Parlamentsautonomie unter Willkürvorbehalt
Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Ausschussvorsitz
Mit dem Einzug der AfD-Fraktion in den Deutschen Bundestag hat die parlamentarische Praxis einen grundlegenden Wandel erfahren: Nicht nur der Ton der Debatten wird rauer, sondern auch die konsensuale Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen fällt immer schwerer. Besonders deutlich zeigt sich das anhand der Besetzung parlamentarischer Ämter und Gremien. Bislang wurde in keiner Wahlperiode ein Vizepräsident aus den Reihen der AfD-Fraktion gewählt; in der laufenden Wahlperiode gibt es zudem keinen AfD-Ausschussvorsitzenden. Das Bundesverfassungsgericht hat am vergangenen Mittwoch eine lang erwartete Grundsatzentscheidung getroffen (BVerfGE, Urt. v. 18.9.2024 – 2 BvE 1/20, 2 BvE 10/21): Die Abwahl Stephan Brandners in der 19. Wahlperiode sowie die Nichtwahl von AfD-Abgeordneten zum Ausschussvorsitz bewegte sich im Rahmen der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestags. Mit der Entscheidung gibt das Gericht die Leitplanken vor, innerhalb derer sich der Bundestag künftig im Umgang mit Oppositionsfraktionen bewegen muss.
Offenheit des Grundgesetzes für den Wandel parlamentarischer Praxis
Seit dem Zusammentritt des 1. Deutschen Bundestags 1949 war es gängige Praxis, dass alle Fraktionen an der Besetzung der Ausschussvorsitze entsprechend ihres Stärkeverhältnisses im Plenum beteiligt wurden. Man einigte sich zunächst im Ältestenrat über die Verteilung der Ausschussvorsitze zwischen den Fraktionen. Anschließend wurden die Kandidaten der Fraktionen für die ihnen zustehenden Ausschussvorsitze eingesetzt, ohne dass hierfür eine Aussprache oder Wahl durchgeführt wurde.1) Geschäftsordnungsrechtlich verankert ist diese parlamentarische Gepflogenheit in §§ 12, 58 GOBT: Nach § 12 Satz 1 GOBT erfolgt die „Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen (…) im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen“. Anschließend „bestimmen“ die Ausschüsse gem. § 58 GOBT ihre Vorsitzenden nach den Vereinbarungen im Ältestenrat. Mit dem Einzug der AfD erfuhr dieser parlamentarische Brauch jedoch schlagartig einen Wandel: Die Abwahl eines Ausschussvorsitzenden im Bundestag stellte ein Novum dar, und die generelle Nichtwahl der Kandidaten einer Oppositionsfraktion in der laufenden Legislaturperiode brach mit der altbewährten Tradition, die Ausschussvorsitze proportional mit Vertretern aller Fraktionen zu besetzen.
Dass sich die Verfassung einem solchen Wandel parlamentarischer Gepflogenheiten nicht entgegenstellt, sondern ein solcher Wandel als Ausfluss der Parlamentsautonomie durch das Grundgesetz gerade ermöglicht wird, ist eine der Kernaussagen der Entscheidung vom Mittwoch. Die Autonomie ist allerdings nicht unbegrenzt, sondern muss sich innerhalb eines verfassungsrechtlichen Rahmens bewegen. Für die Bildung dieses Rahmens kommen drei verschiedene Grundsätze in Betracht, deren Inhalt und Reichweite das Gericht in seiner Entscheidung weiter konturiert hat: der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit, der Grundsatz der fairen und loyalen Auslegung und Anwendung der Geschäftsordnung und zuletzt der Grundsatz effektiver Opposition. Keinen dieser Grundsätze sah das Gericht durch die Abwahl bzw. Nichtwahl verletzt.
Recht auf effektive Opposition: Kein Opponieren aus dem Amt des Vorsitzenden
Eine Verletzung des Grundsatzes effektiver Opposition schien im Lichte des bisherigen Verständnisses des BVerfG – keine Institutionalisierung von Oppositionsrechten! – beinahe ausgeschlossen. Der Grundsatz fand in den Ausführungen des Zweiten Senats zu den verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht einmal Erwähnung. Dessen Verletzung lehnte er schließlich mit der knappen Begründung ab, dass es diesbezüglich an einer substantiierten Darlegung der Antragstellerin fehle (Rn. 82 ff.). Aus verfassungsrechtlicher Perspektive leuchtet das ein, außerrechtlich stellt sich aber durchaus die Frage nach den politischen Implikationen der Entscheidung für eine effektive Oppositionsarbeit im Bundestag: Eine große Oppositionsfraktion wird faktisch von der Besetzung parlamentarischer Ämter ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund drängt sich der Eindruck auf, dass die sehr ausführlichen Funktionsbeschreibungen des Gerichts bezüglich des Ausschussvorsitzenden – dieser sei ein rein organisatorisches, neutrales Leitungsamt ohne sachliche Entscheidungs- oder Oppositionsbefugnisse (Rn. 3 ff.) – dem Eindruck entgegenwirken sollten, dass der Zweite Senat durch die Entscheidung die tatsächlichen Möglichkeiten effektiver Oppositionsarbeit im Bundestag verkürzt.
Grundsatz der Spiegelbildlichkeit: Der Vorsitz spiegelt nicht das Plenum wider
Auch eine Verletzung des Spiegelbildlichkeitsgrundsatzes negierte das Gericht. Spiegelbildlichkeit heißt: Das Recht aller Fraktionen auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung verlangt die Sicherstellung jener Mitwirkung nicht nur im Plenum, sondern auch in dessen Untergliederungen (Rn. 95). Daher muss etwa die Zusammensetzung des Ausschusses ein Abbild der Zusammensetzung des Plenums sein. Das Gericht stellte nunmehr klar, dass sich dieser Gedanke nicht auf das Amt des Ausschussvorsitzenden übertragen lasse: Jenes Amt sei nämlich – anders als beim Ausschuss insgesamt – gerade nicht ein Gremium, das die parlamentarische Willensbildung vorformt, sondern nur ein Leitungsamt „rein organisatorischer Art“ (Rn. 106). Anders gesagt: Der Spiegelbildlichkeitsgrundsatz erfordert keine spiegelbildliche Besetzung des Vorsitzes, da das Amt des Vorsitzenden nicht der politischen Willensbildung dient.
Faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung: Vertretbare Handhabe durch den Bundestag
Komplexer erschien die Frage nach der Verletzung des Grundsatzes der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung. Der Grundsatz ist zwar keineswegs neu, sondern wurde bereits 1952 vom BVerfG erwähnt (Urt. v. 6.3.1952 – Az. 2 BvE 1/51, BVerfGE 1, 144, 149); das Gericht trug aber mit dieser Entscheidung ganz wesentlich zu dessen Operationalisierung bei. Bereits in der mündlichen Verhandlung deutete sich an, dass der Zweite Senat grundlegend über Inhalt und Reichweite der Abgeordnetenrechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nachgedacht hat und den Gehalt der Norm weiter konkretisieren wollte. Dies spiegelt sich auch in den Leitsätzen der Entscheidung wider, die nicht etwa mit Ausführungen zur Geschäftsordnungsautonomie beginnen, sondern eine grundlegende Differenzierung zwischen Statusrechten und Gleichbehandlungsrechten von Abgeordneten und ihrer Zusammenschlüsse vornehmen: Unterschieden wird auf einer ersten Stufe zwischen „spezifischen Statusrechten der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG“, etwa dem Recht zur Teilnahme an Sitzungen, Rede- oder Stimmrechten, und Gleichbehandlungsansprüchen der Abgeordneten und damit auch Fraktionen „jenseits der spezifischen Statusrechte“, die sich aus dem Grundsatz der formalen Gleichheit der Abgeordneten bzw. Fraktionen ergeben (Rn. 98). Seinen Ausdruck findet letztgenanntes Prinzip wiederum in dem „Grundsatz der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung“ (Rn. 89 ff.). An die Beeinträchtigung dieser spezifischen und nicht-spezifischen Rechte der Abgeordneten stellt das Gericht dann auf einer zweiten Stufe unterschiedliche Rechtfertigungsanforderungen: Spezifische Statusrechte unterliegen „besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen; sie müssen dem Schutz anderer Rechtsgüter von Verfassungsrang dienen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren“ (Ls. 3, Rn. 102.). Anders verhält es sich hingegen bei den nicht-spezifischen Statusrechten: Wenn ein Recht der Fraktionen berührt ist, das nicht unmittelbar aus Art. 38 GG folgt, sondern erst aus der Geschäftsordnung – hier möglicherweise das Recht auf Besetzung des Ausschussvorsitzes –, „findet eine verfassungsgerichtliche Überprüfung lediglich dahingehend statt, ob die einschlägigen Bestimmungen der Geschäftsordnung oder ihre Auslegung und Anwendung jedenfalls nicht evident sachwidrig und damit willkürlich sind.“ ( Ls. 4, Rn. 103).
Sowohl die Abwahl Stephan Brandners als auch die Nichtwahl von AfD-Abgeordneten als Ausschussvorsitzende in der laufenden Legislaturperiode hielten dieser Willkürkontrolle des Verfassungsgerichts stand.
Die Nichtwahl von AfD-Abgeordneten als zulässige freie Wahl
Ausgangspunkt für den Streit um die Zulässigkeit einer freien Wahl zur Besetzung des Vorsitzes ist die mehrdeutige Formulierung des § 58 GOBT – sie spricht von einem „Bestimmen“ des Vorsitzes, was sowohl eine bloße Akklamation als auch eine freie Wahl meinen kann. Die Auslegung des Bundestags, dass dieser weite Wortlaut eine freie Wahl zulässt, hält das Gericht für vertretbar. Dafür spreche u.a. die Systematik der GOBT, die in § 57 Abs. 2 S. 1 GOBT ausdrücklich ein Benennungsrecht der Fraktionen bei der Besetzung der Ausschüsse vorsieht, während das in § 58 GOBT gerade nicht der Fall ist (Rn. 111 f.). Für die Zulässigkeit einer freien Wahl spreche zudem der Zweck des § 58 GOBT, die Arbeits- und Funktionsfähigkeit der Ausschüsse zu sichern. Denn ohne die Möglichkeit der freien Wahl könnte dem Ausschuss ein Vorsitzender aufgedrängt werden, der nicht das Vertrauen der Ausschussmehrheit genießt und damit die effiziente Ausschussarbeit hemmt (Rn. 113.). Das Gericht tritt damit dezidiert Forderungen entgegen, an die Wahl bzw. Nichtwahl von Vorsitzenden bestimmte materielle Voraussetzungen oder Begründungserfordernisse zu knüpfen2) – Wahl bedeutet nun einmal Freiheit der Wahl, andernfalls verlöre sie ihren legitimatorischen Mehrwert (Rn. 116). Das Ergebnis überzeugt, Gegenteiliges wäre wohl auch kaum mit dem freien Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) der abstimmenden Ausschussmitglieder vereinbar gewesen.
Abwahl als zulässiger actus contrarius zur Wahl
In der Abwahl Stephan Brandners sieht das Gericht keine unfaire und illoyale Anwendung und Auslegung der Geschäftsordnung. Die in der Literatur durchaus umstrittene Frage, ob eine solche nach der GOBT überhaupt zulässig sein kann3) – immerhin ist sie dort nirgends ausdrücklich normiert – bejahte das Gericht. Entscheidend für eine faire und loyale Auslegung der Geschäftsordnung sei nämlich allein, dass das Auslegungsergebnis des Deutschen Bundestags „jedenfalls vertretbar“ ist. Da sich der Bundestag hier nicht nur auf die eingeholte Auffassung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung4) berufen konnte, sondern eine Abwahlmöglichkeit auch in Übereinstimmung mit dem parlamentsrechtlichen Schrifttum annahm, schien dem Gericht diese Auslegung der Geschäftsordnung jedenfalls vertretbar (Rn. 122 f.). Namentlich überzeugte das Gericht die Begründung, dass die Abwahl als actus contrarius zur Wahl des Vorsitzes verstanden werden könne, dass das Mehrheitsprinzip und das Demokratieprinzip die Reversibilität demokratischer Entscheidungen gebieten und dass nicht zuletzt die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Ausschusses erheblich beeinträchtigt wäre, wenn er einen untauglichen Vorsitzenden nicht abwählen könnte (Rn. 123 f.).
Doch ist es nicht widersprüchlich, dass das Gericht einerseits die freie, ungebundene (Nicht-)Wahl von Ausschussvorsitzenden postuliert, die Abwahl selbiger Vorsitzender aber gerade nicht frei sein soll, sondern einer Missbrauchskontrolle unterliegt? Vieles spricht für eine Gleichbehandlung beider Wahlakte: In beiden Fällen ist das freie Mandat der abstimmenden Abgeordneten gleichermaßen beeinträchtigt. Und sieht man die Abwahl als actus contrarius zur anfänglichen Wahl, dann müsste für den actus contrarius auch dieselbe Wahlmodalität gelten: freie Abwahl.5) Ein möglicher Grund für die Differenzierung des Verfassungsgerichts, könnte darin bestehen, dass bei einer Nichtwahl eine Rechtsposition gewährt wird, wohingegen bei einer Abwahl eine bereits gewährte Rechtsposition entzogen wird.
Das Gericht sieht dann konkret keinen verfassungsrechtlichen Grund, die Abwahl Stephan Brandners zu beanstanden. Es prüft die Abwahl kurz und zurückhaltend.6) Wie bei der Kontrolle einer klassischen verwaltungsrechtlichen Maßnahme prüft es in formeller Hinsicht die Zuständigkeit des Rechtsausschusses, die Anhörung Brandners sowie das erforderliche Quorum für die Abwahl (Rn. 128 ff.); in materieller Hinsicht bringt das Gericht die genannte Missbrauchskontrolle in Stellung. Die Abwahl sei nicht willkürlich, da die Erwägungen für die Abwahl einen „sachlichen Zusammenhang zum Amt des Vorsitzes beziehungsweise zu der Befähigung des Vorsitzenden erkennen lassen, sein Amt in angemessener Weise auszuüben“. Es verweist dabei auf die öffentlichen Äußerungen Brandners, auf Grund derer die Ausschussmehrheit das Vertrauen in seine Person verloren habe und daher eine „gedeihliche und effektive Zusammenarbeit“ im Ausschuss nicht mehr möglich erschienen sei.
Langwierig und sorgfältig geführtes Verfahren
Interessant erscheint an der Entscheidung, wie sorgfältig und umfassend – die Abwahl Brandners fand immerhin bereits vor fünf Jahren statt – der Senat sich der parlamentarischen Praxis bezüglich der Besetzung der Ausschussvorsitze widmete: Einen Großteil der ganztägigen mündlichen Verhandlung nahm die Anhörung von sachkundigen Dritten und beteiligten Akteuren ein, welche die Nuancen und Eigenlogiken der Ausschussarbeit und die Rolle des Vorsitzenden konturierten. Im Urteil schlagen sich die Erkenntnisse der mündlichen Verhandlung insbesondere in der Missbrauchskontrolle der Abwahl Brandners nieder: In der Eilentscheidung wurde dessen Abwahl noch primär mit dessen Twitter-Beiträgen begründet (Beschl. v. 4.5.2020 – 2 BvE 1/20 -, Rn. 1-37 – eA.). Auch wenn sich anscheinend auf seinem Twitter-Profil ein Hinweis auf seine Tätigkeit als Ausschussvorsitzender fand, ist es zumindest nicht einfach, seine Abwahl damit zu rechtfertigen, da hier nur schwer der sachliche Zusammenhang zur Tätigkeit als Vorsitzender herzustellen ist (Rn. 19 ff.). In der mündlichen Verhandlung hingegen trug die Abgeordnete Rottmann zu Brandners nicht gemäßigtem Verhalten auf Veranstaltungen des Anwaltvereins vor, was in der Hauptsacheentscheidung maßgeblich zur Einschätzung der Vertretbarkeit der Abwahl beitrug (Rn. 18 ff., 130). Denn hier lässt sich ein sachlicher Zusammenhang zur Ausschussarbeit einfacher begründen: Der Ausschuss ist auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Interessenvertreter:innen wie dem Anwaltverein angewiesen, was Brandner durch sein Verhalten beeinträchtigte.
Rechtsdogmatische Konstruktion einer Missbrauchskontrolle
Dass das Gericht die Einschränkung von Rechten, die die GOBT verleiht, nur anhand des Willkürverbots prüft, ist vor dem Hintergrund der mündlichen Verhandlung keineswegs selbstverständlich. Vielmehr schien nach der Verhandlung eine deutlich engmaschigere Prüfung nicht ausgeschlossen. Denkbar wären etwa spezifische Anforderungen an die Gründe für eine Wahl bzw. Nichtwahl, z.B. ein „wichtiger“ Grund. Diskutiert wurde zudem, ob die Wahl bzw. Abwahl auch an ein bestimmtes Werteverständnis des Vorsitzenden, etwa über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, geknüpft werden dürfe. All dem folgte der Senat nicht.
Bemerkenswert an der Operationalisierung des Grundsatzes der fairen und loyalen Anwendung der Geschäftsordnung ist zudem, dass das Gericht mittels des Gedankens der Selbstbindung des Bundestags in den politischen Prozess eingreift. Ebenso wie sich eine Behörde durch die Auslegung und Anwendung einer Verwaltungsvorschrift über Art. 3 Abs. 1 GG selbst binden kann, kann sich auch der Bundestag durch seine bisherige Anwendung und Auslegung der Geschäftsordnung selbst binden. Dem Gedanken nach ähnelt dies der Figur der „Folgerichtigkeit“: Wenn der Geschäftsordnungsgeber ein „Leitungsmodell“ in §§ 12, 58 GOBT gewählt hat, wonach alle Fraktionen proportional bei der Besetzung der Ausschussvorsitze zu berücksichtigen sind,7) dann müsse er folgerichtig auch alle Fraktionen tatsächlich in gleichem Maße beteiligen. Für die Arbeitsfähigkeit Bundestags mag diese Selbstbindung zunächst sinnvoll sein: Die Organisation der politisch-parlamentarischen Entscheidungsfindung bedarf für alle Beteiligten in gewissem Umfang einer verlässlichen Grundstruktur, ansonsten sähen sich die Fraktionen einer nicht kalkulierbaren Arbeitsorganisation ausgesetzt, die die parlamentarische Arbeit im schlimmsten Fall obstruieren könnte. Umgekehrt stellt sich die Frage, ob derartige Selbstbindungswirkungen oder Erwägungen nicht auch den politischen Prozess hemmen können, und dieser deshalb anders als eine Behörde auch aus politisch opportunen Gründen seine Selbstorganisation und damit Geschäftsordnungspraxis wandeln können muss.
Zurückhaltung aus Karlsruhe – Spielraum für Parlamentsautonomie
Positiv hervorzuheben ist insbesondere, dass das BVerfG klargestellt hat, dass es dem Bundestag grundsätzlich freisteht, seine Praxis hinsichtlich der Besetzung der Vorsitze auch zu ändern – insbesondere, wenn wie hier die Besetzung durch Akklamation keine ausnahmslose Praxis darstellte.