25 July 2025

Weg frei für „Berlin autofrei“

Der VerfGH Berlin zu politischer Gestaltung und Grundrechtsschutz im öffentlichen Raum

Nach dem Erfolg von „Deutsche Wohnen enteignen“ dürfte Berlin bald über das nächste Volksbegehren abstimmen, das die Stadt lebenswerter machen soll: „Berlin autofrei“. Die Initiative will den individuellen Kfz-Verkehr innerhalb des S-Bahn-Rings weitgehend verbieten. Die Berliner Senatsverwaltung hatte das Volksbegehren zunächst gestoppt: Ein derart weitreichender Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit sei unverhältnismäßig. Dieser Auffassung – die ich hier bereits kritisiert habe – ist der VerfGH Berlin nun entgegengetreten. Der Gerichtshof hält das Volksbegehren für vollumfänglich zulässig und bestätigt damit, dass der öffentliche Raum in demokratischen Verfahren weitreichend politisch umgestaltet werden kann. So sehr dieses Ergebnis aus meiner Sicht zu begrüßen ist, schreibt die Argumentation des VerfGH allerdings auch eine zweifelhafte grundrechtsdogmatische Auffassung fort: dass die Aufhebung des Gemeingebrauchs im bisherigen Umfang bereits keinen Eingriff darstelle. Im Ergebnis erkennt der VerfGH völlig zu Recht an, dass es zwar kein „Grundrecht auf Autofahren“ gibt, doch besondere Mobilitätsbedürfnisse durchaus grundrechtlichen Schutz genießen. Dies hätte der Gerichtshof bruchloser argumentieren können, wenn er die Eingriffsqualität anerkannt hätte.

Hintergrund

Die Berliner Verfassung ermöglicht in Art. 63 – wie die Verfassungen der meisten Länder – die Volksgesetzgebung. Hierzu sind in einem ersten Schritt 200.000 Unterschriften vorzuweisen. Bevor die notwendigen weiteren Unterschriften von 7 % der Wahlberechtigten gesammelt werden und dann die Volksabstimmung stattfinden kann, wird der Gesetzesentwurf zunächst einer Rechtsprüfung unterzogen. § 12 Berliner Abstimmungsgesetz (AbstG) stellt bestimmte Zulässigkeitsvoraussetzungen auf, vor allem die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht. Kommt die Senatsverwaltung des Innern bei der ihr obliegenden Prüfung nach § 17 AbstG zu der Einschätzung, dass ein Unzulässigkeitsgrund im Sinne von § 12 AbstG vorliegt, hat sie die Sache nach § 17 Abs. 9 AbstG dem Verfassungsgerichtshof vorzulegen. Gesetzesentwürfe eines Volksbegehrens unterliegen also schon vorab einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Das ist im Kontext der deutschen Gesetzgebung ungewöhnlich: Die vom Bundestag und den Landesparlamenten verabschiedeten Gesetze können bekanntlich erst nach ihrem Inkrafttreten Gegenstand von Normenkontrollverfahren werden, meistens kommt die Frage nach deren Verfassungsmäßigkeit sogar erst in Anwendungsfällen auf. Bei der Volksgesetzgebung liegt eine Vorabklärung dagegen nahe: Sie vermeidet den ggf. unnötigen Aufwand der Unterschriftensammlung und wird der starken Legitimation direkter Demokratie gerecht.

Die Entscheidung des VerfGH

Der VerfGH gelangt in seiner ausführlich begründeten Entscheidung vom 25. Juni 2025 zu dem Schluss, dass das Volksbegehren dem höherrangigen Recht entspricht und damit nach § 12 AbstG zulässig ist. Neben Passagen zur Gesetzgebungskompetenz des Landes, zur Gewaltenteilung sowie zur Vereinbarkeit mit Unionsrecht liegt der Schwerpunkt auf der Grundrechtsprüfung. Dabei stellt der VerfGH zuerst fest, dass die Grundrechte keinen Anspruch darauf vermittelten, den bisherigen Gemeingebrauch an öffentlichen Straßen aufrechtzuerhalten. Unter Verweis auf die Grundrechte könne nicht verlangt werden, bestimmte Nutzungsmöglichkeiten an Straßen überhaupt erst zu eröffnen. Deshalb schützten die Grundrechte auch nicht davor, die Widmung einer Straße nachträglich einzuschränken (S. 31). Unter dieser Prämisse hätte der VerfGH die Prüfung eigentlich bereits beenden können. Trotzdem setzt er sich eingehend mit einzelnen Grundrechtsgarantien auseinander. Dabei wird deutlich, dass Mobilitätsinteressen in unterschiedlicher Weise grundrechtlich relevant sind.

Einen ersten Schwerpunkt legt der VerfGH auf die Eigentumsgarantie (S. 34 ff.). Zwar schütze das Eigentum an Kraftfahrzeugen nicht davor, dass deren Nutzung in bestimmten Gebieten eingeschränkt werde. Als Anliegergebrauch schütze die Eigentumsgarantie jedoch zumindest die grundsätzliche Erreichbarkeit von Grundstücken. Ein Verstoß liege allerdings nach der etablierten Rechtsprechung nicht vor, weil sich dieses Mindestmaß bei privat genutzten Grundstücken gerade nicht auf das Anfahren mit Kraftfahrzeugen beziehe; bei gewerblichen Grundstücken sei die Erreichbarkeit mit den im Entwurf vorgesehenen Sondernutzungserlaubnissen sichergestellt.

Hinsichtlich der Berufsfreiheit betont der VerfGH, dass die geplanten Regelungen bereits keine berufsregelnde Tendenz aufwiesen. Vielmehr bestimmten diese nur reflexartig die Rahmenbedingungen der Berufsausübung, und zwar für alle Wirtschaftsakteure gleichermaßen (S. 38 ff.). Selbst wenn man von einem Eingriff ausgehe, sei dieser aber zu den verfolgten Zielen verhältnismäßig. Der Entwurf ziele nicht nur auf Immissionsschutz und Unfallverhütung, sondern auch auf eine höhere Wohn- und Aufenthaltsqualität in der Stadt. Alternativen wie Geschwindigkeitsbegrenzungen oder ein bloßes Verbot von Verbrennern seien zur Erreichung dieser Ziele nicht gleichermaßen geeignet. Auch dürfe der Volksgesetzgeber in einer Abwägung zwischen der Umgestaltung des öffentlichen Raums und der freien Berufsausübung ersterem den Vorzug geben. Angesichts des weiten politischen Gestaltungsspielraums bei Berufsausübungsregelungen seien die Belastungen für einzelne Berufsgruppen hinzunehmen. Dabei betont der VerfGH auch, dass die vielfältig vorgesehenen Sondernutzungserlaubnisse – trotz des damit einhergehenden administrativen Aufwands und etwaiger Kosten – die Eingriffe erheblich abmildern (S. 40 ff.).

Zur allgemeinen Handlungsfreiheit (S. 48 ff.) wiederholt der VerfGH zunächst die These von der fehlenden Eingriffsqualität der Regelungen, stellt aber hilfsweise fest, dass ein Eingriff gerechtfertigt wäre. Entscheidend ist für den Gerichtshof insoweit, dass der Eingriff nicht als schwerwiegend zu bewerten wäre, weil er eben nur eine bestimmte Form der Mobilität beträfe. Zwar empfänden es viele Menschen als wesentlichen Belang, Wohnungen, Arbeitsstätten sowie medizinische, kulturelle und religiöse Einrichtungen unbegrenzt selbst mit dem Auto anfahren zu können. Für die Persönlichkeitsentfaltung sei es dagegen nicht entscheidend, Autos im Innenstadtbereich unbeschränkt nutzen zu dürfen. Die Nachteile der Regelung erschöpften sich letztlich nur in einem höheren Aufwand, der mit anderen Mobilitätsformen einhergehe – und dieser sei grundsätzlich hinzunehmen.

Dieser Ansicht widerspricht Richter Burholt in seinem Sondervotum. Die Rechtsprechung zur Teileinziehung einzelner Straßen könne nicht auf eine derart großflächige Maßnahme, wie sie im Volksbegehren geplant ist, übertragen werden. Im Ergebnis teilt er die Einschätzung der Senatsverwaltung, wonach das Volksbegehren in unverhältnismäßiger Weise in die allgemeine Handlungsfreiheit eingreife.

Kein Eingriff?

Die These, dass eine Einschränkung der Nutzungsrechte an einer Straße durch hoheitliche Teileinziehung keinen Grundrechtseingriffe darstelle, ist – wie die vom VerfGH angeführten Belege aus der Rechtsprechung des BVerfG und der Verwaltungsgerichte zeigen – nicht neu. So hat der VGH Mannheim kürzlich entschieden, dass die Stadt Freiburg nicht in Grundrechte eingreift, wenn sie mit einem nächtlichen Musikboxenverbot in Parkanlagen durch Satzung die Benutzungsrechte an den öffentlichen Einrichtungen neu bestimmt. Die These hat insoweit eine gewisse Plausibilität für sich, als im Ergebnis klar ist, dass der öffentliche Raum in weitem Umfang politisch gestaltet werden kann. Die Gesellschaft kann in demokratischen Verfahren entscheiden, wie öffentliche Begegnungsräume aussehen sollen. Dabei zeigt gerade der Wunsch nach einer höheren Lebensqualität der Innenstädte in Abkehr vom Modell der „autogerechten Stadt“, dass sich soziale Vorstellungen, wie der öffentliche Raum zu gestalten ist, wandeln. In einer demokratischen Verfassungsordnung sollte das Recht nicht einmal etablierte Leitbilder zementieren.

Dennoch erscheint mir die Auffassung problematisch, dass Verhaltensverbote bei einer bestimmten Widmung öffentlicher Räume nicht in Grundrechte eingreifen. Schon im Ausgangspunkt ist es wenig plausibel, dass ein rechtliches Verbot tatsächlich möglicher Verhaltensweisen – also eine staatliche Verkürzung „natürlicher Freiheit“ – kein Eingriff sein soll. Man kann nun zwar argumentieren, dass die „natürliche Freiheit“ eben nur innerhalb staatlicher Widmungsentscheidungen grundrechtlichen Schutz genießt. Das ist allerdings verfassungstheoretisch fragwürdig. Wie Angelika Siehr in ihrer Habilitationsschrift zum Recht am öffentlichen Raum dargelegt hat (vgl. insb. S. 483 ff.), erscheint es im demokratischen Staat verfehlt, den öffentlichen Raum schlicht als Eigentum des Staates anzusehen, das für die Bürgerinnen und Bürger fremd ist. Die für das Privateigentum prägende Ausschluss- und Nutzungsfunktion des Rechtsinhabers passt offensichtlich nicht auf den öffentlichen Raum. Die öffentliche Hand verwaltet diese Räume zwar, aber eben nur treuhänderisch zugunsten der Bürgerinnen und Bürger, zu deren Nutzung der öffentliche Raum eigentlich bestimmt ist. Siehr spricht hier von einem in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 14 Abs. 1 GG verankerten „Nutzungseigentum“ der Bürgerinnen und Bürger. Bestimmte Nutzungen können bei kollidierenden Interessen und Wertvorstellungen natürlich eingeschränkt werden – doch diese Einschränkungen müssen sich grundrechtlich rechtfertigen lassen.

Diese Konzeption passt auch zu einer verfassungstheoretischen Grundannahme, die etwa Jürgen Habermas und Rainer Forst immer wieder betont haben: Politische Gestaltung und Grundrechtsschutz sind keine absoluten Gegensätze, sondern müssen zusammengedacht werden. Die Grundrechte verlangen für Freiheitseinschränkungen zunächst eine hinreichend demokratisch legitimierte Entscheidung (Vorbehalt des Gesetzes) und eine rationale Verknüpfung mit bestimmten Gemeinwohlzielen. Inhaltliche Grenzen für politische Entscheidungen ergeben sich nicht schon aus der in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Handlungsfreiheit, unter Umständen aber aus speziellen Grundrechten. Die neuere Rechtsprechung des BVerfG hat das jedenfalls für die Versammlungsfreiheit anerkannt. Anders als noch das BVerwG in der Hofgartenwiese-Entscheidung 1992 hat das BVerfG im Fraport-Urteil 2011 klargemacht, dass die Nutzbarkeit öffentlicher Räume für Versammlungen nicht von der Widmung als öffentliche Straße abhängt. Vielmehr müssen jedenfalls in „öffentlichen Foren“ Versammlungen grundsätzlich ermöglicht werden (vgl. dazu bereits hier).

Differenzierter Grundrechtsschutz von Mobilitätsbedürfnissen

Vor diesem Hintergrund dürften die eingehenden Ausführungen des VerfGH zu den einzelnen Grundrechten mehr sein als eine zusätzliche Absicherung. Dass das Eigentumsrecht an Grundstücken ein Mindestmaß an Erreichbarkeit gewährleistet, könnte man vielleicht auch als leistungsrechtliche Dimension dieses Grundrechts ansehen. Jedenfalls zieht der VerfGH hier – trotz der Grundthese der freien staatlichen Entscheidung über die Widmung – eine individualrechtliche Grenze ein. Auch in den hilfsweisen Ausführungen zur Berufsfreiheit und zur allgemeinen Handlungsfreiheit wird deutlich, dass der VerfGH Skrupel hätte, ausnahmslose Fahrverbote zu billigen. Vielmehr wird die Verhältnismäßigkeit dem Gerichtshof zufolge dadurch sichergestellt, dass Ausnahmen durch Sondernutzungserlaubnisse möglich sind, insbesondere auch für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen.

Daraus ergibt sich, dass nicht alle Mobilitätsinteressen gleichermaßen grundrechtlichen Schutz genießen. Der Einschätzung der Senatsverwaltung, der sich nun das Sondervotum angeschlossen hat, liegt ein quantitatives Verständnis von Freiheitsschutz zugrunde: Wegen der besonders weitreichenden Einschränkung des bisher Zulässigen soll die Regelung unverhältnismäßig sein. Das Sondervotum verweist dabei insbesondere darauf, dass sich viele Einwohnerinnen und Einwohner der Umweltzone faktisch gezwungen sehen dürften, ihr privates Kraftfahrzeug aufzugeben. Damit wird vorausgesetzt, dass das allgemeine Interesse, eine bisher übliche bestimmte Mobilitätsform beizubehalten, grundrechtlich geschützt ist. Einem solchen „Grundrecht auf Autofahren“ ist das Mehrheitsvotum zu Recht entgegengetreten. Denn in der Grundrechtsdogmatik geht es nicht um eine bloß quantitative Maximierung beliebiger Freiheitsinteressen in Abwägung mit kollidierenden Zielen, sondern darum, dass der Staat qualitativ ein bestimmtes Mindestmaß an Individualschutz sicherstellt, wenn er politische Projekte verfolgt. In diesem Sinne hat das Mehrheitsvotum des VerfGH deutlich gemacht, dass besondere Mobilitätsbedürfnisse durchaus zu berücksichtigen sind, wenn die Stadt das Nutzungsregime neu regelt. Dazu gehören etwa die Möglichkeit gewerblicher Anlieferungen und Fahrten von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen.

Wie geht es weiter?

Die Entscheidung des VerfGH macht den Weg frei für das Volksbegehren. Sollte die Initiative genügend Unterschriften sammeln, könnte zunächst das Abgeordnetenhaus den Entwurf beschließen – was nach den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen unwahrscheinlich ist. Auch für die sich anschließende Volksabstimmung müsste die Initiative noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Sicher ist: Auch außerhalb von Berlin wird die Debatte um Verkehrsberuhigungen weitergehen. Indem die Entscheidung des VerfGH den weiten politischen Spielraum bei der Gestaltung des öffentlichen Raums betont, ist sie auch für kleinere Projekte geänderter Straßennutzung bedeutsam. Die Grundrechte ziehen dafür mit dem Schutz besonderer Mobilitätsbedürfnisse einen Rahmen. Der Abkehr von einer „autogerechten Stadt“, die viele als unbefriedigend empfinden, stehen sie aber nicht entgegen.


SUGGESTED CITATION  Hohnerlein, Jakob: Weg frei für „Berlin autofrei“: Der VerfGH Berlin zu politischer Gestaltung und Grundrechtsschutz im öffentlichen Raum, VerfBlog, 2025/7/25, https://verfassungsblog.de/verfassungsgerichtshof-berlin-autofrei/, DOI: 10.59704/109e9ede22c969fe.

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