Staatsschutz 3.0? Der Verfassungsschutz vor der Tendenzwende
„Freiheit und Ordnung“ ist das zu Recht berühmte Kapitel über Sozialutopien in Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ betitelt. Bloch löst das ewige Spannungsverhältnis von Freiheit und Ordnung marxistisch auf: Das Reich der Freiheit werde der Mensch erst betreten, wenn er sich nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich selbstbestimmen kann. Bloch formuliert das als Verheißung eines Zustandes verwirklichter gleicher Freiheit – utopisch, gewiss, aber konkret utopisch: Man weiß ungefähr, was man bekommt, und ziemlich genau, wie man hinkommt. Jede staatlich-politische Ordnung, so kann man Bloch verstehen, muss sich in ein Verhältnis zur Freiheit setzen. Wieviel Freiheit ist möglich? Wieviel Zwang ist nötig?
Freiheit und Ordnung
Wie der Philosoph Jonas Heller in seiner eindrücklichen Studie „Mensch und Maßnahme“ nachweist, beruht die moderne demokratische Ordnung gerade darauf, die Freiheit durch die Ordnung verwirklichen zu wollen: Sicherheit wird zum Realfundament der Freiheitsausübung. Freiheit und Ordnung geraten in ein dialektisches Verhältnis des produktiven Widerspruchs, in dem der sterile Gegensatz beider aufgehoben ist. Im Ausnahmezustand tritt freilich zutage, dass Ordnung nicht restlos in normativer Freiheit aufgeht: die rohe Faktizität der Durchsetzung des Gewaltmonopols bedroht die Freiheitsrechte. Der wieder aufbrechende Gegensatz wird durch die Ideologie der Nation überbrückt, die notwendig Ausschlüsse produziert, also die Gleichheit der Freiheit selbst infrage stellt, indem sie Feinde der „Freiheitsordnung“ identifiziert.
Majestätsschutz
Dieser Gedankengang lässt sich auf die Idee des Staatsschutzes übertragen. In einer ersten Phase – Staatsschutz 1.0 – war dieser auf den Schutz der Majestät und der Herrschaftselite konzentriert. War Majestätsbeleidigung ein schweres Verbrechen, bestand jenseits dieses Sakrilegs ein recht ausgedehntes Feld der Freiheit, für das sich die Herrschaft nicht näher interessierte. Zugleich war aber auch Willkür möglich, die Freiheit nicht rechtssicher: Bismarcks Sozialistengesetze repräsentieren diese Phase.
Republikschutz
Die zweite Phase markiert den Übergang zur modernen Demokratie, in Deutschland also die Revolution vor 100 Jahren. Staatsschutz wird jetzt Republikschutz. Der Staat sieht sich gezwungen, seine nunmehr freiheitlichen Institutionen gegen ihre Feinde zu schützen, gegen die „Feinde der Freiheit“. In dieser Periode geht es darum, reichlich paradox, Freiheit zu schützen, indem man sie ihren Feinden nimmt. In der Weimarer Republik war diese Idee keineswegs unbekannt; überpositives Rechtsdenken war vielmehr höchst verbreitet, aber letztlich nicht erfolgreich, weil es die Idee demokratischer Gleichheit noch nicht hinreichend als Selbstwert und zentrales Ordnungsziel erkannt hatte. Institutionen blieben ideenlose Hüllen, der fehlende demokratische Geist der Mehrzahl ihrer Amtswalter machte sie höchst verwundbar. Daraus zog man nach der Katastrophe der Naziherrschaft die Lehre, diesen Institutionenschutz konsequenter anzugehen, und zwar doppelt: als Schutz staatlicher Organe und zugleich ihres menschenrechtlichen Geistes. So hat man die Definition der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ (FDGO) aus dem SRP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und § 4 II BVerfSchG bisher überwiegend verstanden.
In dieser überkommenen bundesrepublikanischen Konzeption blieb aber ein Widerspruch erhalten: das paternalistisch-etatistische Moment des nun so genannten Verfassungsschutzes. Dieser fußte auf der Auffassung, eine verbindliche und rechtlich bestimmte Auslegung der FDGO sei exekutiv-autoritativ möglich. Zahlreiche bedeutende Verfassungsrechtler (Abendroth, Ridder, Preuß, Denninger, Goerlich etc.) und politische Theoretiker*innen (Maus etc.) haben das mit unterschiedlichen – meist überzeugenden – Argumenten angegriffen. Bekannt wurde besonders Ulrich K. Preuß‘ Begriff der Super- oder zweistufigen Legalität. Die dahinterstehende These lautete, im Konstrukt der FDGO schütze der (west)deutsche Staat überpositiv eine besitzindividualistische Zurichtung der Freiheit, also letztlich einen Status quo des Kapitalismus, nicht die notwendig (positiv) fortschreitende Demokratie. Den Diskussionsstand und den historischen Hintergrund fasst die gerade erschienene, so gründliche wie thesenstarke Studie von Sarah Schulz zusammen.
Die Herkunft des Schutzgutes der FDGO aus dem antikommunistisch programmierten politischen Strafrecht der frühen Bundesrepublik ist eine interessante historische Erkenntnis. Dennoch blieb der Verfassungsschutz letztlich – trotz seiner maßgeblichen personellen Durchsetzung mit Nazis und Ex-Nazis in der (langen!) Anfangszeit – am Paradigma des umfassenden Republikschutzes als „Staatsschutz 2.0“ orientiert, für das eher eine gekünstelte Gleichsetzung von „Rechts“ und „Links“ als sich vermeintlich berührende „Extremismen“ prägend wurde – eine politologisch kaum haltbare Annahme, die zu schwer nachvollziehbaren Auswüchsen wie der Beobachtung von Abgeordneten wie Katja Kipping oder Bodo Ramelow führen sollte.
Menschenschutz?
Die soeben gefällten AfD-Entscheidungen des Bundesverfassungsschutzes – dazu instruktiv Klaus Gärditz gestern – könnten freilich den Übergang zu einer dritten Phase oder Stufe des Staatsschutzes markieren. Das hängt weniger daran, dass die Einstufung der AfD als Prüffall und von „Junger Alternative“ und „Flügel“ als Verdachtsfälle nach NPD und „Republikanern“ einmal mehr eine überregional bedeutsame, parlamentarisch vertretene rechtsradikale Partei in den Fokus der Behörde rückt. Sondern es liegt an der Begründung des Bundesamtes, die sich nicht so sehr auf die in Teilen der AfD angestrebte Überwindung des institutionellen „Systems“ stützt, sondern zuvörderst auf die vielfach zum Ausdruck gebrachte Missachtung der Menschenwürde und demokratischen Gleichheit von als migrantisch markierten Menschen.
Diese Begründung – man muss es noch einmal hervorheben, auch wenn Gärditz bereits darauf hingewiesen hat – steht in der Linie des NPD-Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 2017. Maßgeblich durch die damaligen Verfahrensbevollmächtigten Möllers und Waldhoff angestoßen, führte das Gericht die Leugnung der elementaren Rechtsgleichheit aller Bürger*innen und die damit korrespondierenden völkischen Homogenitätsfantasien der NPD als Belege für eine verfassungsfeindliche Gesinnung an. Es ging also um Menschenwürde, Diskriminierungsverbote und Antirassismus – kurz gesagt: um das Menschenrecht auf gleiche Freiheit.
Sollte diese Orientierung an der gleichen Freiheit mit einer relativen Abwertung des Schutzes staatlicher Institutionen um ihrer selbst willen verbunden sein, würde das den Übergang zu einem „Staatsschutz 3.0“ bezeichnen. Dieser sich jetzt abzeichnende neue Verfassungsschutz wäre wesentlich Menschenschutz, genauer: Schutz der Bevölkerung vor gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (Wilhelm Heitmeyer). Eine solche Tendenzwende des Verfassungsschutzes stößt sich freilich beim ersten Hinsehen mit dem eigenen Selbsterhaltungsinteresse der Behörde. Denn das vollständige Aufgehen der Ordnung und Sicherheit in der Freiheit würde eine stete Rückbindung des Verfassungsschutzes an die gleiche Selbstbestimmung aller Bürger*innen im Land erfordern, die sich bisher am Selbstschutz eines institutionellen Status quo bricht. Dieser Status quo besteht im „latenten Ausnahmezustand“ der Geheimdienstarbeit, die Verfassungsfeinde aufspüren und dafür Grundrechte verkürzen will. Eine konsequent menschenrechtliche Orientierung des Verfassungsschutzes, die mit der etatistischen Eigenlogik der Institution aufräumt, wäre zudem eine Ironie der Geschichte. Denn gerade die Erwähnung der Grund- und Menschenrechte als Schutzgut war im Staatsschutzrecht der jungen Bundesrepublik besonders kontrovers; galten Grundrechte doch als notorisch juristisch unterbestimmt und politisch zu umstritten (vgl. Sarah Schulz). Die Weimarer Republik wusste bekanntlich auch noch nicht allzu viel mit ihnen anzufangen – vom Eigentumsrecht einmal abgesehen.
Mittlerweile hat sich das Verhältnis hier aber umgekehrt: die politischen Organe gelten als wandelbar, neue Formen demokratischer Selbstbestimmung wurden denkbar und teils auch eingeführt, etwa Elemente direkter Demokratie oder Basisdemokratie. Die Ordnung erlaubt ihre eigene Destituierung, sofern sie gewachsenen (Rechts-) Ansprüchen auf egalitäre Beteiligung nicht mehr entspricht. Demokratischer Experimentalismus und Formwandel sind geradezu Verfassungsgebot geworden, um gleiche Freiheit immer vollkommener ins kollektive Werk zu setzen.
Die Menschenrechte auf gleiche Freiheit selbst sind hingegen nicht länger verhandelbar. Das BVerfG hat sie in einer langen Rechtsprechungsgeschichte ausgefaltet und gefestigt. Zuletzt gewann auch der Diskriminierungsschutz unter europäischem Einfluss immer mehr an juristischem Gewicht und Überzeugungskraft.
Der Verfassungsschutz ist also – möglicherweise – dabei, seine juristische Legitimitätsbasis umzustürzen– weg von der Selbsterhaltung einer freiheitlich verstandenen Ordnung, hin zum Schutz der Freiheitsrechte allein und um ihrer selbst willen.
Institutionelle Konsequenzen
Der nächste Schritt müsste nunmehr darin bestehen, sich von der irreführenden Extremismustheorie und dem Mythos der „guten Mitte“ zu verabschieden. Denn gerade auch die Mitte erweist sich immer wieder als anfällig für „autoritäre Versuchungen“ und die Abwertung von Menschengruppen. Institutionell wäre es folgerichtig, den richtungsweisenden Vorschlägen etwa von Hans-Peter Bull oder Ronen Steinke zu folgen, sich im besten Fall in ein Forschungsinstitut zu Demokratiegefährdungen (etwa analog der SWP) und eine Sicherheitsbehörde zur Terror- und Gewaltprävention aufzuspalten. Denn eine unter dem Primat der menschenrechtlichen Freiheit interpretierte FDGO hätte mit dem Schutz der Menschen vor politisch motivierter Gewalt ihre wahre demokratische Bestimmung gefunden. Drohende Gewalt gegen Menschen im Vorfeld der konkreten (polizeilichen) Gefahr bezeichnet den Punkt, an dem Freiheitsausübung in geheimdienstlich relevante Freiheitsgefährdung umschlägt. Wie das Totalversagen des Verfassungsschutzes im Fall des NSU zeigt, wartet hier eine große Aufgabe. Die Schmälerung der Erfolgschancen von Parteien wie der AfD und der Karriereaussichten von Rechtsradikalen erscheint demgegenüber mehr als alltägliche politische und akademische Herausforderung für alle Demokrat*innen denn als primäre Aufgabe von Sicherheitsbehörden.
„…lässt sich die Kernthese vom Rechtsextremismus in der «Mitte der Gesellschaft» empirisch keineswegs erhärten: Weder die soziale noch die politische Mitte hat einen überproportionalen rechtsextremistischen Anteil.“ Prof. Jesse, https://www.nzz.ch/feuilleton/wer-nicht-rechtsextremistisch-ist-muss-keineswegs-demokratisch-eingestellt-sein-ld.1451398
Die Unterstellungen der „enthemmten Mitte“ gegenüber sind absurd. Interessant die Studie der Züricher Hochschule, wonach in der Schweiz mehr Links-als Rechtsextremismus festzustellen ist. https://www.zhaw.ch/de/ueber-uns/aktuell/news/detailansicht-news/news-single/extremismus-unter-jugendlichen-ideologie-ist-verbreiteter-als-gewaltbereitschaft/
Insgesamt sollte man sich keineswegs „von der Extremismustheorie verabschieden“, sondern alle Formen des Extremismus im Auge behalten.
Herr Jesse ist der Hauptvertreter der sog. Extremismustheorie, die in der Politikwissenschaft – gerade auch international – jenseits dieser “Schule” kaum Anklang gefunden hat, trotz ihrer Popularität in den Medien (etwa der NZZ). Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – als tragfähigeres Kriterium für gefährlichen Radikalismus – ist links eher nicht zu Hause. Anders als Institutionenkritik. Die Frage ist: Womit soll sich der Verfassungsschutz befassen? Ich würde sagen: Terrorismus- und Gewalt-, nicht Gesinnungsabwehr. Und da liegt die Gefahr zurzeit eindeutig und unbestreitbar nicht links, sondern rechts (und beim religiösen Radikalismus natürlich). Statistisch sind es gerade Angehörige von Minderheiten, die immer wieder begründet um ihre physische Integrität fürchten. Mit der Schweiz befasst sich das BfV meines Wissens nicht. Und Gesinnungen allein sollten ohnehin nicht das Geschäft des BfV sein.