25 February 2011

Ungarn: Kinderwahlrecht in die Verfassung?

Die ungarische Regierung, die mit ihrer Zweidrittelmehrheit dem Land eine komplett neue Verfassung verpassen will, hat dabei auch Innovatives im Sinn.

Eine der Dinge, über die sie nachdenkt, ist die Einführung eines Extra-Wahlrechts für Eltern im Namen ihrer Kinder. Das geht aus einem Fragenkatalog hervor, den die Regierung an sämtliche Ungarn verschickt hat, um die Präferenzen der Ungarn zu ausgewählten Fragen zu ermitteln.

Das allein schon ist ein eigentümliches Verfahren: Ungarns Regierungspartei FiDESZ will kein Referendum für die neue Verfassung, weil sie ihren Wahlsieg im April 2010 als hinreichende demokratische Legitimation zur Verfassungsgebung interpretiert. Dass das ein bisschen dünn ist (zumal das Thema Verfassungsgebung im Wahlkampf offenbar gar keine Rolle gespielt hat), scheint die Regierung jetzt selber zu finden – daher wohl diese Fragebogenaktion.

Ein Familienwahlrecht dieser Art wird in Deutschland auch immer wieder mal diskutiert.

Ich bin kein Freund dieser Idee. Ich hab zwar selber Kinder und könnte der Vorstellung, dass meine Stimme plötzlich dreimal so viel wert sein soll wie vorher, durchaus was abgewinnen. Aber für mein Geruchsorgan verströmt diese Idee einen unangenehmen Pfaffenduft nach patriarchalischer Bevölkerungspolitik.

Keimzelle der Gesellschaft ist das Individuum

Das Wahlrecht ist die Institution, in der sich die staatsbürgerliche Gleichheit handfest manifestiert: Jeder, ob reich oder arm, ob doof oder Professor, hat genau eine Stimme und nicht mehr oder weniger.

Wenn man das aufbricht zugunsten von zusätzlichen Stimmen für Eltern, dann ist das vielleicht aus Sicht einer Theologie, die die Familie als Keimzelle der Gesellschaft betrachtet, konsequent. Ich halte aber, und mit mir das Grundgesetz, immer noch das Individuum mit seiner Menschenwürde als die Keimzelle der Gesellschaft.

Dass die Eltern die Stimme sozusagen treuhänderisch für ihre Kinder abgeben sollen, ist natürlich eine Augenauswischerei.

Das Wahlrecht ist etwas Höchstpersönliches. Es gibt keine Stellvertretung dabei. Ich kann nicht meine Frau bevollmächtigen, wenn ich aus irgendwelchen Gründen nicht selbst ins Wahllokal kann. Das hat seine Gründe. Es ist noch nicht lang her, da gehörte es zu den Vorrechten des grundbesitzenden Familienvaters, im Namen von Hausstand und Gesinde seine Stimme abzugeben.

Ich weiß nicht, zu welchen Zeiten Fidesz gern die Uhr zurückstellen würde, aber halte das eigentlich für einen Fortschritt, dass wir das überwunden haben.

Grundpflichten

Ein weiterer etwas streng riechender Punkt in der Frageliste: Soll es neben Grundrechten auch Grundpflichten in der Verfassung geben?

Auch das ist ein zutiefst illiberaler Gedanke. Er impliziert, dass hier der Staat ist und dort seine Bürger, und wenn die einen vom anderen was verlangen können, dann auch umgekehrt. Der Staat ist aber um der Bürger willen da, umgekehrt dezidiert nicht.

Ironie dabei: Grundrechte durch Grundpflichten zu relativieren, war ein Kennzeichen der kommunistischen Verfassungen, deren Geist Fidesz vorgeblich mit ihrer neuen Verfassung endlich bannen möchte. Beispiel Art. 59 der sowjetischen Verfassung:

Die Verwirklichung der Rechte und Freiheiten durch den Bürger ist nicht zu trennen von der Erfüllung seiner Pflichten.

Foto: Yolanda Fenwick, TheShutterBabe, Flickr Creative Commons


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Ungarn: Kinderwahlrecht in die Verfassung?, VerfBlog, 2011/2/25, https://verfassungsblog.de/ungarn-kinderwahlrecht-die-verfassung/, DOI: 10.17176/20181008-124405-0.

19 Comments

  1. Simon v. Schwerin Fri 25 Feb 2011 at 23:29 - Reply

    Völlig falsch ist die Annahme, Ihre Stimme solle plötzlich dreimal so viel wert sein wie vorher. Ihre Kinder würden jeweils eine eigene Stimme erhalten, welche treuhänderisch von den Eltern ausgeübt werden soll. Erst dadurch erhält jedes Individiuum eine eigene Stimme!
    Man mag das als Augenauswischerei bezeichnen; wer aber gut 14 Milionen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern von der Wahl ausschließt, der verschließt die Augen! (Vielleicht auch davor, dass unsere Gesellschaft vielschichtiger ist als reich oder arm, doof oder Professor!?)

    Wirklich diskutiert wurde das “Wahlrecht von Geburt an” in Deutschland leider auch nicht (jedenfalls nicht auf politischer Ebene). Die entsprechenden, überparteilich in den Bundestag eingebrachten Anträge wurden 2009 mit dem Ende der 16. Wahlperiode zuletzt ohne eine Beratung des federführenden Ausschusses zu den Akten gelegt…

    Ungarn wagt sich hier mit einem mutigen Schritt nach vorn in Richtung Generationengerechtigkeit!

    http://www.wahlrecht-von-geburt-an.de

  2. Max Steinbeis Sat 26 Feb 2011 at 09:43 - Reply

    Treuhänderisch von den Eltern ausgeübt: Was soll das sein? Treuhänderisch für jemand anderen einen Vertrag abschließen, da kann ich mir was drunter vorstellen: Der soll halt nicht seine eigenen Interessen, sondern meine bei der Aushandlung des Vertrags verfolgen.
    Aber bei der Stimmabgabe? Soll ich für mein Kind die Piratenpartei wählen, wenn es gern Musik schwarz downloaded? Soll ich die Kinderstimme den Grünen geben wegen Nachhaltigkeit und so? Mit anderen Worten: Kann sich irgendjemand auch nur in your wildest dreams etwas anderes vorstellen als dass ich einfach drei Kreuzchen hinter die Partei meiner höchstpersönlichen Präferenz mache statt einem?
    Das hat nix mit Generationengerechtigkeit zu tun, sondern pampert nur die holier-than-thou-Attitüde mancher Eltern gegenüber den Kinderlosen und zieht der staatsbürgerlichen Gleichheit den Boden unter den Füßen weg.

  3. Simon v. Schwerin Sat 26 Feb 2011 at 11:54 - Reply

    Genau das soll es sein: Nicht die eigenen Interessen verfolgen, sondern – mit der Stimme des Kindes – dessen Interessen vertreten. Eltern sollte das zugetraut werden!
    Wenn sich dann z.B. – ohne das Beurteilen zu wollen – herausstellt, dass die künftige Erwachsenengeneration ein breites Interesse an der Aufhebung von Urheberrechten teilt, dann müsste eben auch das akzeptiert werden…

  4. Dierk Sat 26 Feb 2011 at 13:02 - Reply

    Ih stelle mir das sehr unterhaltsam vor, da wird für das gestern geborene Baby eine Stimme durch den Vater abgegeben, natürlich für die Rabäääähh-Partei, weil er ja nicht gegen den Willen seines Kindes stimmen würde. Und wenn das Blag 15 ist, mit eigenem Kopf und den ersten politischen Vorstellungen, streiten sich CDU-Papa und Spättechnopunk mit Hang zum Gammeln jeden Abend lautstark darüber, ob die Anti-Arbeits-Partei ‘Kein Job für Alle’ überhaupt ernst zu nehmen sei. Papa geht am Wochenende dann zur Wahl und stimmt selbstverständlich im Sinne seines Kindes.

    Wenn wir davon ausgehen, dass die Menschen generell in jedem Alter befähigt sind, komplexe politische Entscheidungen zu treffen, wieso darf mein 6-jähriger dann keinen Kaufvertrag über mehr als ca. € 2 abschließen? Was ist mit Abonnements, Führerschein, Alkoholgenuss?

    Richtig ist, das Wahlalter bzw. die Grenze zur Volljährigkeit sind willkürliche Festlegungen, das bedeutet aber noch lange nicht, dass es nicht gute Gründe für diese gibt. Über diese Grenze kann und muss regelmäßig diskutiert werden, sie wurde ja auch schon nach unten geschoben. Solange wir ‘one man, one vote’ die Grundlage für unsere Demokratie bildet, ist es einfach nicht möglich, dass Mama oder Papa mehr als eine Stimme abgeben.

    Ansonsten traue ich Eltern, wenn es ums Kindswohl und die Zukunft geht, ebensoweit wie Lehrern, Kindergärtner oder katholischen Priestern [in der Jugendarbeit]. Nämlich gar nicht. Zum Glück ist dies Art des Vertrauens für eine offene Gesellschaft auch gar nicht notwendig.

  5. Simon v. Schwerin Sat 26 Feb 2011 at 19:15 - Reply

    Wer – egal in welchem Lebensalter – politische Vorstellungen formulieren kann dem sollte die Möglichkeit gegeben werden, sich selbst in ein Wählerverzeichnis eintragen zu lassen.
    Die politische Diskussion in der Familie wie auch in der Schule wäre doch nicht nur unterhaltsam, sonstern höchst wünschenswert!

    Nicht jeder Mensch in jedem Alter kann generell befähigt sein, komplexe politische Entscheidungen zu treffen. Es kontrolliert ja auch niemand, ob ein über 18jähriger dazu fähig ist. Bis vor einiger Zeit wurde diese Fähigkeit auch der weiblichen Bevölkerung noch abgesprochen.

  6. rkhb Sat 26 Feb 2011 at 19:53 - Reply

    “Ein Familienwahlrecht dieser Art wird in Deutschland auch immer wieder mal diskutiert.” (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/098/1609868.pdf)

    Ich habe das Dokument gelesen. Ach Du meine Güte: “Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf (…) vorzulegen”. Dürfte dann auch die Bundesregierung das Gesetz treuhänderisch für den Bundestag verabschieden?

    Es gäbe dann Menschen mit Stimme aber ohne Stimmrecht. Man könnte dann weitere Stimmabgabeberechtigungen einführen, z.B. der Arbeitgeber für alle ausländischen Arbeitnehmer, der Gefängnisdirektor für alle nicht stimmberechtigten Gefangenen (s. hier im Blog), das Jugendamt für alle nichtehelichen Kinder, die Erben für die im Koma liegende Erbtante. Das klingt spaßig, ist es aber überhaupt nicht. Hat jemand bemerkt, dass ich den Kreis der Wahlberechtigten um juristische Personen erweitert habe?

    Zweck der Sache ist, unbequeme Bevölkerungsschichten von der politischen Mitwirkung auszuschließen. Für den Katalog möglicher weiterer Maßnahmen genügt ein bißchen Phantasie oder ein Blick in das Geschichtsbuch (z.B. Dreiklassenwahlrecht, Aberkennung der Staatsbürgerschaft, Notstandsgesetzgebung, Ämter- und Titelkauf, Gottesgnadentum).

  7. Der Da Mon 28 Feb 2011 at 13:08 - Reply

    Meine Tochter überraschte mich vor einer Woche mit der Aussage “Die Türken nehmen uns die ganzen Parkplätze weg”. Nun gibt es in unserem Viertel weder Parkplätze noch Türken – sehr schade, denn so kommen wir an frisches Gemüse und Obst und vor allem Lammfleisch nur wenn wir einen Umweg über Kreuzberg nehmen, was aber kein Problem ist, denn erstaunlicherweise gibt es dort noch genügend Parkmöglichkeiten. Frage: Wie verhalte ich mich als Treuhänder jetzt richtig. Muss ich eine rechte