13 October 2016

Spielstand nach dem CETA-Beschluss: 2:2, und Karlsruhe behält das letzte Wort

Dass die „größte Bürgerklage in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts“ ausgerechnet etwas so Technisches und Kompliziertes wie die vorläufige Anwendung eines Freihandelsabkommens betreffen würde, hätte bis vor wenigen Jahren niemand erwartet. Die beispiellose Politisierung einer breiten Öffentlichkeit durch die Debatten über TTIP, CETA und TISA erreichte schließlich auch den verfassungsrechtspolitischen „Hotspot“ in Karlsruhe, auf dessen Bühne nahezu alle großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen juristisch verhandelt werden. Natürlich ging es in den Verfassungsbeschwerdeverfahren und der Organklage gegen die Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat zum CETA und dessen vorläufiger Anwendung nicht um die politische Bewertung der Abkommen, wie Präsident Voßkuhle zu Beginn der mündlichen Verhandlung am 12. Oktober betonte. Gleichwohl traf das Gericht eine letztlich politische Abwägungsentscheidung, als es nur einen Tag später sein Urteil verkündete, mit dem die Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 32 BVerfGG abgewiesen wurden, wenn auch mit Auflagen. Am Ende sah man dennoch – oder gerade deswegen – zufriedene Gesichter auf beiden Seiten des Rechtsstreits, von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hält die Anträge in der Hauptsache weder von vornherein für unzulässig noch für offensichtlich unbegründet. Damit sind zwei wichtige Hürden genommen; im Hauptsacheverfahren wird das Bundesverfassungsgericht CETA noch intensiv an den Maßstäben des Grundgesetzes messen. 1:0 für die Antragsteller. Das Gericht hat ihre grundsätzliche Kritik an CETA nicht in Bausch und Bogen verdammt, sondern gesagt: „Da könnte was dran sein“.

Die anschließende spezifisch verfassungsprozessuale Folgenabwägung, die anders als im Verwaltungsprozess nicht auf die Erfolgsaussichten der Hauptsache abstellt, fällt jedoch zu Gunsten der Antragsgegner aus. Das Gericht prüft bei einstweiligen Anordnungen auf der Grundlage einer Doppelhypothese, ob die Folgen einer einstweiligen Anordnung bei sich später erweisender Verfassungskonformität der angegriffenen Maßnahmen schwerer wögen als die Folgen einer Ablehnung der einstweiligen Anordnung bei später festzustellender Verfassungswidrigkeit der Maßnahmen. Für diese Abwägung stellt das BVerfG zunächst – erwartbar und in Übereinstimmung mit ständiger Rechtsprechung – auf den weiten Gestaltungsspielraum der Bundesregierung in außenpolitischen Maßnahmen ab. Würde der Bundesregierung untersagt, CETA im Rat zuzustimmen, wäre die Verlässlichkeit Deutschlands und der EU in den Handelsbeziehungen erheblich eingeschränkt. Karlsruhe will – anders als der US-Senat („graveyard of treaties“) – nicht zum Friedhof völkerrechtlicher Verträge werden. Tor für die Antragsgegner: 1:1.

„Ja, aber…“

Der Zweite Senat wäre nicht der Zweite Senat, wenn er einem „Ja“, kein „Aber“ folgen ließ, wie von Walther Michl schon prognostiziert. Und auch diesmal werden der Bundesregierung drei Maßnahmen auferlegt, die deutlich machen, dass das Gericht von den Argumenten der Antragsteller nicht unbeeindruckt blieb. Insofern ein klarer Treffer, es steht 2:1. Die Vorgaben beziehen sich zunächst darauf, dass die vorläufige Anwendbarkeit nur Bereiche umfassen soll, die unstreitig EU-Kompetenzen betreffen. Bereits im Spätsommer war die EU-Kommission mehr aus taktischen Gründen denn aus echter Überzeugung auf die Position der Mitgliedstaaten eingeschwenkt und schlug dem Rat den Abschluss von CETA als gemischtes Abkommen vor. Wo genau die Trennlinien zwischen EU- und mitgliedstaatlichen Kompetenzen verlaufen, ist jedoch alles andere als klar. So ist vor dem EuGH derzeit z. B. ein Verfahren anhängig, das die Reichweite der unionalen Kompetenz im Bereich Investitionsschutz feststellen soll. In jedem Fall zu pauschal dürfte es sein, wenn das BVerfG gleich sechs Kapitel des CETA (u.a. Investitionen, Seeverkehr, Anerkennung von Berufsqualifikationen und Arbeitsschutz) als „im Zuständigkeitsbereich der Bundesrepublik Deutschland verblieben“ bezeichnet. Hier wird im Hauptsacheverfahren genauer gearbeitet werden müssen.

Die zweite Bedingung betrifft eine mögliche Gefahr für die Verfassungsidentität, die das BVerfG durch die Beschlüsse des CETA-Ausschusses sieht. Der CETA-Ausschuss kann den Vertrag sogar geringfügig modifizieren, ohne dass die nationalen Parlamente dem zustimmen müssen. Hier fordert Karlsruhe eine Sicherstellung, dass der EU-Vertreter im CETA-Ausschuss nur in enger Rückbindung an einen einstimmig gefassten Ratsbeschluss handeln darf. Das könne durch eine interinstitutionelle Vereinbarung zwischen Rat und Kommission erreicht werden. Wieso aber die Verfassungsidentität Deutschlands durch den CETA-Ausschuss bedroht sein könnte, wenn die vorläufige Anwendbarkeit ohnehin nur Materien betrifft, die in der ausschließlichen EU-Kompetenz liegen, erläutert der Senat nicht. Fürchtet man hier eine primärrechtswidrige Ausdehnung von EU-Kompetenzen? Falls dem so ist, wäre auch hier eine genauere Analyse der Kompetenzen des Ausschusses vonnöten.

Unilaterale Beendigung der vorläufigen Anwendbarkeit durch Deutschland?

Noch rätselhafter ist die dritte Bedingung für die Zustimmung der Bundesregierung zur vorläufigen Anwendung. Die Bundesregierung muss sicherstellen, dass sie sich nach Art. 30.7 Abs. 3 lit c) CETA einseitig von der vorläufigen Anwendbarkeit lösen kann. Die Funktion dieser Vorschrift wurde in der mündlichen Verhandlung intensiv diskutiert. Sie lautet:

Eine Vertragspartei kann die vorläufige Anwendung durch schriftliche Notifikation der anderen Vertragspartei beenden. Die Beendigung wird am ersten Tag des zweiten Monats nach dieser Notifikation wirksam.

Fraglich ist zunächst, wer mit „eine Vertragspartei“ gemeint ist. CETA wurde von der Kommission von Anfang an als ausschließliches EU-Abkommen verhandelt, so dass die Vorschriften auf ein gemischtes Abkommen teilweise nicht passen, da dieses auch die Mitgliedstaaten als Vertragsparteien umschließt. Geht man also davon aus, dass „eine Vertragspartei“ auch ein Mitgliedstaat sein kann, ergibt es Sinn, dass dieser die vorläufige Anwendbarkeit erklären und auch wieder beenden kann. Allerdings scheint das BVerfG anzunehmen, dass eine derartige Erklärung Deutschlands auch die vorläufige Anwendbarkeitserklärung durch die EU beenden kann. Da CETA nur durch die EU und nur für die Teile, die in die EU-Kompetenz fallen, vorläufig anwendbar sein soll und nach dem Urteil des BVerfG sein darf, stellt sich die Frage, ob Karlsruhe wirklich meint, Deutschland könne die vorläufige Anwendung des CETA durch die EU einseitig beenden. Vielleicht stellt sich das Gericht vor, Deutschland könne die vorläufige Anwendbarkeit der in die EU-Kompetenz fallenden Teile des Abkommens auf deutschem Territorium verhindern. Das wäre eine Art „Dexit“ aus dem CETA, der unionsrechtswidrig sein dürfte, da die EU-Abkommen für alle Mitgliedstaaten verbindlich sind (Art. 216 Abs. 2 AEUV).

Die Bundesregierung gibt sich trotz dieser Komplikationen gelassen und sieht keine Probleme mit den Karlsruher Anforderungen. Die Frage der auf die EU-Materien beschränkten vorläufigen Anwendung kann sie als politisch geklärt ansehen, auf eine interinstitutionelle Vereinbarung wird sie in nächster Zeit hinwirken und das vom Verfassungsgericht geforderte Verständnis des Art. 30.7 Abs. 3 lit c) muss sie lediglich in völkerrechtlich erheblicher Weise erklären und den Vertragspartnern notifizieren. Das dürfte im Rahmen einer einseitigen Interpretationserklärung anlässlich der Unterzeichnung möglich sein. Über die unionsrechtlichen Konsequenzen einer tatsächlichen Beendigungserklärung muss sie sich keine Gedanken machen. Damit wird der Ausgleich erzielt: 2:2. Alle können sich ein bisschen als Sieger fühlen.

Karlsruhe locuta – causa non finita

Der wahre Sieger ist das BVerfG. Ihm bleibt im Hauptsacheverfahren das letzte Wort. Dessen Ausgang ist offen, wenngleich bislang noch nie ein völkerrechtlicher Vertrag in Karlsruhe gescheitert ist. Allerdings wurde von den Klägervertretern mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass es das BVerfG für möglich hielt, dass der Beschluss über die vorläufige Anwendung ein „Ultra vires-Akt“ sein könnte. Eine weitere Begründung hierfür lieferte das Gericht nicht, jedenfalls nicht in der Kurzbegründung bei der Urteilsverkündung. Insofern wird man gespannt darauf warten müssen, wie das Verfassungsgericht die für Änderungen des Primärrechts entwickelten Figuren „ultra vires“ und Verfassungsidentität im Hauptsacheverfahren auf völkerrechtliche Verträge anwenden wird.

Ob der Demokratie ein Gefallen getan ist, wenn das Bundesverfassungsgericht ein zusätzlicher politischer Mediationsraum wird, wie Markus Sehl in der taz schrieb, erscheint fraglich. Die politische Debatte über CETA und TTIP wird in Deutschland und in vielen EU-Staaten seit Monaten intensiv geführt. Parteien und Fraktionen suchen mühsam nach Positionen. BürgerInnen demonstrieren zu Hundertausenden. Am Ende sollten demokratisch gewählte Parlamente entscheiden, denn ihre Mitglieder müssen sich den WählerInnen verantworten.


SUGGESTED CITATION  Krajewski, Markus: Spielstand nach dem CETA-Beschluss: 2:2, und Karlsruhe behält das letzte Wort, VerfBlog, 2016/10/13, https://verfassungsblog.de/spielstand-nach-dem-ceta-beschluss-22-und-karlsruhe-behaelt-das-letzte-wort/, DOI: 10.17176/20161014-091935.

12 Comments

  1. Christoph Herrmann Thu 13 Oct 2016 at 22:33 - Reply

    Lieber Markus,
    ein großartiger Beitrag, der insbesondere die Widersprüche in der Entscheidung offen legt. Danke dafür!

  2. René Repasi Fri 14 Oct 2016 at 09:55 - Reply

    In der Tat ist das ein ausgezeichneter Kommentar, der den Blick auf das Wesentliche dieser Entscheidung freilegt.

    Am interessantesten finde ich das einseitige Recht des Mitgliedstaats Deutschland, die vorläufige Anwendbarkeit des EU-Teils eines Handelsabkommens zu kündigen. Während der Wortlaut von Art. 30.7 Abs. 3 lit. c) CETA ein derartiges Kündigungsrecht tragen dürfte, kommt man bei Annahme eines solchen Kündigungsrechts in die von Ihnen beschriebene Schieflage: Ein Mitgliedstaat soll für einen Politikbereich, für den er seine Regelungskompetenz mit der Ratifikation des Lissabonner Vertrags zu Gunsten der Union aufgegeben hat, die Kompetenz behalten haben, die vorläufige Anwendbarkeit eines Handelsabkommens betreffend genau dieser Politikbereiche einseitig zu kündigen? Das ist doch sehr eigenartig.

    Ein einseitiges Kündigungsrecht durch einen Mitgliedstaat ist vor diesem Hintergrund nur dann stimmig in das Gesamtsystem einzufügen, wenn die Entscheidung für eine vorläufige Anwendbarkeit durch die Union selbst “ultra vires” ist und dieses Kündigungsrecht nur für den “ultra vires” Fall gilt. Dann und insoweit würde nämlich die mitgliedstaatliche Regelungskompetenz wieder aufleben, so dass man ein Kündigungsrecht annehmen könnte. Käme das BVerfG also in der Hauptsache zu dem Ergebnis, dass Teilbereiche von CETA, die vorläufig anwendbar sind, von der Union “ultra vires” angenommen wurden, muss Deutschland ein “ultra vires”-Kündigungsrecht auf Grundlage von Art. 30.7 Abs. 3 lit. c) CETA ausüben (können).

    Alles andere wäre aus europarechtlicher Sicht zumindest recht abenteuerlich.

  3. Johan Horst Fri 14 Oct 2016 at 11:19 - Reply

    2:2 finde ich ein leistungsgerechtes Ergebnis. Nur das Bundesverfassungsgericht zum Sieger zu erklären, halte ich für zu gnädig. Dafür ist die Entscheidung zu widersprüchlich.
    In der Verhandlung hat sich recht schnell abgezeichnet, dass die vorläufige Anwendung auch Sachbereiche betrifft, die teilweise (noch) nicht in die Kompetenz der Union übergegangen sind. Beispielhaft lässt sich das Bereich der Finanzdienstleistungen aufzeigen: Ausweislich des Vorschlags für den Beschluss über die vorläufige Anwendung, findet das Kapitel 13 des CETA über Finanzdienstleistungen mit einigen Ausnahmen vorläufige Anwendung. Diese Ausnahmen betreffen allesamt die (ohnehin höchst problematische) Anwendung des Investitionsschutzkapitels auf Finanzdienstleistungen. Schon die Bundesregierung geht jedoch in ihrer Stellungnahme im Gutachtenverfahren 2/2015 des EuGH zu Zuständigkeitsfragen im Rahmen des EUSFTA selbst davon aus, dass der Union keineswegs eine ausschließliche Kompetenz für den gesamten Bereich der Finanzdienstleistungen zukomme (dort Rn. 86ff.). Dies ist auch nicht weiter erstaunlich. Bei einem Abkommen, welches derart viele Materien betrifft, dürfte eine trennscharfte Abgrenzung unionaler und mitgliedstaatlicher Kompetenzen durchaus schwierig sein.
    Ich glaube das Bundesverfassungsgericht hat das auch so gesehen. Die Konsequenz ist dann allerdings: Es hätte nach Art. 59 Abs.2 einer Zustimmung des Bundestages in Gesetzesform bedurft. Dies ist eindeutig. Denn anders als der AEUV kennt das GG keine Sonderregeln für die vorläufige Anwendung. Da ein solches Gesetz nicht vorliegt, hätte dies eigentlich nachgeholt werden müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat nun wohl die Konsequenz einer möglicherweise dadurch drohenden Verzögerung der Unterzeichnung von CETA gescheut. Jedenfalls begnügte es sich dann ja damit, dass die Bundesregierung nochmal versichert, dass die vorläufige Anwendung nur unionale Kompetenzbereiche betreffe. Da dem Bundesverfassungsgericht aber klar war, dass dies natürlich nicht so ganz richtig ist, hat es sich dann nochmal versichern lassen, dass die Bundesregierung die vorläufige Anwendung einseitig beenden dürfe. Dass dies Article 30 CETA nun wohl eher nicht hergibt (egal ob Wortlaut, Systematik oder Sinn und Zweck) halte ich auch für relativ klar, daher also die Interpretationserklärung. Das Kündigungsrecht macht nämlich in der Tat nur Sinn, wenn Kompetenzen der Mitgliedstaaten von der vorläufigen Anwendung betroffen sind. Warum sonst sollte einem Mitgliedstaat ein einseitiges Kündigungsrecht bzgl. der vorläufigen Anwendung eines Teils eines Abkommens zukommen, welches nur Kompetenzen der Union betrifft? Wenn aber die vorläufige Anwendung auch in Kompetenzbereiche der Mitgliedstaaten hineinreicht, dann greift Art. 59 Abs. 2 GG. Ich denke mutiger und eindeutiger wäre es deshalb gewesen, für die vorläufige Anwendung ein entsprechendes Gesetz des Bundestages zu verlangen. Dies gilt, so glaube ich, ganz unabhängig davon, ob man ein Fan von David Ricardo ist oder doch eine Verfechterin heterodoxer ökonomischer Ansä