der BBAW.

Christoph Krenn (MPIL) spricht mit Thomas Henze (EuGH), Ulrich Karpenstein (Redeker Sellner Dahs) und Christoph Möllers (HU Berlin) über sein Buch „The Procedural and Organisational Law of the European Court of Justice. An Incomplete Transformation“ (CUP, 2022).

Weitere Informationen finden Sie hier.

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Folgt der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwalts Sánchez-Bordona zur Entschädigung bei Datenschutzverstößen, wird dies die DSGVO selbst untergraben. ALEXIA PATO kommentiert die Schlussanträge.

Der Rat wird bald über den Vorschlag der Kommission abstimmen, Ungarn die EU-Haushaltsmittel zu entziehen. PHILIPP LEITNER & JULIA ZÖCHLING argumentieren, dass die Mitgliedstaaten im Rat nicht mitstimmen können sollten, wenn es um ihr eigenes angebliches Fehlverhalten geht.

MICAELA MUSACCHIO STRIGONE berichtet über das illiberale “Anti-Rave-Gesetz” der neuen italienischen Regierung und die Gefahr für die Versammlungsfreiheit, die darin steckt.

BERNHARD WEGENER erläutert aus Anlass der Midterm Elections, warum eine Änderung der US-Verfassung trotz dringendem Reformbedarf nicht zu erwarten ist und warum diese Verfassungsversteinerung auch der EU eine Warnung sein sollte.

Auf Elon Musks Ankündigung eines “Content Moderation Council” für Twitter meldete sich Metas Oversight Board freiwillig. LORENZO GRADONI analysiert Musks Optionen und die mögliche Zukunft des Boards als globale Institution.

EMILIO PELUSO NEDER MEYER fasst die aktuelle Situation in Brasilien zusammen, vom Wahlkampf über den Bolsonarismus bis hin zu dem, was jetzt zu tun und worauf zu hoffen ist.

Der Oberste Gerichtshof Indiens hat sein Verbot des so genannten “Zwei-Finger-Tests” bei Überlebenden sexueller Gewalt bestätigt. JANNANI M  erörtert die Auswirkungen des Urteils.

Unsere Blog-Debatte zur Umsetzung des DSA in die Praxis: Durchsetzung, Zugang zum Recht und globale Auswirkungen geht weiter mit Texten von PIETRO ORTOLANI, DAPHNE KELLER, SEBASTIAN BECKER CASTELLARO & JAN PENFRAT, ALEXANDRA GEESE und MARTIN HUSOVEC.

Unser RuleOfLaw-Podcast mit dem Anwaltverein ist zurück: Wir konzentrieren uns auf Angriffe auf Anwält*innen und ihre Arbeit im Kontext des demokratischen Rückschritts. In der ersten Folge spricht LENNART KOKOTT mit MIKOŁAJ PIETRZAK über die düstere Lage in Polen.

So viel für diesmal. Ihnen alles Gute und bis nächste Woche!

Ihr

Max Steinbeis


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Nicht in Ordnung, VerfBlog, 2022/11/11, https://verfassungsblog.de/nicht-in-ordnung/, DOI: 10.17176/20221112-095538-0.

4 Comments

  1. Christian Mai Sat 12 Nov 2022 at 06:50 - Reply

    Die gemäßigte Epistokratie wird mir immer symphatischer.

  2. hcg Mon 14 Nov 2022 at 22:16 - Reply

    Ein sehr empfehlenswerter Text zum Thema ziviler Ungehorsam stammt von Ronald Dworkin, Ethik und Pragmatik des zivilen Ungehorsams (1983). Danach kann es sich im Fall der Klimakleber:innen um zivilen Ungehorsam handeln, wenn – wie von Ihnen beschrieben – die jetzige alte Mehrheitsgesellschaft die Rechte der jungen Minderheit missachtet, um sich einen eigenen Vorteil zu verschaffen. Über die finale Beurteilung sagt dies erstmal noch nichts aus, da Klimakleberei keinesfalls auf Überzeugung der Mehrheit ausgelegt ist. Es eröffnet aber die Debatte über zivilen Ungehorsam und schließt ein spontanes Abtun der Protestform als illegitim aus.

  3. Kristofer Bott Tue 15 Nov 2022 at 15:35 - Reply

    Die Rechtsordnung ist ein Kompromiss. Sie lässt manches zu, was besser unzulässig wäre, und das dann – deshalb und prinzipiell – änderbar zu halten, legitimiert sie gerade. Allerdings ist der Einfluß auf das, was grade eben Recht ist und wie es dazu kommt, trotz allgemeinen etc. Wahlrechts ziemlich unterschiedlich verteilt. Das ist beim Klimathema besonders offensichtlich. Nicht alle Gewalt ist ziviler Ungehorsam gegenüber dem Recht, und man möchte hier keine – oder vielleicht doch, aber was hilft’s? – Bilanz von Toten und Verletzten links und rechts anstellen. Aber die Letzte Generation tut ihrem Thema keinen Gefallen – das wäre aber dringend nötig -, nicht zuletzt, weil die erzeugte Emotion schnurstracks auch gegen die berechtigten, argumentativ vorgetragenen Anliegen gewendet wird. Die einen schreien laut, weil ein wunder Punkt getroffen ist, die eigene, beschämende Lethargie, die anderen, weil sie mindestens eine Chance sehen, sie zu rechtfertigen. Ankleben ist eine Aktion, aber keine Lösung.

  4. Florian S. Mon 5 Dec 2022 at 15:24 - Reply

    Der Protest der Klimakleber zeigt die Grenzen der Demokratie für junge Leute auf. Diese werden oft in gesellschaftlichen Diskussionen nicht angehört oder ihre Meinung abgetan, weil sie zu jung, naiv und/oder unerfahren sind. Auch werden ihre Interessen nur selten von der Politik umgesetzt, da sie zu wenige Wählerstimmen bringen. Die wenige Unterstützung für Studenten und Azubis während der Pandemie und der jetzigen Energiekrise zeigen das auf.
    Um also gehört zu werden müssen die Möglichkeiten für junge Menschen erweitert werden. Und um die Grenzen zu erweitern, müssen sie manchmal gesprengt werden. Man sollte sich von den Aktionen jedoch auch nicht erpressen lassen. Wenn man allerdings anfängt junge Menschen ernsthaft in Diskussionen mit einzubeziehen und bereit ist, Impulse von ihnen anzunehmen und diese nicht einfach abzutun, bin ich sicher, dass es solche extremen Aktionen wie von der letzten Generation nicht braucht.

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