09 December 2022

Die rote Karte

Noch ist nichts passiert. Noch ist die künftige rechte Regierungskoalition in Israel nicht fertig ausverhandelt. Noch haben die Abrissarbeiten an Demokratie und Rechtsstaat nicht mit voller Wucht begonnen. Noch ist kein Gesetz in Kraft, das der Mehrheit den einzigen Kontrolleur und das letzte potenzielle Hindernis vom Hals schafft, das es gibt in diesem Staat ohne Verfassung, ohne zweite Kammer, ohne andere Staatsorgane mit eigener demokratischer Legitimation, nämlich die unabhängige Justiz. Noch sind die in den besetzten Gebieten lebenden Menschen nicht der Macht des rechtsextremen Gewalttäters Bezalel Smotrich ausgeliefert, der als künftiger Finanzminister anstelle des Militärs für die Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten verantwortlich sein soll. Noch ist der rechtsextreme Gewalttäter Itamar Ben Gvir nicht Minister für Nationale Sicherheit und damit Herr über Polizei und Grenztruppen. Noch ist der verurteilte Steuerbetrüger Arieh Deri nicht Gesundheits- und Innenminister, der als Straftäter eigentlich gar kein Regierungsamt übernehmen darf – einer der Gründe, weshalb die neue Regierung die unabhängige Justiz eliminieren will.

Aber es ist wohl nur noch eine Frage von Tagen.

Ich war in dieser Woche bei einer Veranstaltung in Berlin mit Vertreter*innen von Rechts- und Politikwissenschaft, Thinktanks, Politik und Wirtschaft aus Deutschland und Israel. Zu Beginn wurden die Teilnehmer, jüdische und nicht jüdische Deutsche und Israelis, gebeten, mittels grüner, gelber oder roter Kärtchen zu signalisieren, wie besorgt sie sind um die Demokratie in Israel. Es waren vor allem viele israelische Teilnehmer, die die rote Karte hoben, und zwar mitnichten nur linke Menschenrechtsaktivist*innen. Die Macht über die Staatsgewalt und über die Verfassung, so ihre Botschaft, sei im Begriff, in die Hände einer Truppe von Kriminellen und Theokraten gelegt zu werden, die rechtliche Fesseln ihrer Macht nicht akzeptieren, sondern sprengen wollen und werden.

Aber das sei doch übertrieben, wandte ein deutscher Teilnehmer ein. Es habe halt eine Wahl stattgefunden, und bei Wahlen gehe es um Politik: Sicherheitspolitik, Wirtschaftspolitik. Der größte Koalitionspartner sei Likud, und das sei doch keine totalitäre Partei, zumal deren Anhänger mit der Koalition ja vielfach auch sehr unglücklich seien.

Die Israelis widersprachen. Wirtschaftspolitik habe bei der Wahl so gut wie keine Rolle gespielt. Es sei eine Wahl für oder gegen Bibi Netanyahu gewesen. Likud sei ein Werkzeug der Interessen Netanyahus, allen voran das Interesse, nicht wie sein Vorgänger Ehud Olmert wegen seiner Korruption ins Gefängnis zu müssen. Likud sei daher auch keineswegs notwendig ein moderierender Faktor in dieser Regierung – jedenfalls nicht, was die Verfassungspolitik betrifft. Die Neutralisierung der Justiz und des Obersten Gerichtshofs sei ein Ziel, auf das sich Likud und seine theokratischen Juniorpartner prima verständigen können. Und da es in Israel keine dem Zugriff der Regierungsmehrheit entzogene Verfassung samt Grund- und Minderheitenrechten gibt, sei der Oberste Gerichtshof der einzige (ohnehin oft verzweifelt unzulängliche) Schutz, den Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte in Israel besitzen.

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Der Eindruck, den ich aus dieser Veranstaltung empfangen habe, steht in eigenartigem Kontrast zu der milden Complacency, mit der sich nach meinem Eindruck der Großteil der deutschen Öffentlichkeit mit der Regierungsbildung in Israel beschäftigt. “Bibi und die rechte Rasselbande”, verniedlichte etwa der Israel-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung jüngst den Vorgang dieser Regierungsbildung, ohne deren verfassungspolitischer Dimension mit mehr als einem dürren Nebensatz zu streifen. Auf der einen Seite Netanyahus Gegner, die sagen, es wird alles ganz schlimm. Auf der anderen Seite Netanyahu selbst, der sagt, es ist alles in Ordnung. So kann die deutsche Zeitungsleser*in es sich wie gewohnt im Juste Milieu gemütlich machen, wo sie sich ja schon im Fall Ungarns und im Fall Polens lange so pudelwohl gefühlt hat und vielfach immer noch fühlt: Och, dann warten wir doch am besten erst mal ab, ob das am Ende alles wirklich so heiß gegessen werden muss, wie es jetzt gekocht wird.

Mit dem Abwarten ist es aber bei Verfassungspolitik – wie bei der Klimapolitik – so eine Sache. Sind die Wirkungen einmal eingetreten, dann ist es zu spät. Sind die verfassungsrechtlichen Bindungen einmal gesprengt, die Justiz mit willfährigen Befehlsempfängern durchsetzt, der Oberste Gerichtshof seiner Kontrollfunktion beraubt, dann hat man sich von dort auch keine Rettung mehr zu erwarten. Abwarten heißt auch Position beziehen. Man kann sich höchstens noch ein bisschen länger Illusionen machen, wofür oder wogegen.

Der deutschen Öffentlichkeit ist es völlig zu Recht und gottseidank sehr wichtig, sich auf keinen Fall gegen den jüdischen Staat zu positionieren. Aber was heißt das, wenn der jüdische Staat nicht länger demokratisch ist? Wessen Staat ist ein Staat überhaupt, in dem es kein unabhängiges Gericht und überhaupt niemanden mehr gibt, der die Regierung noch daran hindern könnte, Minderheiten, Opposition, politische Vielfalt und demokratischen Wettbewerb mit Gewalt zu unterdrücken? Was heißt jüdischer Staat, wenn dieser Millionen von Jüd*innen auf der Welt sein Schutzversprechen entzieht, weil die Art, wie sie ihre Religion praktizieren, den Theokraten nicht orthodox genug erscheint? Was heißt jüdischer Staat, wenn aus der völkerrechtswidrigen Besatzung eine De-Facto-Annektion geworden sein wird, ein “Smotrichstan” der völligen Entrechtung und Schutzlosigkeit der palästinensischen Bevölkerung gegenüber der Gewalt der Siedler? Was heißt es dann, für den jüdischen Staat zu sein? Wem genau soll die Solidarität der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Gesellschaft dann gelten?

Gemessen daran, wie lange und intensiv und mit welchem regierungsamtlichen Aufwand wir in Deutschland über Israelkritik und Antisemitismus und die Grenze zwischen beidem diskutieren, sind wir auf diese Fragen, so scheint mir, verzweifelt schlecht vorbereitet.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass das Ratifizierungsgesetz des auf Grundlage des „Next Generation EU“ Aufbauinstruments gefassten Eigenmittelbeschlusses verfassungskonform ist. MATTHIAS RUFFERT kommentiert das Urteil. Für THU NGUYEN und MARTIJN VAN DEN BRINK sendet die Entscheidung widersprüchliche Signale und wirft die Frage auf, warum Karlsruhe den Fall nicht in Luxemburg vorgelegt hat.

Die Bundesregierung diskutiert aktuell Reformpläne zur Einbürgerung. Unter anderem CDU und FDP befürchten, dass ein erleichtertes Erlangen der deutschen Staatsbürger*innenschaft deren Wert mindern würde. SAMUEL D. SCHMID zeigt, dass diese und weitere Befürchtungen aber unbegründet sind. SINA FONTANA fordert, dass die rechtspolitischen Debatten zur Einbürgerung vor allem an der staatlichen Integrationsverantwortung ansetzen. Und MARIA MARTHA GERDES erklärt, warum die Einbürgerungsrechtsreform nur mit einer zusätzlichen Ausbürgerungsrechtsreform funktioniert.

Der EuGH hat entschieden, dass Informationen über wirtschaftlich Berechtigte von Unternehmen nicht der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden dürfen. TRISTAN RADTKE zeigt, warum das aber keinen kompletten Transparenzverlust bedeutet.

Am 30. November hat die Europäische Kommission empfohlen, einen großen Teil der EU-Mittel für Ungarn in zwei Verfahren einzufrieren. KATI CSERES argumentiert, dass die Kommission eine umfassende und effektive Rolle der ungarischen Wettbewerbsbehörde beim Schutz des EU-Haushalts hätte fordern müssen. THU NGUYEN entwirrt die beiden Verfahren in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht und zeigt auf, warum sie derzeit in einem politischen Schwebezustand stecken, in dem Brüssel droht, Gelder zurückzuhalten, und Orbán droht, von seinem Vetorecht Gebrauch zu machen.

Der EGMR hat festgestellt, dass das ungarische Parlamentswahlsystem gegen die Menschenrechte von Minderheitenwählern verstößt. In ihrer Analyse untersucht ANNA UNGER die rechtswidrige Situation und die notwendigen Maßnahmen, die sich aus dem Urteil ergeben.

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Vom 16. bis 17. Juni 2023 findet an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg die 2. Jahrestagung des Forums ‚Junges Nachhaltigkeitsrecht‘ (JNR) statt. Im Zentrum steht das Thema „Nachhaltigkeit im Wandel: Rechtliche Perspektiven aus Theorie und Praxis”. Interessierte Nachwuchswissenschaftler*innen sind herzlich eingeladen, bis zum 1. Februar 2023 Abstracts einzusenden. Der Call for Papers steht hier bereit.

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Der Entzug der Sendelizenz für einen unabhängigen russischen Fernsehsender durch Lettland wirft Fragen zum EU-Medien- und Internetrecht auf. VALENTINA GOLUNOVA zeigt, dass das EU-Recht machtlos ist, wenn es mit möglicherweise ungerechtfertigten nationalen Einschränkungen der Medien- und Meinungsfreiheit konfrontiert wird.

In einem Fall schwerer Menschenrechtsverletzungen gegen die Hausangestellte eines Diplomaten hat der UK Supreme Court einen spitzfindigen Weg um die diplomatische Immunität herum eingeschlagen. HANNES WEIGL diskutiert das Urteil und zeigt, welcher Ausweg aus dem diplomatischen Dilemma im deutschen Recht denkbar wäre.

Der jüngste Versuch der indischen Regierung, einen umfassenden Rahmen für Datenschutz und -regulierung zu schaffen, ist der Entwurf des Gesetzes zum Schutz digitaler personenbezogener Daten. SHREYAS SINHA analysiert den Gesetzentwurf aus verfassungsrechtlicher Sicht und sieht darin eine Machtanmaßung der Regierung.

Das neue indonesische Strafgesetzbuch stellt außerehelichen Sex und außereheliches Zusammenleben unter Strafe. IGNATIUS YORDAN NUGRAHA erläutert den Hintergrund dieser Bestimmungen und analysiert, was sie für Indonesien bedeuten.

MING-SUNG KUO befasst sich mit zwei Missverständnissen, die für Taiwans erfolglose Verfassungsreform charakteristisch sind: die Verquickung von Legitimität und Konsens und die fehlende Unterscheidung zwischen der Entscheidungs- und der Bestätigungsfunktion von Referenden bei Verfassungsreformen.

Der Oberste Gerichtshof Neuseelands hat das gesetzlich festgelegte Mindestwahlalter von 18 Jahren als – ungerechtfertigt – unvereinbar mit dem Recht auf Diskriminierungsfreiheit erklärt. JOHN IP gibt einen Überblick über die Entscheidung und ihre möglichen Folgen.

Unsere Blog-Debatte über Restitution, Kolonialismus und die Gerichte geht weiter mit Beiträgen von JUDITH HACKMACK, EVELIEN CAMPFENS & ISABELLA BOZSA, NATALIA LOYOLA DAIQUI & SEBASTIAN-MANÈS SPRUTE & ISABELLE REIMANN & NAHED SAMOUR. SARAH IMANI & ANNE SCHROETER schließen die Debatte ab.

In der zweiten Staffel unseres RuleOfLaw-Podcasts mit dem Deutschen Anwaltverein konzentrieren wir uns auf Angriffe auf Anwälte und ihre Arbeit in Kontexten des demokratischen Rückschritts. In der dritten Folge spricht LENNART KOKOTT mit SHABNAM SALEHI über die Menschenrechtslage in Afghanistan und mit MATTHIAS LEHNERT über die Defizite des deutschen und europäischen Migrationsrechtssystems.

So viel für diesmal. Ihnen alles Gute und bis nächste Woche!

Ihr

Max Steinbeis


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Die rote Karte, VerfBlog, 2022/12/09, https://verfassungsblog.de/noch-nicht/, DOI: 10.17176/20221210-001618-0.

One Comment

  1. Gerald Tauber Sun 18 Dec 2022 at 10:18 - Reply

    Recht gute editors note zum Thema Israels neue Regierung und deren zu erwartende einebenung der Gewaltenteilung. Wobei dieser Schritt wohl nicht überraschend kommt. Seit Jahren wird an der Demontage der Gewaltenteilung gearbeitet und in Deutschland will keiner was gemerkt haben.

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