Warum Viktor Orbán nie wieder vor Wahlen Angst haben muss
Mittlerweile gibt es eine englische Übersetzung des ungarischen Verfassungsentwurfs, zu finden hier: Draft of Fundamental Law of 14 March 2011_RP. Das ist wichtig, weil die Orbán-Regierung darauf pocht, dass im Ausland niemand mitkriegt, was hier läuft. Weil niemand den ungarischen Text versteht. So lief das beim Mediengesetz ja anfangs auch.
Das Bild klärt sich weiter, wird aber nicht schöner.
Nach weiteren zwei Tagen in Budapest und vielen, vielen Gesprächen zeigt sich das Konstrukt Viktor Orbáns zur Zementierung seiner Kontrolle über das Land auf Jahrzehnte hinaus in seiner ganzen schillernden Pracht.
Ihre Zweidrittelmehrheit werden Orbán und seine nationalkonservative Koalition 2014 womöglich wieder verlieren. Aber das macht nichts. Denn mit der neuen Verfassung ist auf das Schönste dafür gesorgt, dass ohne Orbán weiterhin nichts geht. Auf Jahrzehnte nicht. Orbán bleibt der starke Mann, selbst wenn er den Ministerpräsidentenposten verliert. Und zwar ziemlich egal, wen die Ungarn wählen.
Und das ist so raffiniert gemacht, das ringt mir schon fast wieder Bewunderung ab.
Jetzt durchregieren, später Kompromisse erzwingen
Es gibt in Ungarn die Besonderheit, dass die Verfassung einige grundlegende Gesetze an eine Zweidrittelmehrheit knüpft. Das war bisher schon so und hat dafür gesorgt, dass die Parteien miteinander reden mussten. Das mag Orbán bekanntlich überhaupt nicht, und deshalb hatten nicht wenige damit gerechnet, dass Orbán jetzt die Zahl dieser Zweidrittelmehrheits-Gesetze reduzieren würde.
Hat er aber nicht. Er hat sie sogar noch ausgeweitet.
Der Grund liegt auf der Hand: Er selbst hat ja eine Zweidrittelmehrheit, für ihn ist das also fürs erste kein Hindernis. Aber wenn er die einmal verliert, wenn er abgewählt wird, wenn er in die verhasste Opposition zurück muss: Dann wird das für ihn sehr nützlich. Denn dass die Sozialisten, Liberalen und Grünen jemals gegen Orbáns Fidesz und die rechtsextreme Jobbik-Partei eine Zweidrittelmehrheit zusammen bekommen, kann man getrost vergessen.
Das heißt: Bis 2014 kann er tun und lassen, was er will. Und danach muss er vor jedem wichtigen Schritt gefragt werden.
Dieses Tool setzt Orbán gezielt ein, um seine Politik vor einer Korrektur nach einer eventuellen Wahlniederlage zu schützen: So steht beispielsweise in Art. 40, dass grundlegende Reformen des Steuerrechts und der Altersversorgung einer Zweidrittelmehrheit bedürfen.
Orbán hat eine radikale Flat Tax eingeführt: Milliardäre zahlen den gleichen niedrigen Steuersatz wie kleine Angestellte. Wer jemals in Ungarn wieder eine steuerrechtliche Progression einführen will, braucht dafür zwei Drittel. Und die wird er nicht bekommen.
Orbán hat weiter die private Altersversorgung verstaatlicht. Auch das soll von den diebischen Sozialisten nie, nie wieder revidiert werden können. Dafür ist gesorgt.
Orbán geht, Orbáns Leute bleiben
Auch personell sorgt Orbáns Verfassung dafür, dass Wahlniederlagen der Macht von Fidesz nicht viel anhaben können.
Schon im letzten Jahr hatte Orbán die Amtszeit vieler Schlüsselpositionen auf neun Jahre verlängert: der Generalstaatsanwalt, der Chef des Rechnungshofs, die Leitung der Medienaufsichtsbehörde – alles treue Fidesz-Anhänger, die zur Stelle sein werden, sollten 2014 die Sozialisten erneut durch einen Wahlsieg die ungarische Nation erniedrigen.
Und wenn die neun Jahre um sind? Auch dann braucht Orbán keine Angst zu haben, dass ihm unangenehme Leute in diese Positionen rücken. Denn sie werden ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Zumindest im Fall des Generalstaatsanwalts, zu dessen Aufgaben es gehört, die Korruption der sozialistischen Regierung zu verfolgen (die es zweifellos gegeben hat), wird der gegenwärtige Fidesz-Mann wohl bis ins Greisenalter im Amt bleiben. Denn solange keine Zweidrittelmehrheit für einen Nachfolger zustande kommt (und warum sollte sie?), wird er auch nicht abgelöst.
Das trifft auch die Justiz: Die Amtszeit der Verfassungsrichter wird auf zwölf Jahre verlängert. Einige, die echt nah dran sind am Prozess, halten es nicht für ausgeschlossen, dass Orbán die Gelegenheit ergreift, im Sommer oder Herbst die Richter komplett auszutauschen. Schließlich betont die Präambel, dass es keine Rechtskontinuität zur alten Verfassung geben soll – da kann man sich auch auf den Standpunkt stellen, dass die alten Verfassungsrichter ihre Legitimation verloren haben. Die Folge: Eine komplett mit Fidesz-Leuten besetzte Richterbank sorgt dafür, dass fortan nach Orbáns Geschmack geurteilt wird.
Ob sich Orbán das traut, ist allerdings die Frage. Der Skandal wäre sicher enorm. Eins kann er aber jetzt schon nach der neuen Verfassung: Der Präsident des Gerichts, bisher den Richtern selbst zur Wahl überlassen, wird künftig vom Parlament gewählt. Amtsinhaber Péter Paczolay wird wohl im Juli, wenn seine dreijährige Amtszeit abläuft, durch einen der Fidesz-treuen Kollegen ersetzt. Der bleibt dann Präsident bis zum Ablauf seiner Amtszeit.
Auch der Präsident des Obersten Gerichtshofs könnte seinen Job verlieren. Das Gericht soll künftig “Kuria” heißen – eine weitere Anspielung auf die protofaschistische Hórthy-Republik der Vorkriegszeit, in der das Gericht diesen Namen trug. Diese Umbenennung, so mutmaßen manche, könne man auch als Neugründung deuten – und auf die Weise den aktuellen Gerichtspräsidenten András Baka loswerden und durch einen Parteigänger ersetzen. Amtszeit: Neun Jahre, und der Nachfolger braucht eine Zweidrittelmehrheit.
Mit 2/3-Mehrheit oder gar nicht regieren
Dann gibt es da noch eine Neuerung: ein so genannter Haushalts-Ausschuss, bestehend aus dem Notenbankchef, dem Chef des Rechnungshofs und einem Leiter des Ausschusses – Amtszeit: sechs Jahre. Dieser vom Parlament unabhängige Ausschuss kann sein Veto gegen den Haushalt einlegen, wenn dieser gegen die ebenfalls neue, sehr strenge Schuldenbremse verstößt.
Das ist super: In Zeiten der Not kann die Regierung weder sparen – weil sie für eine Reform des Steuer- und Rentenrechts eine Zweidrittelmehrheit braucht. Noch kann sie Schulden machen – weil sonst dieser Ausschuss ihren Haushalt nicht genehmigt. Wenn aber das Parlament bis 31. März des jeweiligen Jahres keinen Haushalt beschließt, kann nach Art. 3 III der Präsident Neuwahlen ausrufen. Dann schlägt Viktor Orbáns Stunde zur Rückeroberung der Zweidrittelmehrheit.
Ergebnis: Unter dieser Verfassung kann man nur entweder mit Zweidrittelmehrheit oder gar nicht regieren.
Die Ungarn werden sich daran gewöhnen müssen: Wenn sie keine Hänge-und-Würge-Politik haben wollen, dann müssen sie halt Fidesz wählen.
Man reibt sich die Augen: Diese Verfassung könnte tatsächlich Orbáns Identifikation seines Führungsanspruchs mit dem Willen der ungarischen Nation zu einer sich selbst reproduzierenen Realität machen.
Diktatoren der Welt, wenn ihr nicht so enden wollt wie Mubarak: So müsst ihr es machen. So sorgt man auf strikt demokratische, strikt legale Weise dafür, dass man immer und ewig mächtig bleibt. Von Viktor Orbán lernen, heißt herrschen lernen. Hut ab: Der Mann ist in gewisser Weise richtig gut.
Eins immerhin, und das tröstet mich ein bisschen, stellt die Geschichte ein für allemal unter Beweis: Constitutions do matter.
Update: Neben der Präambel ist jetzt auch der erste Teil “Grundlagen” ins Deutsche übersetzt.
Update: Ich habe für den Comparative Constitutions Blog einen Artikel auf Englisch über die Situation in Ungarn verfasst.
Update: Mein Interview für die FAZ mit János Kis jetzt hier. Und mein Essay über die verfassungsrechtlichen Auswirkungen ds Verfassungsentwurfs ist in der Montagsausgabe im Feuilleton abgedruckt. Eine Reportage über die politischen Hintergründe wird folgen (wenn nicht wieder ein Krieg oder ein Kernkraftwerk oder sonstwas dazwischen kommt…)
Update: Im Deutschlandfunk stimmt mir (bzw. János Kis) Paul Lendvai zu.
Update: Zu sehr ähnlichen Schlüssen kommt Eva Balogh im Blog Hungarian Spectrum:
In brief, this constitution provides for Fidesz supremacy in the coming decades. In the case of a lost election, the country will be ungovernable. To change the constitution in the future will be well nigh impossible because of the two-thirds rule; Hungary is unlikely to see an electoral victory any time soon that is as sweeping as Fidesz’s was in 2010.
Update: Die Budapester Zeitung pinkelt mir wegen meines FAZ-Artikels ans Bein. Der Vorwurf mangelnder journalistischer Sorgfalt ist aber gottlob selbst so eklatant unsorgfältig geführt, dass ich mir grinsend eine saubere Hose anziehen gehe.
Update: Die Einwände der Venice Commission des Europarats gegen den Verfassungsentwurf, v.a. gegen den engen Zeitplan und den Mangel an Öffentlichkeit, hier. Eine Liste der wichtigsten Fehler der offiziellen englischen Übersetzung, die den Schluss zulassen, dass die ungarische Regierung womöglich die EU und die europäische Öffentlichkeit bewusst über ihre Absichten täuschen will, gibt es hier bzw. hier.
Update: Bei Hungarian Voice gibt es die Übersetzung eines Aufsatzes, der der Frage nachgeht, ob jetzt die gesamte feinst ziselierte Rechtsprechung des ungarischen Verfassungsgerichts in die Tonne getreten werden müssen.
Update: Andrew Arato, der ungarischstämmige New Yorker Demokratietheoretiker, hält die neue Verfassung mit bedenkenswerten Gründen nicht nur für illegitim, sondern sogar für illegal: Eigentlich ist nämlich für eine neue Verfassung eine 4/5-Mehrheit nötig, nur hatte FIDESZ dies mittels ihrer 2/3-Mehrheit kurzerhand geändert – jetzt reicht eine 2/3-Mehrheit. Das ist so, als würde im Grundgesetz Art. 79 III mit Zweidrittelmehrheit eingeschränkt – kann gar nicht sein.
Update: Die deutsche Übersetzung der Verfassung ist jetzt auf der Website der Andrassy-Universität verfügbar.
Was mich sehr wundert ist, dass die Reaktion der Presse, sowie der EU (Mitgliedsstaaten) zu der neuen Verfassung quasi gegen Null geht.
Wie kann es sein, dass diese Änderung, insbesondere vom derzeitigen Vorsitzstaat, ohne Widerspruch durch die EU abgeht?
Was die Presse betrifft: Sagen wir so – ich arbeite dran. Im Moment ist mit Krieg und Kernkraft einfach so irrsinnig viel los, dass das Thema einfach untergeht. Aber so Gott will, wird sich das noch in dieser Woche ändern.
Und die EU? Die kann nicht viel machen. Es wird bestimmt Resolutionen des EP geben. Aber die Kommission hat rechtlich keine wirkliche Handhabe. Sarko und Merkel könnten den Herrn höchstens politisch unter Druck zu setzen versuchen, aber ob das viel bringt?
Was allerdings Dynamik in die Sache bringen kann, ist ein Vertragsverletzungsverfahren, das gegen Ungarn wegen eines neuen Gesetzes zur Besteuerung von Telekomunternehmen läuft. Das ist so ein Fall, wo das ungarische Verfassungsgericht neuerdings keine Kompetenz mehr hat (vermutlich jedenfalls, das ist noch anhängig). Aber vom EuGH könnte Orbán tüchtig einen eingeschenkt bekommen.
so schnell schießen die ungarn nicht. den ungarn wird ja nachgesagt, ein volk von rechtsanwälten zu sein, das sind sie auch. egal was orbán verabschiedet, die verfassung wird in der nächsten legilaturperiode einfach für ungültig erklärt und die sache hat sich. das kann man schon so drehen und wenden.
was man nicht vergessen darf, es formt sich im moment auch eine “zivile” opposition, die wohl nicht zu unterschätzen sein wird, wenn sie schon jetzt imstande ist 50.000 menschen zu einer demo auf die straßen budapests zu bringen.
die sozialisten haben sicher kein “leiberl” bei der nächsten wahl. dafür sind einfach zu viele völlig unbegabte politiker dabei.
“einfach für ungültig erklärt”, was? Wie soll das denn gehen? Staatsstreich? Verfassungskrise?
Die zivile Opposition: Das wäre natürlich toll. Aber nach meinem Eindruck sind die meisten hier eher politikverdrossen/indifferent/apathisch bisher.
in ungarn geht vieles, was man sich in dt. zb. nicht vorstellen kann. wenn die neue verfassung verfassungswidrig ist, ist sie automatisch ungültig. und das wird sie wohl sein.