26 February 2016

Grenze zu, dank Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO? Eine Replik

Darf Deutschland Flüchtlinge an seiner Grenze (jetzt doch) zurückweisen? In diesem Blog wurden die europa-, verfassungs- und asylrechtlichen Vorgaben, die dem entgegenstehen, hinreichend ausgebreitet (hier, hier, hier und hier). Trotzdem reißt die Debatte, ob Deutschland sich zu Recht für zuständig hält, aus Österreich kommende Flüchtlinge auf ihre Asylberechtigung zu überprüfen, nicht ab. Zuletzt haben vier Juraprofessoren in der FAZ die These aufgestellt, es gebe sehr wohl eine Rechtsnorm, die diese Verantwortung Österreich zuweist – nämlich Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich: Die Norm gibt das nicht her.

Noch mal zur Rekapitulation: Wird an der deutschen Staatsgrenze ein Antrag auf Asyl gestellt, muss Deutschland nach Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO ein Verfahren durchführen (Art. 20 Abs. 1 der VO), um festzustellen, ob ein anderer Staat für das Asylverfahren zuständig ist und der Flüchtling in diesen überstellt werden muss. Fällt jedoch der an sich zuständige Staat – zumeist Griechenland als Ersteinreisestaat, Art. 13 I der VO – infolge systemischer Defizite im Asylsystem aus, wird ex lege der zuständigkeitsprüfende Staat zuständig (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der VO).

Allenfalls könnte noch ein weiterer Staat asylzuständig sein (UAbs. 2), zu denken wäre an den Zweiteinreisestaat (Ungarn oder Kroatien), der, hätte er das Feststellungsverfahren ordentlich betrieben, seine eigene Zuständigkeit hätte erkennen müssen. Selbst dann aber müssten die Schutzsuchenden dorthin i.R.d. Wiederaufnahmevorschriften der VO überstellt werden. Wie Daniel Thym kürzlich aus aktuellem Anlass wieder betont hat, geht aber nach Art. 29 Abs. 2 der VO nach einem halben Jahr die Zuständigkeit auf Deutschland über, sofern bis dahin nicht überstellt wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint ein deutscher Selbsteintritt (Art. 17 Abs. 1 der VO) auch über Einzelfälle hinaus gar nicht wie ein Fremdkörper im Dublin-System. In jedem Fall führen die so begründeten deutschen Zuständigkeiten nach §26a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG zur Rücknahme des Drittstaatsausschlusses, weswegen § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG leerläuft, ohne dass es eines Rückgriffes auf Abs. 4, insbesondere auf dessen Nr. 2 (die berühmte Ministeranordnung), bedürfte. Felix Austria?

Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO: die Norm, die alles ändert?

Mitnichten, meinen nun Alexander Peukert, Christian Hillgruber, Ulrich Foerste und Holm Putzke. Zur Begründung führen sie Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO in die Diskussion ein und betonen zu Recht, dass diese Vorschrift bislang in der Debatte keine Rolle gespielt hat. Abs. 4 UAbs. 1 lautet:

„Stellt ein Antragsteller bei den zuständigen Behörden ei­nes Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz, wäh­rend er sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats auf­hält, obliegt die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Antragsteller auf­hält. Dieser Mitgliedstaat wird unverzüglich von dem mit dem Antrag befassten Mitgliedstaat unterrichtet und gilt dann für die Zwecke dieser Verordnung als der Mitgliedstaat, bei dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde.“

Nun wissen die Autoren natürlich selbst, dass die Situation an der deutsch-österreichischen Grenze nicht so beschaffen ist, dass die seit September 2015 einstweilen wieder systematisch kontrollierenden deutschen Grenzbeamten auf deutscher Seite am (nicht vorhandenen) Zaun stehen und darauf warten, dass Flüchtlinge von österreichischem Territorium aus das Wörtchen „Asyl“ herüberrufen. Tatsächlich erfolgt die Grenzkontrolle regelmäßig auf deutschem Gebiet, bei deren Gelegenheit dann der Flüchtling „bei einer mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörde (Grenzbehörde) um Asyl nachsucht”, wie es in § 18 Abs. 1 AsylG so schön heißt.

Um Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO trotzdem fruchtbar zu machen, argumentieren die Autoren nun im Wesentlichen aus zwei Richtungen. Erstens folge aus Art. 13 Abs. 4 des Schengener Grenzkodexes, dass im Fall einer Einreiseverweigerung „das Hoheitsgebiet des betreffenden Staats“ noch nicht betreten sei. Und zweitens habe die Kommission in ihrer Entwurfsbegründung für die Dublin-II-VO zur relevanten Norm (Art. 4 Abs. 4 Dublin-II = Art. 20 Abs. 4 Dublin-III) ausgeführt, dass ebensolche ‚Grenzsituationen’ von ihr erfasst sein sollten:

„Der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Asylsuchende befindet, ist verpflichtet, das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durchzuführen, auch wenn der Asylbewerber seinen Antrag bei einer Behörde eines anderen Mitgliedstaats, beispielsweise einer diplomatischen oder konsularischen Vertretung oder an der Grenze stellt.“

Wenn also ein Schutzsuchender sich auf österreichischem Boden befindet und dort noch keinen Asylantrag gestellt hat, soll er nicht erwirken können, dass deutsche Behörden mit der Zuständigkeitsfeststellung zu befassen, indem er sich in die deutsche Botschaft begibt (wo nach deutschem Recht indes ohnehin kein solcher Antrag wirksam gestellt werden kann) oder eben an die deutsch-österreichische Staatsgrenze. Nach Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO müsste dann Österreich selbst das Feststellungsverfahren betreiben und die o.g. zuständigkeitsbegründenden Umstände gingen zu seine Lasten. Infelix Austria?

Entstehung der Dublin-II-VO: Was wurde wirklich geregelt?

Die Autoren haben einen sehr klugen Gedanken in die Debatte gebracht, der Anlass gibt, sich die Entstehungsgeschichte von Art. 20 Abs. 4 und Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO bzw. deren Vorgängernormen in der Dublin-II-VO ins Gedächtnis zu rufen. Dann stößt man allerdings darauf, dass ihre Argumentation einen Schönheitsfehler aufweist. Die in den Zeugenstand gerufene Kommissionsauffassung betraf nämlich nicht Art. 4 Abs. 4 Dublin-II-VO sondern dessen Entwurf (in diesem noch Abs. 5), der just an diesem Punkt so nicht vom Rat beschlossen wurde.

Zwar wurde von dem Wortlaut, den die Kommission vorschlug und der bereits Art. 12 des Dubliner Übereinkommens entsprochen hatte (Art. 12 DÜ) nicht abgewichen. Jedoch muss der Vorschlag im Kontext zu der Entwurfsfassung des Art. 3 I Dublin-II-VO gesehen werden. Dieser sollte lauten:

„Ein Asylantrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft. Dabei handelt es sich um den Mitgliedstaat, der nach den Kriterien in Kapitel III als zuständiger Staat bestimmt wird.“

Art. 3 I der realen VO lautete dann (und lautet in der Dublin-III-Fassung noch):

„Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.“

Diese Fassung entsprach und entspricht im Wesentlichen Art. 3 Abs. 1 und 2 DÜ, und dass das Merkmal „an der Grenze“ auch in Art. 3 Abs. 1 der Dublin-Verordnungen aufgenommen wurde, beruhte übrigens auf einem deutschen Vorschlag im Rechtsetzungsverfahren (Ratsdokument 12501/01, S. 7), dass man den alten Wortlaut doch beibehalten wolle. Was ja dann auch geschah.

Liest man Art. 3 Abs. 1 ohne das Merkmal „an der Grenze“, so bekommt man in der Tat den Eindruck, Asylanträge könnten nur in einem Mitgliedstaaten gestellt werden, und in den Dublin-Verordnungen wird diese Wendung verschiedentlich benutzt, genauso allerdings die Formulierung bei einem Mitgliedstaat. Die Kommission wird dies seinerzeit wohl auch so gemeint haben. Ihre Auffassung zum Entwurf kann jedenfalls nicht losgelöst vom seinerzeitigen Vorschlag des Art. 3 Abs. 1 interpretiert werden.

Indes: In den realen Dublin-Verordnungen wurde das Grenzkriterium dann doch in dieser Norm verarbeitet, weswegen eine schematische Übernahme des Kommissionsarguments bezüglich der Auslegung von Art. 4 Abs. 5 Dublin-II-VO-E. (= Art. 4 Abs. 4 Dublin-II-VO = Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO) heikel ist. Mathias Hermann hat bereits in Hailbronners „EU Immigration and Asylum Law“ im Jahr 2010 auf die Einfügung des Grenzkriteriums in Art. 3 Abs. 1 Dublin-II-VO (Komm. zu Art. 3, Rn. 1) und diesbezüglich auch auf den Zusammenhang zum Non-Refoulement-Grundsatz (Art. 33 GFK) hingewiesen; auf die GFK wurde überdies in EG Nr. 4 der Dublin-II-VO Bezug genommen. Demnach gilt, dass das Dublin-Regime greift, „if he or she [the asylum seeker; Anm. d. Verf.] applies at the border or in the territory of a Dublin Member State.“ (Hermann, ebd.). Vor diesem Hintergrund erhellt dann auch der Gehalt von Art. 4 Abs. 4 Dublin-II-VO (= Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO). Hermann in seiner Kommentierung zu Art. 4 Dublin-II-VO (Rn. 3) hierzu: „Regarding the principle of territorial asylum, a Dublin Member State only has to conduct a Dublin procedure if the person concerned is physically present at its border or in its territory.“

Ausgeschlossen werden sollen also wirksame Antragstellungen bei den Behörden eines Staates (z.B. Deutschland) nur in den Fällen, in denen sich der Betreffende in einem anderen Staat (z.B. Österreich) aufhält, ohne an der Grenze des zum erstgenannten Staat physisch präsent zu sein. Dies ist im Wesentlichen denkbar durch Botschafts-/Konsulatskontakt oder durch Übersendung eines schriftlichen Antrags. Anträge an der Grenze fallen dann aber unter Art. 3 Abs. 1 und nicht unter Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO, eine lex specialis-Auslegung zugunsten der letzten Vorschrift aus dem diesbezüglich veränderten Kommissionsentwurf bzw. dessen Begründung abzuleiten, überzeugt nicht.

Die Konsequenz wäre denn auch, dass Art. 3 Abs. 1 nur an Außengrenzen gelten könnte, was zum faktischen Zusammenfallen der Asylzuständigkeit nach Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO und jener zur Zuständigkeitsfeststellung führte. Beriefen sich auch Österreich, Slowenien usf. auf Art. 20 Abs. 4, wäre am Ende Griechenland auch hierfür stets zuständig und dass, obwohl nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO (derzeit) hierhin nicht rücküberstellt werden kann und darf.

Wer kontrolliert wo?

Überdies greift die von den Autoren vorgeschlagene Argumentation ja nur, wenn – wie geschehen – Grenzkontrollen an einer Binnengrenze temporär wiedereingeführt werden. Abgesehen davon, dass es damit jeder Staat in der Hand hätte, sich seiner Dublin-Verantwortlichkeiten zu entledigen, beruht das Argument auch auf einer zweifelhaften Fiktion.

Dass nämlich bei Asylantragstellung auf deutschen Staatsgebiet (bei der deutschen Grenzbehörde) sich der Antragsteller noch in österreichischem Hoheitsgebiet (so Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO) befinde, erscheint überaus konstruktivistisch, Art. 13 Abs. 4 des Grenzkodexes auferlegt den Mitgliedstaaten (in der Regel den Außengrenzstaaten) die Pflicht, bei Nichtvorliegen der Einreisevoraussetzungen dafür zu sorgen, dass der Drittstaatsangehörige „das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht betritt.“ Man könnte auch sagen: ‚nicht weiter‘ oder ‚nicht endgültig‘ betritt, denn die mitgliedstaatlichen Gebietsgrenzen werden sicher nicht durch EU-Sekundärrechtsakte festgelegt und dass der deutsche Kontrollposten sich auf deutschem Territorium befindet, kann, wenn es im Einzelfall so ist, nicht ernsthaft bestritten werden.

Es ist überhaupt seltsam, dass die Autoren einerseits Art. 28 des Grenzkodexes ins Feld führen, um die Anwendbarkeit des Art. 13 dieses Kodexes auf eine Binnenstaatsgrenze zu begründen, dann aber nicht mal erwägen, hieraus den Rechtsgedanken abzuleiten, dass dann auch Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO gelten müsste (dessen Anwendungsbeschränkung auf Außengrenzen ja aus dem lex-specialis-Gedanken bzgl. Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO folgt ,s.o.).

Jürgen Bast hat es in einem Kommentar vom 27. Januar 2016 zu o.g. Beitrag von Daniel Thym auf den Punkt gebracht: „Paradoxerweise führt die Einführung von Grenzkontrollen an den deutschen Grenzen dazu, dass für Asylanträge ‚an der Grenze‘ Art. 3 I einschlägig ist und damit Deutschland für die Durchführung des Dublin-Verfahrens zuständig – was zu einem Einreiseanspruch führt.“ Daraus lässt sich natürlich nicht der Umkehrschluss ziehen, dass ohne Einführung von Grenzkontrollen Art. 3 Abs. 1 nicht eingreifen würde (denn dann käme es ja zu einer Antragstellung in Deutschland), insofern handelt es sich nur um eine halbe Paradoxie. Genau genommen gilt Art. 3 Abs. 1 also stets und Art. 20 Abs. 4 ist im Grenzkontext nur einschlägig, wenn sich ein Grenzbeamter des einen Staates auf dem Gebiet des anderen befindet (so auch Filzwieser/Sprung, Komm. zur Dublin-III-VO, 2014, Art. 20, Rn. K.13), also wenn deutsche und österreichische Grenzer gemeinsame Kontrollen auf österreichischem Gebiet durchführen.

Dass der Geist von Dublin, der nun beschworen wird, vorrangig oder gar allein darin bestünde, Antragsteller stets und strikt abzuweisen, auf dass sie ihren Antrag im zuständigen Staat stellen, widerspricht dem kooperativen Charakter des Systems und legt die unilaterale Drittstaatsfolie einfach darüber, wie es schon mehrfach betont wurde (hier und hier).

Wenn es einen Geist von Dublin gibt, dann dürfte er vielmehr in dem Gesichtspunkt liegen, den Agnès Hurwitz dereinst (JIRL 11 (1999), 646 (647)) bereits zum DÜ herausgearbeitet hat: „[…] the ‚Dublin system‘ is […] based on a conventional mechanism rather than on the unilateral decision of one State. An asylum seeker will only sent back after the responsible State has agreed to his or her transfer and to examine his or her application.“

Und dass die von den Autoren vorgeschlagene Lösung „keine menschenunwürdige Härte” darstellt, wie sie betonen, macht diese noch lange nicht zu der Lösung, die der europäische Verordnungsgeber gewählt hat. Deutschland und Österreich sitzen im selben Boot wie alle übrigen Mitgliedstaaten auch. Leider wird das immer seltener so gesehen. Infelix Europa!

 


SUGGESTED CITATION  Lehner, Roman: Grenze zu, dank Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO? Eine Replik, VerfBlog, 2016/2/26, https://verfassungsblog.de/grenze-zu-dank-art-20-abs-4-dublin-iii-vo-eine-replik/, DOI: 10.17176/20160226-100057.

29 Comments