Viel zu verlieren
Die Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG
Die Enthüllungen des Recherchezentrums CORRECTIV zum „Geheimplan gegen Deutschland“, einem Treffen von Rechtsextremen und AfD-Politikern in Potsdam, lösten eine neue Dynamik in der Diskussion um den richtigen Umgang mit der AfD aus. Die ehemalige Verfassungsrichterin Lübbe-Wolff wies schon im Oktober 2023 in einem Beitrag auf dem Verfassungsblog auf eine zuvor wenig beachtete Möglichkeit hin: die Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG. Die Auswirkungen eines erfolgreichen Verwirkungsverfahrens dürften jedoch überschätzt, die Risiken hingegen unterschätzt werden.
Schon 1,6 Millionen Menschen für einen Verwirkungsantrag
Der Verein Campact initiierte jüngst eine Online-Petition mit der Forderung an die Bundesregierung, beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG gegen Björn Höcke zu stellen. Bereits 1,6 Millionen Menschen haben diesen Aufruf unterzeichnet (Stand: 24. Januar 2024). Die darin zum Ausdruck kommende Positionierung gegen den Rechtsextremismus der AfD im Allgemeinen und gegen Höcke im Speziellen ist selbstverständlich gut und wichtig. Jedoch erscheint die in der Beschreibung geäußerte Hoffnung, die Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG sei „eine Möglichkeit, [Höcke] zu stoppen“, illusorisch. Als vermeintlich schlagkräftige Reaktion auf den Rechtsextremismus wird medial derzeit – oft sehr abstrakt – die Idee der Grundrechtsverwirkung genannt. Wie sich das Instrument konkret auswirken würde, wird dabei selten in den Blick genommen. Im Ergebnis würde eine Grundrechtsverwirkung kaum Konsequenzen haben. Der Wunsch, in einem Verfahren nach Art. 18 GG eine Lösung für den rechtlichen Umgang mit der AfD zu finden, dürfte sich als Irrglaube herausstellen und könnte dem Kampf gegen den Rechtsextremismus am Ende sogar eher schaden.
Die Möglichkeit der Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG steht neben Instrumenten wie etwa dem Vereinsverbot (Art. 9 II GG), dem Parteiverbot (Art. 21 II GG), und der Richteranklage (Art. 98 II, V GG) für den Gedanken der wehrhaften Demokratie. In der Norm heißt es:
„Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Absatz 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Absatz 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“
Auf einfachgesetzlicher Ebene beschreiben die §§ 36 ff. BVerfGG das Verfahren näher. Der Bundestag, die Bundesregierung und jede Landesregierung sind antragsberechtigt. Ist der Antrag begründet, das heißt liegen die Voraussetzungen des Art. 18 S. 1 GG vor – was für den Zweck dieses Beitrags unterstellt wird (siehe hierfür LTO) –, so werden die Folgen und das Ausmaß der Verwirkung von § 39 BVerfGG geregelt. Hierzu gehört die Feststellung, welche Grundrechte der Antragsgegner für welchen Zeitraum verwirkt hat. Dabei gilt das Enumerationsprinzip, sodass der Antragsgegner nur seine in Art. 18 GG aufgezählten Rechte verwirken kann, wobei das nach h.M. auch den entsprechende Auffanggehalt des Art. 2 I GG erfasst.1)
Keine Konsequenzen für die Wählbarkeit Höckes?
Darüber hinaus kann das BVerfG nach § 39 II BVerfGG dem Antragsgegner das Wahlrecht, die Wählbarkeit und die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter aberkennen und bei juristischen Personen ihre Auflösung anordnen. Die Verfassungskonformität dieser Norm gilt jedoch als umstritten.2) Für eine Verfassungswidrigkeit sprechen gewichtige Gründe: Weder das Wahlrecht noch die Wählbarkeit sind als verwirkbare grundrechtsgleiche Rechte im Wortlaut des Art. 18 GG aufgeführt. Angesichts des Ausnahmecharakters der Grundrechtsverwirkung erscheint auch die Analogie als Brücke zu einer interpretatorischen Offenheit des Art. 18 GG nicht gangbar. Den Verfassungsvätern und -müttern hatte sich die Verwirkung des aktiven und passiven Wahlrechts als Anwendungsfall des Art. 18 GG de constitutione ferenda nahezu aufdrängen müssen. Dennoch wählten sie das Enumerationsprinzip und damit einen numerus clausus verwirkbarer Rechte. Dies spricht für einen abschließenden Normcharakter. Insofern erscheint die Aberkennung des passiven Wahlrechts Höckes verfassungsrechtlich gegenwärtig nicht möglich.
Selbst wenn dies anders beurteilt würde, stellt sich die Frage, ob eine grundgesetzliche Verwirkung auch auf die landesgrundrechtliche Ebene durchschlägt, würde diese doch gerade im Falle des Landtagsabgeordneten Höcke virulent. Eine derartige Doppelwirkung wird vielfach angenommen. Dem lässt sich jedoch die Kritik der Lehre von den getrennten Verfassungsräumen entgegenhalten.3) Ob das Verfahren tatsächlich den Entzug des Wahlrechts bewirken kann, bleibt daher zweifelhaft.
Die Verwirkung der Meinungsfreiheit in drei Szenarien
Die Auswirkungen der Grundrechtsverwirkung auf die Meinungsfreiheit dürften ebenfalls überschätzt werden. Zu differenzieren ist zwischen der verfassungsgerichtlichen sowie der fachgerichtlichen Ebene. Verfassungsgerichtlich hätte eine Grundrechtsverwirkung die Unzulässigkeit etwaiger (Urteils-)Verfassungsbeschwerden, die auf ein verwirktes Grundrecht gestützt werden, zur Folge.
Die fachgerichtliche Ebene hingegen stellt sich komplexer dar. Es lassen sich drei Szenarien entwerfen, die Schwierigkeiten am Beispiel volksverhetzender Aussagen veranschaulichen. Zu unterscheiden ist zwischen eindeutig strafbaren Aussagen und solchen, die evident nicht strafbar sind. Dazwischen liegt ein Graubereich, in dem sich mehrdeutige Aussagen befinden, deren Bedeutung durch Auslegung zu ermitteln ist.
Verwirklicht Höcke im ersten Szenario in eindeutiger Weise – d.h. durch eine lediglich eindimensional auslegbare Äußerung – den Tatbestand des § 130 StGB, so macht er sich unabhängig davon strafbar, ob er sich gegenüber der Staatsgewalt auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen kann oder nicht. Schließlich stellt der Straftatbestand ohnehin eine „prima facie-Abwägung“ zulasten der Meinungsfreiheit dar, die sich auch in Ansehung des konkreten, interpretatorisch eindeutig gelagerten Falls nicht durchsetzen würde.
In dem zweiten, gegensätzlichen Szenario ist eine politische, aber unzweifelhaft strafrechtlich irrelevante – und damit grundsätzlich erlaubte – Aussage zugrunde zu legen. Die Grundrechtsverwirkung als solche geht in einem derartigen Falle zunächst einmal ins Leere. Schließlich verwehrt sie dem Betroffenen lediglich das Recht, sich bei Handlungen innerhalb des Schutzbereichs des Grundrechts darauf zu berufen. Entsprechend kann Art. 18 GG als Grundrechtsschranke konzeptualisiert werden.4) Eine Grundrechtsschranke kann jedoch nur dann Wirkung entfalten, wenn auch eine gesetzliche Ermächtigung vorliegt. Der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes (Art. 20 III GG) bleibt jedoch von einer Verwirkung unberührt. Vor diesem Hintergrund genügt die schlichte Verwirkungsanordnung nicht. Vielmehr müsste das BVerfG konkrete Anordnungen nach § 39 I 3 BVerfGG gegen Höcke erlassen. Wie diese in Art und Umfang aussehen würden, um eine dem Vorbehalt des Gesetzes hinreichende Bestimmtheit aufzuweisen, lässt sich in Ermangelung von Präzedenzfällen kaum vorhersagen.
Aussagen der dritten Kategorie sind schließlich solche, die sich durch ihre Mehrdeutigkeit auszeichnen und je nach Auslegung strafbar oder straflos wären. Tatgerichte müssen hier Art. 5 I GG grundsätzlich bereits auf Tatbestandsebene berücksichtigen. Bei mehreren Deutungsmöglichkeiten müssen sie jener den Vorzug geben, die am ehesten mit der Meinungsfreiheit vereinbar ist.5) Es ließe sich also argumentieren, dass Art. 5 I GG im Falle einer Grundrechtsverwirkung keine interpretationsanleitende Bedeutung mehr hätte und Höckes Aussagen die Grenze zur Strafbarkeit damit leichter überschreiten würden.
Diese Perspektive erscheint jedoch keineswegs zwingend. Jedenfalls kann man nicht davon ausgehen, dass eine Grundrechtsverwirkung das Gericht – angesichts der tatsächlich bestehenden Mehrdeutigkeit der Aussage – zu einer Deutung zulasten des Angeklagten zwingen würde. Zudem kann eine Grundrechtsverwirkung nicht ohne weiteres als Rechtfertigungsgrund für eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Grundrechtsträgern dienen.6) Mit Blick auf die bestehende Rechtsunsicherheit kann insofern bezweifelt werden, ob Gerichte ohne Not von ihrer etablierten Auslegungspraxis abweichen würden. Sofern sie dies jedoch täten, ergibt sich aus dem Vorstehenden nichtsdestotrotz, dass sich eine Grundrechtsverwirkung nur in dem spezifischen Bereich ambivalenter Äußerungen auswirken würde.
Die Mehrdimensionalität des Grundrechtsschutzes
Im Mehrebenensystem der Grundrechte ist neben der verfassungsrechtlichen stets die unions- und völkerrechtliche Ebene mitzudenken. Nach einhelliger Auffassung führt eine Verwirkung nach Art. 18 GG nicht dazu, dass sich der Betroffene nicht mehr auf die entsprechenden Rechte der GrCH und der EMRK berufen kann. Da die GrCH nur bei der Durchführung von Unionsrecht (Art. 51 I 1 GrCH) anwendbar ist, ist vor allem die Bedeutung der EMRK hervorzuheben. Die Gewährleistungen der Konvention müssen bei der Auslegung des GG beachtet werden, sodass der Ausspruch einer Grundrechtsverwirkung im Einzelfall gegen die EMRK verstoßen kann.
Dass sich der Betroffene noch immer auf das entsprechende Konventionsrecht berufen kann, unterläuft die Rechtsfolge einer Grundrechtsverwirkung partiell. Höcke könnte daher zwar keine auf Art. 5 I 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde mehr erheben, sehr wohl aber eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK, gestützt auf eine behauptete Verletzung seiner Meinungsfreiheit nach Art. 10 I der Konvention. Dann wäre zu prüfen, ob die Umstände, die zu der Verwirkung geführt haben, eine Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 10 II EMRK ermöglichen. Das könnte im Einzelfall problematisch sein, wenn die Meinungsäußerung zwar politischer Natur, nicht aber rechtsextrem oder strafbar wäre.7) Wie im Falle eines durch Karlsruhe ausgesprochenen Parteiverbots ist davon auszugehen, dass ein Rechtsstreit um die Folgen einer Grundrechtsverwirkung erst beim EGMR in Straßburg – und damit nach einer langen Verfahrensdauer – enden würde.
Höcke als Märtyrer
Überdies sind die gesellschaftspolitischen Auswirkungen einer Grundrechtsverwirkung Höckes zu berücksichtigen. Ebenso wie ein Parteiverbotsverfahren würde die AfD auch die Grundrechtsverwirkung argumentativ ausschlachten. Eine personenbezogene und in der Geschichte der Bundesrepublik singuläre Maßnahme würde den Rechtsextremisten die Möglichkeit geben, Höcke als Märtyrer zu stilisieren. Die von Art. 18 GG intendierte „Entpolitisierung“ wäre – davon ist auszugehen – in der AfD-Rhetorik die „politische Ermordung“ ihres geistigen Anführers. Schlimmstenfalls würde so einem Personenkult unfreiwillig Vorschub geleistet. Angesichts der verfassungsgerichtlichen Unerfahrenheit hinsichtlich des Art. 18 GG und seiner limitierten Auswirkungen könnte dies zur Enttäuschung der hohen Erwartungen weiter Teile der Gesellschaft führen, besonders wenn sich das Verfahren über Jahre zieht. Das erste derartige Verfahren gegen den damaligen stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Sozialistischen Reichspartei etwa scheiterte nach achtjähriger Verhandlungsdauer. Sollte Höcke trotz einer Grundrechtsverwirkung weiterhin die Speerspitze rechtsextremer Rhetorik bilden, könnte dies einen gesellschaftlichen Vertrauensverlust in die Wehrhaftigkeit der Demokratie bedingen.
Ausblick: Verfassungsresilienz
Angesichts der skizzierten Risiken stellt sich die Frage, ob nicht die Stärkung der Verfassung gegenüber der symbolischen Schwächung ihrer Feinde vorzugswürdig ist. Während bei ersterer eine breite Unterstützung der demokratischen Mehrheit zu erwarten wäre, wäre bei letzterer vor allem mit einer rechten Mobilisierung zu rechnen, die sich um den grundrechtlich „verbannten“ Höcke formiert.
Verheißungsvoller erscheint es, das Grundgesetz sowie die Landesverfassungen im positiven Sinne gegen antidemokratische Angriffe zu wappnen (in diese Richtung zuletzt auch Jaschinski/Steinbach sowie grundlegend das Thüringen-Projekt). Auf Bundesebene sollte der Blick zuerst auf die überraschend vulnerable Position des Bundesverfassungsgerichts fallen. Lediglich einfachgesetzlich – und dadurch mit einfacher Mehrheit änderbar – ist etwa die Wahl der Richterinnen und Richter, die Zahl der Senate sowie das für gerichtliche Entscheidungen notwendige Quorum geregelt. Wie dies von Feinden der Verfassung – ähnlich wie in Ungarn und Polen – ausgenutzt werden könnte, hat Steinbeis in beängstigender Weise beschrieben.
Der rechtspolitische Blick sollte nicht bloß auf in der Vergangenheit gezogene, echte und vermeintliche Weimarer Lehren gerichtet werden (vgl. Gusy, der von „Fossilien“ spricht), sondern die antidemokratischen Strategien der Gegenwart, wie sie innerhalb der EU vor allem in Ungarn und Polen zu beobachten sind bzw. waren, erfassen. Diese zu antizipieren und (verfassungs-)rechtliche Resilienz zu schaffen, ist wahrhaftiger Ausdruck einer wehrhaften Demokratie.
References
↑1 | So etwa Butzer, in: BeckOK GG, Stand: 15.08.2023, Art. 18, Rn. 12. |
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↑2 | Für eine Verfassungskonformität bspw. Dürig/Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 102. EL August 2023, Art. 18, Rn. 31 ff. |
↑3 | Barzcak, in: Dreier, GG, 4. Aufl. 2023, Art. 18, Rn. 23. |
↑4 | Butzer, in: BeckOK GG, Stand: 15.08.2023, Art. 18, Rn. 17. |
↑5 | Starck/Paulus, in: v. Mangoldt/Klein/Stark, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 5, Rn. 311. |
↑6 | Barzcak, in: Dreier, GG, 4. Aufl. 2023, Art. 18, Rn. 55. |
↑7 | Siehe dazu Barzcak, in: Dreier, GG, 4. Aufl. 2023, Art. 18, Rn. 11. |
“Schon 1,6 Millionen Menschen für einen Verwirkungsantrag. […] Bereits 1,6 Millionen Menschen haben diesen Aufruf unterzeichnet”
Solche Aussagen sind paradigmatisch für die Unsauberkeit vieler Beiträge auf diesem Blog. Ob tatsächlich 1,6 Millionen Menschen den Aufruf unterzeichnet haben, ist schlicht nicht ermittelbar. Campact sieht keinen brauchbaren Mechanismus vor, um mehrfache Unterzeichnungen auszuschließen. Dabei sind mögliche Bots noch nicht einmal eingestellt. Die Anzahl der “Unterzeichner” als Aufhänger zu nehmen und daraus sogar Rückschlüsse auf die Popularität eines potentiellen Verwirkungsverfahren (“schon 1,6 Millionen”) zu ziehen, erscheint somit sehr gewagt.
Das stimmt so aber nicht: wenn man warum auch immer mehrfach unterzeichnen will, wird die Emailadresse sowie die hinterlegte Adresse geprüft. und sorry – die natürlich zu recht festgestellte letzte Unsicherheit besteht doch bei allen online-Petitionen. insofern sind die derzeitigen Zahlen durchaus relevant.
Liegt die – im Beitrag unerwähnte – Schlagkraft der Grundrechtsverwirkung nicht gerade darin, dass die Exekutive dem Betroffenen – sei es gestützt auf das Polizei- und Ordnungsrecht, das dann nicht mehr im Lichte zB der Meinungsfreiheit auszulegen wäre, sondern dann eine viel stärkere Gewichtung der staatsgefährdenden Aspekte eines Sachverhalts erlauben würde, oder sogar ohne gesetzliche Eingriffsermächtigung (der mitverwirkte Art. 5 II GG als lex specialis zu Art. 20 III GG?) – per Verwaltungsakt politische Meinungsäußerungen per se verbieten dürfte? Nur so wäre eine effektive Ausschaltung des Betroffenen aus dem politischen Leben doch wirklich denkbar. So etwas ist in unserer Rechtsordnung auch nicht unbekannt, wie § 47 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 AufenthG für Ausländer zeigt.
Liegt die – im Beitrag unerwähnte – Schlagkraft der Grundrechtsverwirkung nicht gerade darin, dass die Exekutive dem Betroffenen – sei es gestützt auf das Polizei- und Ordnungsrecht, das dann nicht mehr im Lichte zB der Meinungsfreiheit auszulegen wäre, sondern dann eine viel stärkere Gewichtung der staatsgefährdenden Aspekte eines Sachverhalts erlauben würde, oder sogar ohne gesetzliche Eingriffsermächtigung (der mitverwirkte Art. 5 II GG als lex specialis zu Art. 20 III GG?) – per Verwaltungsakt politische Meinungsäußerungen per se verbieten dürfte? Nur so wäre eine effektive Ausschaltung des Betroffenen aus dem politischen Leben doch wirklich denkbar. So etwas ist in unserer Rechtsordnung auch nicht unbekannt, wie § 47 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 AufenthG für Ausländer zeigt.
Ich möchte einen weiteren Punkt zu bedenken geben. In der öffentlichen Debatte über ein Grundrechtsverwirkungsverfahren gegen Björn Höcke ist oft der – politische – Einwand zu lesen, dass Höcke selbst dann, wenn das BVerfG eine Verwirkung aussprechen (oder, in der Terminologie von § 39 Absatz 1 Satz 1 BVerfGG, feststellen) und ihm zusätzlich nach § 39 Absatz 2 BVerfGG das Wahlrecht, die Wählbarkeit und die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter aberkennen würde, noch im Hintergrund weiter “die Strippen ziehen” könnte. Nun ist Höcke allerdings nicht nur Fraktionsvorsitzender der AfD im thüringischen Landtag und designierter Spitzenkandidat der AfD Thüringen für die Landtagswahl 2024, also Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten, er ist auch Co-Parteivorsitzender (einer von zwei Sprechern des Vorstands) der AfD Thüringen. Diese seine Funktion als Parteivorsitzender wäre nach meinem Verständnis von einer Grundrechtsverwirkung überhaupt nicht berührt. Denn ein Parteiamt dürfte kein “öffentliches Amt” im Sinne von § 39 Absatz 2 BVerfGG sein (jedenfalls unter den Begriff des öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 33 Absatz 2 GG werden Parteiämter nicht subsumiert, vgl. Hense, in: BeckOK Grundgesetz, Stand 15.08.2023, Art. 33 Rn. 10).
Eine andere Frage wäre vielleicht, inwieweit Höcke in der Ausübung des Parteiamtes durch die Verwirkung selbst, also den Rechtsfolgenausspruch nach Art. 18 GG i.V.m. § 39 Absatz 1 Satz 1 BVerfGG, beschränkt wäre (soweit dieser sich auf die Meinungsäußerungsfreiheit bezöge) oder ob das BVerfG diesbezügliche “Beschränkungen” auch explizit nach § 39 Absatz 1 Satz 3 BVerfGG auferlegen könnte. Fragwürdig erschiene es mir aber, über § 39 Absatz 1 Satz 3 BVerfGG erreichen zu wollen, dass er den Parteivorsitz künftig nicht mehr innehaben dürfte, denn dadurch würde wohl die Begrenzung des Anwendungsbereichs von § 39 Absatz 2 BVerfGG auf “öffentliche Ämter” unterlaufen. Im Ergebnis wäre also womöglich Höcke nach einem Verwirkungsausspruch gar nicht darauf angewiesen, aus dem Hintergrund zu agieren, sondern könnte er weiterhin Parteivorsitzender sein.
Höcke könnte nicht mehr Parteivorsitzender sein, weil er nach § 10 Abs. 1 Satz 4 PartG schon keiner Partei mehr angehören dürfte (sofern man davon ausgeht, dass er spätestens qua Amt als Parteimitglied gelten würde, falls er als Parteiloser gewählt werden könnte). Die Frage ist bloß, wie das praktisch durchsetzbar sein soll und ob es überhaupt verfassungsgemäß ist.
Im Übrigen müsste man aber auch gegen die strafrechtlichen Ausschlüsse von der Wählbarkeit und dem Wahlrecht (die ohne Weiteres auch auf die Landesebene wirken) Bedenken haben, wenn das im Fall von Art. 18 GG nicht möglich sein sollte. Der Parlamentarische Rat hat das aber offenbar als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Er hat ja selber auch ein entsprechendes Wahlgesetz beschlossen. Außerdem hat sich auch schon das BVerfG beim SRP-Verbot dazu geäußert. Ob die Ausschlüsse beim aktiven Wahlrecht heute noch halten würden, würd ich schon bezweifeln, aber der Zugang zu öffentlichen Ämtern ist ja generell nicht so grenzenlos garantiert. Mandate in Parlamenten stehn halt irgendwo dazwischen.
Danke für den Hinweis auf § 10 I 4 ParteiG!
Dem Wortlaut der Norm vermag ich nicht zu entnehmen, das hier Ermessen besteht. Eine “Thüringen”-Idee wäre die Entziehung der Wählbarkeit; schließlich wurde A.H. dort 1930 eingebürgert.
interessante Ausführungen. allerdings klingt es so, als ob bei dieser auslegung ja eine Grundrechtsverwirkung überhaupt nicht machbar wäre…
was mich zudem immer wieder überrascht: wieso nicht vorallem (!) die Wählbarkeit im Artikel 18 genannt wurde, was ja der Text hier auch erwähnt.
ich halte sogar die Verwirkung der GR Meinungsfreit etc. für falsch – weil viel näher am Menschen dran. die Wählbarkeit erscheint mir weitaus wichtiger, relevanter…