04 February 2019

Streit um die „Grenzöffnung“: Mehr Fragerechte und Klage­möglich­keiten für Abgeordnete?

Seit September 2015 spaltet der Streit um die sogenannte „Grenzöffnung“ für Flüchtlinge die Republik. Politisch soll nun zumindest bei der CDU der Versuch einer internen Aufarbeitung durch die Debatte zweier Rechtswissenschaftler erfolgen. Am Köcheln gehalten wird der Streit nicht zuletzt durch die Ungewissheit, wie genau und auf welcher Rechtsgrundlage die Bundesregierung gehandelt hat. Laut eigener Auskunft ist ihre „Entscheidung im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung“ (BT-Drs. 18/7311. S. 3), von der Zurückweisungen von aus sicheren EU-Ländern einreisenden Asylbewerbern an der deutschen Grenze abzusehen, lediglich mündlich ergangen. Aufgrund dieser Entscheidung der Bundesregierung hat das Bundespolizeipräsidium bekanntlich am 13. September 2015 die Grenzbehörden angewiesen, dass „Drittstaatangehörigen ohne aufenthaltslegitimierende Dokumente und mit Vorbringen eines Asylbegehrens die Einreise zu gestatten ist“ (BT-Drs. 18/7311. S. 2). Wurde damit lediglich eine zwingende Verpflichtung umgesetzt, die Zuständigkeit für das Asylverfahren nach der Dublin-III-Verordnung zu überprüfen, oder wurde hier bis heute freiwillig die Grenze „geöffnet“? Darüber streiten sich seither die Geister.

Wichtiger als die abstrakt möglichen Rechtsgrundlagen des Handelns der Bundesregierung ist aber, welche Rechtsaufassung diese konkret vertritt. Wie die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages im Juli 2018 (WD 3 – 3000 – 230/18, S. 7) feststellten, hat sie dies bisher nicht einmal auf entsprechende Nachfragen von Abgeordneten offiziell und zweifelsfrei erklärt. Schon einfache Verwaltungsakte im Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen Bürger und Verwaltung müssen inhaltliche bestimmt, schriftlich sowie tatsächlich und rechtlich begründet ergehen (§§ 37 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2; 39 Abs. 1 VwVfG). Daher drängt sich die rechtpolitische Frage auf, ob der bestehende (verfassungs-)rechtliche Rahmen ein „heimliches“ Regierungshandeln ermöglichen sollte. Schließlich würde dadurch die Kontrollaufgabe der Abgeordneten erschwert.

Im Dezember 2018 hat das Bundesverfassungsgericht eine Organklage der AfD gegen die „Grenzöffnung“ ohne Sachentscheidung als „offensichtlich unzulässig“ abgewiesen. In der Begründung heißt es: „Das Grundgesetz hat den Deutschen Bundestag als Gesetzgebungsorgan, nicht als umfassendes „Rechtsaufsichtsorgan“ über die Bundesregierung eingesetzt. Aus dem Grundgesetz lässt sich kein eigenes Recht des Deutschen Bundestages dahingehend ableiten, dass jegliches materiell oder formell verfassungswidrige Handeln der Bundesregierung unterbleibe“ (2 BvE 1/18, Rn. 18). Soll dem Bundestag und seinen Abgeordneten tatsächlich keine Funktion eines klageberechtigten „Wächters“ der Verfassungskonformität von Regierungshandeln zustehen? 

Beide Entwicklungen werfen die Frage auf, ob die Regeln zum Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesregierung verfassungspolitisch ausreichen, um die Rechtsgrundlagen des Regierungshandelns transparent und gerichtlich überprüfbar zu halten.

Geheimniskrämerei um Rechtsgrundlage

Die theoretisch möglichen Rechtsansichten, auf die sich die Bundesregierung nicht festlegen möchte und die auch vom Bundesverfassungsgericht nach gegenwärtiger Rechtslage nicht  überprüfbar sind, sind schnell zusammengefasst. Die auf diesem Blog bisher veröffentlichenden Autoren (z.B. Thym, Lehner hier und hier etc.) sind mehrheitlich der Ansicht, dass die Dublin-III-Verordnung Deutschland gar keine andere Wahl lasse, als Asylbewerber zur Prüfung der Zuständigkeit einreisen zu lassen (Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO). Nennen wir sie die „Zuständigkeitsthese“. Daneben bestehen mindestens zwei Varianten der „Grenzöffnungsthese“. Der Autor dieses Beitrags ist mit anderen der Meinung, dass § 18 Abs. 2 AsylG und Art. 20 Abs. 4 UAbs. 1 S. 1 Dublin III-VO anwendbar sind und dass Bundesregierung bzw. der Bundesminister des Inneren diese Normen zeitlich und mengenmäßig unbegrenzt ausgesetzt und damit die Mitwirkungsrechte des Bundestages missachtet haben. Für die Asylverfahren wären eigentlich andere Dublin-Staaten zuständig gewesen (Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO; vgl. BT-Drs. 18/7311. S. 4, sowie etwa hier und hier). Die Möglichkeit, selbst in das Verfahren einzutreten oder die Zurückweisung durch Ministererlaubnis freiwillig auszusetzen  (§ 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG; vgl. hier und hier), wäre dann vermutlich in so erheblichem Maße überdehnt, dass der Bundestag gemäß der Wesentlichkeitstheorie eine Entscheidung hierüber hätte treffen müssen. Eine neutrale Darstellung dieser Meinungsvielfalt findet sich in diversen Ausarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste (vgl. WD 3 – 3000 – 259/15; – 271/15; – 299/15; – 109/17; 139/18 und – 230/18).

Der Unklarheit über die Rechtslage folgt eine beunruhigende politisch-rhetorische Eskalation auf beiden Seiten. Auf der einen Seite wird mit politischen Begriffen wie „Herrschaft des Unrechts“ oder „Rechtsbruch“ hantiert, auf der anderen Seite von „Dolchstoß“ und „rechte Schauermärchen“  und vom „Mythos“ des Rechtsbruchs (vgl. hier und hier) gesprochen. Das macht die Auseinandersetzung mit juristischen Argumenten nicht leichter. 

Es gibt zudem keine offizielle Positionierung der Bundesregierung bzw. des Bundesministeriums des Inneren, auf welcher Grundlage sie gehandelt hat und noch handelt. Schon alleine diese Geheimniskrämerei beschädigt das Vertrauen in die Politik. Die Wissenschaftlichen Dienste (WD 3 – 3000 – 230/18, S. 7) haben jedoch eine Tendenz dahingehend festgestellt, „dass die Bundesregierung Zurückweisungen von Asylsuchenden auch unter Beachtung der unionsrechtlichen Vorgaben der Dublin-III-Verordnung jedenfalls nicht von vornherein für ausgeschlossen hält, ergibt sich aus folgender Antwort vom 20. Januar 2016: „Eine Zurückweisung ist im Rechtsrahmen der Dublin-III Verordnung und des § 18 AsylG zulässig.“ Diese „Tendenz“ bestätigen auch Recherchen der „WELT“ (vgl. auch hier). Weitere Indizien dafür, dass die Bundesregierung die „Grenzöffnungsthese“ vertritt, finden sich auch an dieser Stelle. Wenn sie jedoch davon ausgeht, nicht zur Einreisegewährung zur Zuständigkeitsprüfung verpflichtet zu sein, stellt sich umso mehr die Frage, wie eine mittlerweile über drei Jahre andauernder Verzicht auf die Anwendung des Zurückweisungsgebots des § 18 Abs. 2 AsylG und der Zuständigkeitsregelung des Art. 20 Abs. 4 UAbs. 1 S. 1 Dublin III-VO – der faktisch eine Außerkraftsetzung parlamentarisch gesetzten Rechts darstellen würde – ohne Bundestagsbeschluss zur zumindest temporären Änderung des § 18 Abs. 2 AsylG ausreichend legitimiert sein kann.

Sollte die Bundesregierung tatsächlich der „Grenzöffnungsthese“ zuneigen, wäre es aus politischer und rechtswissenschaftlicher Sicht jedenfalls äußerst spannend, die Begründung der dafür zu lesen, dass trotz der unübersichtlichen jährlichen finanziellen Auswirkungen im zweistelligen Milliardenbereich für die Steuer- und Beitragszahler etwa durch den erheblichen Verwaltungsaufwand, deutlich gesteigerte Sozialausgaben z.B. für Lebenshaltungskosten und Gesundheitsleistungen sowie die Integration in die hiesige Gesellschaft mitteleuropäischer Prägung und in den Arbeitsmarkt keine Mitwirkung des Bundestages am dauerhaften „Absehen von Zurückweisungen“ an deutschen Grenzen erforderlich sein soll. Zumal es sich bei der Einreise und Aufnahme so vieler Asylbewerber um eine Aufgabe handelt, die der damalige Bundespräsident Gauck als eine schwierigere als die deutsche Einheit ansah. Soll es vor diesem Hintergrund der Bundesregierung auch vor dem Hintergrund zukünftiger Entwicklungen möglich sein, Abgeordneten eine detaillieren Festlegung auf eine gewählte Rechtsgrundlage und eine Begründung der Entscheidung zu verweigern?

Organstreitverfahren offensichtlich unzulässig?

Hätte das am 14. April 2018 beim Bundesverfassungsgericht eingeleitete Organstreitverfahren 2 BvE 1/18, seinen normalen Gang genommen, wäre die Antragschrift der Bundesregierung als  Antragsgegner mit der Aufforderung zugestellt worden, sich binnen einer zu bestimmenden Frist dazu zu äußern (§ 23 Abs. 2 BVerfGG). Eine der wenigen Ausnahmen hierzu besteht gemäß § 22 Abs. 1 GOBverfGG darin, den Antrag als „offensichtlich unzulässig“ (§ 24 BVerfGG) abzuweisen. Das Gericht hat also nicht nur den Weg über die Unzulässigkeit beschritten, der eine Auseinandersetzung mit der materiellen Rechtslage vermeidet. Es hat auch den Weg der „offensichtlichen“ Unzulässigkeit gewählt, der es sogar der Bundesregierung erspart hat, in rechtlich qualifizierter Weise zu den in der Antragschrift (neben teils politisierenden und polemischen Ausführungen) mit Recht aufgeworfenen rechtlichen Fragen der Zulässigkeit und Begründetheit einmal Stellung nehmen zu müssen.

Darüber hinaus wurde die Abweisung in diesem Blog und von anderen Medien verschiedenster Couleur mit unterschiedlichen Begründungen bedauert (vgl. etwa hier, hier, hier, hier, hier, und hier). Das Gericht hat leider die Chance versäumt, mit einer rechtlich niveauvollen Begründung zu der entscheidenden materiellen Frage (ggfs. unter Anrufung des EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren) in gewissem Umfang Rechtsfrieden herzustellen. Denn die Entscheidung zur Zulässigkeit hätte mit guten Gründen auch anders ausfallen können (vgl. auf diesem Blog und hier). 

Soll dem Bundesverfassungsgericht also zukünftig in vergleichbaren Fällen die Möglichkeit gegeben werden, Zweifel von Abgeordneten des Deutschen Bundestages an der materiellen oder formellen Verfassungsmäßigkeit am Handeln der Bundesregierung ohne Entscheidung in der Sache zurückweisen zu können?

Begründungspflicht für Regierungshandeln und objektive Rechtmäßigkeitskontrolle 

Ob die Bundesregierung der „Zuständigkeitsthese“ oder der „Grenzöffnungsthese“ zuneigt, ist eine aus rechtlicher und politischer Sicht wesentliche Frage. Letztlich geht es dabei um die Kohärenz des Regierungshandelns. Wenn eine Regierung eine bestimmte Rechtsauffassung vertritt, muss sie sich auch mit allen daraus ergebenden Konsequenzen auseinandersetzen. Beruft sie sich im Lichte der „Grenzöffnungsthese“ tatsächlich auf eine Ausnahmeregelung, muss sie sich auch fragen lassen, wo der Parlamentarismus möglicherweise eine Beteiligung des Bundestages vorsieht. Im konkreten Fall bleibt zu hoffen, dass diese Frage in einem der beiden beantragten Untersuchungsausschüsse (vgl. BT-Drs 19/2392 und BT-Drs 19/2524) ans Licht der Öffentlichkeit kommt. 

Generell ist entscheidend, dass der Bundestag als Parlament die Richtigkeit der gewählten Rechtsposition wie auch die Notwendi