05 March 2024

Wie der Verfassungsgerichtshof sich selbst schützen kann

Risiken und Nebenwirkungen einer Schutzstrategie

Ein Gespenst geht um in Thüringen, und es heißt: Beschlussunfähigkeit des Verfassungsgerichtshofes. Die Voraussetzungen für dieses Szenario sind bekannt. Die AfD braucht gerade etwas mehr als ein Drittel der Sitze im Landtag, um Wahlen von Mitgliedern zum „obersten Hüter der Landesverfassung“ zu torpedieren und damit den Verfassungsgerichtshof beschlussunfähig zu machen. »Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch«, wusste schon Friedrich Hölderlin, und das Rettende heißt in diesem Fall: „Selbstergänzung“. Denn mit einer solchen „Auffangregelung“, so eine Hoffnung, könnte der Verfassungsgerichtshof unabhängig von Parteien und Parlament vakante Richterposten besetzen und damit das Gespenst der Beschlussunfähigkeit bannen. Der Verfassungsgerichtshof könnte sich selbst schützen. Zumindest in der Theorie. Taugt die Selbstergänzung aber auch in der Praxis als Schutzstrategie?

Beschlussunfähigkeit des Thüringer Verfassungsgerichtshofes: aktuelle Lage und mögliche Lösungen

Das Gespenst der Beschlussunfähigkeit durch Nichtbesetzung vakanter Richterpositionen1) geht keineswegs nur in Thüringen um, verbreitet dort aber besonderen Schrecken. Denn die AfD könnte bei der nächsten Landtagswahl mehr als ein Drittel der Mandate gewinnen, und wie unter solchen Mehrheitsverhältnissen der Landtag ausscheidende Mitglieder am Verfassungsgerichtshof ersetzen kann, ist vollkommen unklar. Mehr noch: Dem Landtag Thüringens ist es auch früher keineswegs immer gelungen, Vakanzen im Verfassungsgerichtshof zu verhindern. Dreimal schon blieb die Position des Präsidenten „vorübergehend“ unbesetzt: Unbedeutend war die Verzögerung bei der Wahl von Manfred Aschke, der am 22. Mai 2014 zum Präsidenten gewählt wurde und die Nachfolge von Joachim Lindner antrat, dessen Amtszeit wegen Erreichens der Altersgrenze am 30. April 2014 geendet hatte. Die Position des Präsidenten blieb folglich rund drei Wochen unbesetzt. Deutlich länger verwaist war das Amt nach dem Ausscheiden von Manfred Aschke am 21. März 2018, der ebenfalls die Altersgrenze erreicht hatte. Der neue Präsident, Stefan Kaufmann, konnte erst drei Monate später, am 21. Juni 2018, gewählt, vereidigt und ernannt werden. Unbeschadet dieser Erfahrungen blieb die Lernkurve des Thüringer Landtages erstaunlich flach. Die nächste Staffelübergabe an Klaus von der Weiden erfolgte wieder verspätet am 21. Juni 2022, obschon der alte Präsident, Stefan Kaufmann, bereits am 29. Dezember 2021 ausgeschieden war, weil er – Überraschung! – die Altersgrenze erreichte. Keiner der Präsidenten ist zurückgetreten, verstorben oder aus sonstigen Gründen unerwartet aus dem Amt geschieden. Vielmehr verloren die Präsidenten – vollkommen voraussehbar – mit ihrem 68. Geburtstag eine Wählbarkeitsvoraussetzung (§ 4 Abs. 1 ThürVerfGHG). Da das Gesetz zum Thüringer Verfassungsgerichtshof ursprünglich keine Regelung enthielt, wie bei einer Vakanz oder Verhinderung des Präsidenten zu verfahren sei, wurden die Vorsitzendenfunktionen „vom dienstältesten berufsrichterlichen Mitglied des Verfassungsgerichtshofs wahrgenommen.“2) Schließlich wurde 2022 einfachgesetzlich die Position eines Vizepräsidenten geschaffen.

Der Thüringer Landtag ist nicht das einzige Parlament, das Richter zu Verfassungsgerichten verspätet wählt.3) Die Richter des Berliner Verfassungsgerichtshofes sprechen durchschnittlich über fünf Monate „geschäftsführend“ Recht, weil das Berliner Abgeordnetenhaus immer wieder daran scheiterte, freiwerdende Positionen fristgerecht zu besetzen. Viele Richter mussten ihr Amt daher so lange geschäftsführend ausüben, bis Nachfolger gewählt waren.4) Laut Klaus von der Weiden gab es beim Bundesverfassungsgericht sechs Vakanzen zwischen 2 und 20 Monaten.5) Doch blieben dies temporär begrenzte Vakanzen, die die Beschlussfähigkeit des jeweiligen Gerichtes nicht grundsätzlich in Frage stellten. Immerhin weisen diese Fälle die Frage auf, wie die Funktionsfähigkeit eines Verfassungsgerichtes garantiert werden kann, wenn das Parlament seine Wahlfunktion nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt.

Für Klaus von der Weiden, den amtierenden Präsidenten des Thüringer Verfassungsgerichtshofes, kann es aufgrund entsprechender rechtlicher Vorkehrungen grundsätzlich kein funktionsunfähiges Verfassungsgericht geben.6) Schon der Justizgewährleistungsanspruch und der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz schließe die „Regelungsoption Funktionsunfähigkeit“ aus, so Klaus von der Weiden.7) Er unterscheidet dabei drei Varianten, mit denen diesem Anspruch in der Verfassungswirklichkeit Geltung verschafft wird: das Amtsfortführungsprinzip, das Vertreterprinzip und das Richterbankreduzierungsprinzip.8) In den Ländern finden sich alle Varianten in unterschiedlicher Kombination. Berlin verbindet das Richterbankreduzierungsprinzip mit dem Amtsfortführungsprinzip. Beschlussfähig ist der Berliner Verfassungsgerichtshof, bei dem es keine Stellvertreter gibt, „wenn mindestens sechs Verfassungsrichter anwesend sind“, wobei sich die Zahl weiter ermäßigt um ausgeschlossene und abgelehnte Verfassungsrichter „sowie um die ausgeschiedenen Verfassungsrichter, für die noch keine Nachfolger ernannt sind“ (§ 11 Abs. 1 BerlVerfGHG). Amtsfortführung und Stellvertreterprinzip finden sich in Thüringen. Mitglieder/Stellvertreter führen nach Ende ihrer gesetzlichen Amtszeit „bis zur Wahl des Nachfolgers die Amtsgeschäfte“ fort (§ 3 Abs. 2 Satz 2 ThürVerfGHG), während § 8 Abs. 1 ThürVerfGHG detaillierte Regelungen zur Vertretung enthält, sollte nicht nur ein Mitglied, sondern auch ein Stellvertreter verhindert oder befangen sein. Diese Regelungen greifen ebenso im Falle einer Vakanz, also wenn die Wahl eines Nachfolgers nicht fristgerecht erfolgt und eine Position am Verfassungsgerichtshof unbesetzt ist. Auch dann, so Klaus von der Weiden, sei der Thüringer Verfassungsgerichtshof aufgrund der Möglichkeit der Stellvertretung „ordnungsgemäß besetzt“. Zwar bezieht sich von der Weiden hier auf die Nachwahl für ein altersbedingt ausscheidendes Mitglied, doch lassen sich seine Schlussfolgerungen ohne Weiteres verallgemeinern. Denn in jedem Fall gelte es zu verhindern, dass „das Parlament die Funktionsunfähigkeit des Verfassungsgerichts – etwa bei einer bestimmten politischen Lage und mit einer Sperrminorität von einem Drittel radikaler Kräfte, aber durchaus auch durch eine Parlamentsmehrheit, die sich der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entziehen will – gezielt“ herbeiführt.9) Ein beschluss- und funktionsunfähiger Verfassungsgerichtshof ist für Klaus von der Weiden damit schlicht unmöglich. Was nicht sein darf, kann nicht sein.

Allerdings könnte sich die Lage in Thüringen nach der nächsten Landtagswahl so kompliziert gestalten, dass von der Weidens „Lösung“ mehr Probleme schafft, als sie zu lösen verspricht. Nach aktuellen Umfragen (INSA; Stand: 17. Januar 2024) käme die AfD auf 31 Prozent der Stimmen und erhielte 29 Mandate. Dem Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) würden 17 Prozent der Wähler*innen ihre Stimme geben und ihm damit 16 Mandate im Landtag verschaffen. Die anderen im Landtag vertretenen Parteien hätten nach dieser Umfrage mit insgesamt 43 Mandaten nicht einmal mehr eine eigene Regierungsmehrheit und wären weit von einer Zweidrittelmehrheit entfernt, die für die Wahl von Verfassungsrichtern erforderlich ist. Damit stellt sich die von Lukas C. Gundling aufgeworfene Frage mit aller Dringlichkeit: „Was passiert, wenn die politischen Verhältnisse in Thüringen dazu führen, dass die vakanten Richter*innenposten am Thüringer Verfassungsgerichtshof über längere Zeit unbesetzt bleiben und deshalb das Gericht funktionsunfähig wird.“ Eine solche Situation würde, so Gundling weiter, den „Verfassungsstaat zumindest in eine Krise stürzen können“, zumal die Amtsfortführung nicht „unbegrenzt“ möglich sei, wie Gundling betont. Tod, Rücktritt, Altersgrenze, Eintritt in die Landesregierung oder Wahl in den Landtag würden unmittelbar die Amtszeit eines Mitglieds des Verfassungsgerichtshofes beenden und ggfs. eine Beschlussunfähigkeit des Verfassungsgerichtshofes provozieren. Eine Amtsfortführung scheide in diesen Fällen aus, und die Vertretung eines Mitglieds, das dem Verfassungsgerichtshof nicht mehr angehöre, sei schlicht unmöglich.

Lukas C. Gundling hat daher eine weitere Variante entwickelt: die Selbstergänzung, die ich in einem früheren Beitrag ebenfalls als Möglichkeit vorgeschlagen habe. Gundling will mit einer Verfassungsänderung dem Verfassungsgerichtshof das Recht einräumen, bei einer längerfristigen Vakanz Mitglieder selbst zu kooptieren. In einem solchen Fall mutiert der Verfassungsgerichtshof zu einem „Auffangwahlorgan“. Sollte der Landtag „innerhalb eines gewissen Zeitraums“ – Gundling denkt hier an mindestens sechs und höchstens zwölf Monate – keinen Nachfolger für ein ausscheidendes Mitglied wählen, könnte der Verfassungsgerichtshof als Auffangwahlorgan diese Aufgabe übernehmen und selbst darüber entscheiden, wer als „weiteres Mitglied“ – oder als Stellvertreter – dem Verfassungsgerichtshof angehören soll. Wie im Landtag wäre für die Wahl eines Mitglieds/Stellvertreters bzw. eines Präsidenten/Vizepräsidenten eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, wobei sowohl Mitglieder als auch Stellvertreter stimmberechtigt sein sollen, um eine ausreichend große Anzahl an Abstimmungsberechtigten zu garantieren.10) Dasselbe gelte für Mitglieder, die „noch in der Amtsfortführung sind“; auch sie würden dem Auffangwahlorgan angehören und über ihre eigenen Nachfolger befinden. Die in einem solchen Verfahren gewählten Mitglieder/Stellvertreter müssten vor dem Landtag ihren Amtseid leisten. Dem Landtag sollte überdies „das Recht eingeräumt werden, das vom Verfassungsgerichtshof gewählte Mitglied jederzeit durch ein anderes, mit einer Zweidrittelmehrheit im Landtag ordentlich gewähltes Mitglied zu ersetzen.“

Das ist zweifellos ein interessanter und diskussionswürdiger Vorschlag, der für Gundling jedoch „nur eine denkbare Möglichkeit“ darstellt. Eine andere wäre, dem Bundesverfassungsgericht mittels Organleihe (Art. 99 GG) die Kompetenz zu übertragen, landesverfassungsrechtliche Streitigkeiten zu entscheiden. Mit dem Ansatz Klaus von der Weidens teilt Gundling das Ziel, auch bei polarisierten politischen Konstellationen den Verfassungsgerichtshof beschluss- und funktionsfähig zu halten. Ebenso teilen beide die Prämisse, dieses Ziel durch eine Autonomisierung des Verfassungsgerichtshofes zu gewährleisten. Die Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichtshofes soll dadurch garantiert werden, dass der Einfluss von Parteien und Parlament bei politischen Blockaden zurückgedrängt, im Grunde – zumindest vorübergehend – eliminiert wird. Gleichwohl weist die Selbstergänzung einige mögliche Fallstricke auf.

Die Selbstergänzung im Test: ein Gedankenexperiment

Ab hier ist alles Spekulation. Wir wissen nicht, was passieren wird und können lediglich begründet vermuten und plausibel raten. Mit dem Instrument der Selbstergänzung gibt es in der Bundesrepublik Deutschland auch keine historischen Erfahrungen, aus denen Lehren gezogen werden könnten. Doch immerhin lässt sich der Vorschlag Gundlings durch ein Gedankenexperiment auf seine Praxistauglichkeit hin prüfen. Unterstellt ist dafür, dass sich der 8. Landtag, der am 1. September 2024 gewählt wird, am 30. Tag nach der Wahl, das ist der 1. Oktober 2024, konstituiert und dass die Wahl zum 9. Landtag rund 60 Monate später stattfindet, sagen wir: am 28. Oktober 2029. Insoweit ginge alles seinen verfassungsrechtlich vorgesehenen Gang – eine zugegeben durchaus heroische Annahme. Zugleich wird vermutet, dass kein Mitglied des Thüringer Verfassungsgerichtshofes vorzeitig aus dem Amt scheidet und dass der Landtag die Nachfolger der 2017 ernannten Stellvertreter noch in der 7. Legislaturperiode wählt, d.h. noch 2024. Unter diesen Voraussetzungen wären in der 8. Wahlperiode folgende Positionen am Verfassungsgerichtshof neu zu besetzen: 2025 wären zwei Stellvertreter und 2026 wäre ein Mitglied zu wählen. Da der Landtag am 4. Februar 2022 ein Mitglied, am 5. Mai 2022 den Präsidenten und am 23. September 2022 sechs weitere Mitglieder bzw. drei Stellvertreter gewählt hat, müsste der 8. Landtag am Ende der Legislaturperiode nahezu den gesamten Verfassungsgerichtshof neu besetzen. Erschwerend käme hinzu, dass die Wahlen der Nachfolger bei einer siebenjährigen Amtszeit im Februar, Mai und September 2029 durchzuführen wären, sprich in die die Phase des (Vor-)Wahlkampfes für den 9. Landtag fielen. Dass ein ohnehin polarisierter Landtag unter solchen Voraussetzungen den Verfassungsgerichtshof fast vollständig neu besetzen kann, scheint wenig wahrscheinlich. Was umso dramatischer wäre, da in einer solchen Situation der Verfassungsgerichtshof politische Konflikte befrieden und Organstreitigkeiten entscheiden könnte. Wie aber könnte eine Selbstergänzung in einer solchen Situation helfen?

Um diese Frage zu beantworten und die Praxistauglichkeit der vorgeschlagenen Selbstergänzung zu diskutieren, sind zwei Fallkonstellationen zu unterscheiden, die sich beide in der 8. Wahlperiode einstellen könnten. Zur ersten Fallkonstellation: Sollte es dem am 1. September 2024 gewählten 8. Landtag nicht gelingen, 2025 die beiden ausscheidenden Stellvertreter sowie 2026 ein neues Mitglied zu wählen, wäre eine Selbstergänzung – in Kombination mit der Amtsfortführung – eine durchaus praktikable Option. Der Verfassungsgerichtshof hätte als Auffangwahlorgan ausreichend Zeit und eine ausreichend große Anzahl von Mitgliedern/Stellvertretern, die noch durch den Landtag gewählt wurden, um neue Mitglieder/Stellvertreter zu kooptieren. Der Verfassungsgerichtshof könnte unter diesen Voraussetzungen seine Beschluss- und Funktionsfähigkeit ohne Weiteres aufrechterhalten. Die Selbstergänzung hätte eine mögliche Beschlussunfähigkeit verhindert, zumindest weniger wahrscheinlich gemacht.

Zur zweiten Fallkonstellation: Anders sähe dies 2029 aus, und zwar aus mehreren Gründen. Nimmt man die von Gundling vorgeschlagen M