25 January 2024

Viel zu verlieren

Die Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG

Die Enthüllungen des Recherchezentrums CORRECTIV zum „Geheimplan gegen Deutschland“, einem Treffen von Rechtsextremen und AfD-Politikern in Potsdam, lösten eine neue Dynamik in der Diskussion um den richtigen Umgang mit der AfD aus. Die ehemalige Verfassungsrichterin Lübbe-Wolff wies schon im Oktober 2023 in einem Beitrag auf dem Verfassungsblog auf eine zuvor wenig beachtete Möglichkeit hin: die Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG. Die Auswirkungen eines erfolgreichen Verwirkungsverfahrens dürften jedoch überschätzt, die Risiken hingegen unterschätzt werden.

Schon 1,6 Millionen Menschen für einen Verwirkungsantrag

Der Verein Campact initiierte jüngst eine Online-Petition mit der Forderung an die Bundesregierung, beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG gegen Björn Höcke zu stellen. Bereits 1,6 Millionen Menschen haben diesen Aufruf unterzeichnet (Stand: 24. Januar 2024). Die darin zum Ausdruck kommende Positionierung gegen den Rechtsextremismus der AfD im Allgemeinen und gegen Höcke im Speziellen ist selbstverständlich gut und wichtig. Jedoch erscheint die in der Beschreibung geäußerte Hoffnung, die Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG sei „eine Möglichkeit, [Höcke] zu stoppen“, illusorisch. Als vermeintlich schlagkräftige Reaktion auf den Rechtsextremismus wird medial derzeit – oft sehr abstrakt – die Idee der Grundrechtsverwirkung genannt. Wie sich das Instrument konkret auswirken würde, wird dabei selten in den Blick genommen. Im Ergebnis würde eine Grundrechtsverwirkung kaum Konsequenzen haben. Der Wunsch, in einem Verfahren nach Art. 18 GG eine Lösung für den rechtlichen Umgang mit der AfD zu finden, dürfte sich als Irrglaube herausstellen und könnte dem Kampf gegen den Rechtsextremismus am Ende sogar eher schaden.

Die Möglichkeit der Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG steht neben Instrumenten wie etwa dem Vereinsverbot (Art. 9 II GG), dem Parteiverbot (Art. 21 II GG), und der Richteranklage (Art. 98 II, V GG) für den Gedanken der wehrhaften Demokratie. In der Norm heißt es:

„Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Absatz 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Absatz 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“

Auf einfachgesetzlicher Ebene beschreiben die §§ 36 ff. BVerfGG das Verfahren näher. Der Bundestag, die Bundesregierung und jede Landesregierung sind antragsberechtigt. Ist der Antrag begründet, das heißt liegen die Voraussetzungen des Art. 18 S. 1 GG vor – was für den Zweck dieses Beitrags unterstellt wird (siehe hierfür LTO) –, so werden die Folgen und das Ausmaß der Verwirkung von § 39 BVerfGG geregelt. Hierzu gehört die Feststellung, welche Grundrechte der Antragsgegner für welchen Zeitraum verwirkt hat. Dabei gilt das Enumerationsprinzip, sodass der Antragsgegner nur seine in Art. 18 GG aufgezählten Rechte verwirken kann, wobei das nach h.M. auch den entsprechende Auffanggehalt des Art. 2 I GG erfasst.1)

Keine Konsequenzen für die Wählbarkeit Höckes?

Darüber hinaus kann das BVerfG nach § 39 II BVerfGG dem Antragsgegner das Wahlrecht, die Wählbarkeit und die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter aberkennen und bei juristischen Personen ihre Auflösung anordnen. Die Verfassungskonformität dieser Norm gilt jedoch als umstritten.2) Für eine Verfassungswidrigkeit sprechen gewichtige Gründe: Weder das Wahlrecht noch die Wählbarkeit sind als verwirkbare grundrechtsgleiche Rechte im Wortlaut des Art. 18 GG aufgeführt. Angesichts des Ausnahmecharakters der Grundrechtsverwirkung erscheint auch die Analogie als Brücke zu einer interpretatorischen Offenheit des Art. 18 GG nicht gangbar. Den Verfassungsvätern und -müttern hatte sich die Verwirkung des aktiven und passiven Wahlrechts als Anwendungsfall des Art. 18 GG de constitutione ferenda nahezu aufdrängen müssen. Dennoch wählten sie das Enumerationsprinzip und damit einen numerus clausus verwirkbarer Rechte. Dies spricht für einen abschließenden Normcharakter. Insofern erscheint die Aberkennung des passiven Wahlrechts Höckes verfassungsrechtlich gegenwärtig nicht möglich.

Selbst wenn dies anders beurteilt würde, stellt sich die Frage, ob eine grundgesetzliche Verwirkung auch auf die landesgrundrechtliche Ebene durchschlägt, würde diese doch gerade im Falle des Landtagsabgeordneten Höcke virulent. Eine derartige Doppelwirkung wird vielfach angenommen. Dem lässt sich jedoch die Kritik der Lehre von den getrennten Verfassungsräumen entgegenhalten.3) Ob das Verfahren tatsächlich den Entzug des Wahlrechts bewirken kann, bleibt daher zweifelhaft.

Die Verwirkung der Meinungsfreiheit in drei Szenarien

Die Auswirkungen der Grundrechtsverwirkung auf die Meinungsfreiheit dürften ebenfalls überschätzt werden. Zu differenzieren ist zwischen der verfassungsgerichtlichen sowie der fachgerichtlichen Ebene. Verfassungsgerichtlich hätte eine Grundrechtsverwirkung die Unzulässigkeit etwaiger (Urteils-)Verfassungsbeschwerden, die auf ein verwirktes Grundrecht gestützt werden, zur Folge.

Die fachgerichtliche Ebene hingegen stellt sich komplexer dar. Es lassen sich drei Szenarien entwerfen, die Schwierigkeiten am Beispiel volksverhetzender Aussagen veranschaulichen. Zu unterscheiden ist zwischen eindeutig strafbaren Aussagen und solchen, die evident nicht strafbar sind. Dazwischen liegt ein Graubereich, in dem sich mehrdeutige Aussagen befinden, deren Bedeutung durch Auslegung zu ermitteln ist.

Verwirklicht Höcke im ersten Szenario in eindeutiger Weise – d.h. durch eine lediglich eindimensional auslegbare Äußerung – den Tatbestand des § 130 StGB, so macht er sich unabhängig davon strafbar, ob er sich gegenüber der Staatsgewalt auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen kann oder nicht. Schließlich stellt der Straftatbestand ohnehin eine „prima facie-Abwägung“ zulasten der Meinungsfreiheit dar, die sich auch in Ansehung des konkreten, interpretatorisch eindeutig gelagerten Falls nicht durchsetzen würde.

In dem zweiten, gegensätzlichen Szenario ist eine politische, aber unzweifelhaft strafrechtlich irrelevante – und damit grundsätzlich erlaubte – Aussage zugrunde zu legen. Die Grundrechtsverwirkung als solche geht in einem derartigen Falle zunächst einmal ins Leere. Schließlich verwehrt sie dem Betroffenen lediglich das Recht, sich bei Handlungen innerhalb des Schutzbereichs des Grundrechts darauf zu berufen. Entsprechend kann Art. 18 GG als Grundrechtsschranke konzeptualisiert werden.4) Eine Grundrechtsschranke kann jedoch nur dann Wirkung entfalten, wenn auch eine gesetzliche Ermächtigung vorliegt. Der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes (Art. 20 III GG) bleibt jedoch von einer Verwirkung unberührt. Vor diesem Hintergrund genügt die schlichte Verwirkungsanordnung nicht. Vielmehr müsste das BVerfG konkrete Anordnungen nach § 39 I 3 BVerfGG gegen Höcke erlassen. Wie diese in Art und Umfang aussehen würden, um eine dem Vorbehalt des Gesetzes hinreichende Bestimmtheit aufzuweisen, lässt sich in Ermangelung von Präzedenzfällen kaum vorhersagen.

Aussagen der dritten Kategorie sind schließlich solche, die sich durch ihre Mehrdeutigkeit auszeichnen und je nach Auslegung strafbar oder straflos wären. Tatgerichte müssen hier Art. 5 I GG grundsätzlich bereits auf Tatbestandsebene berücksichtigen. Bei mehreren Deutungsmöglichkeiten müssen sie jener den Vorzug geben, die am ehesten mit der Meinungsfreiheit vereinbar ist.5) Es ließe sich also argumentieren, dass Art. 5 I GG im Falle einer Grundrechtsverwirkung keine interpretationsanleitende Bedeutung mehr hätte und Höckes Aussagen die Grenze zur Strafbarkeit damit leichter überschreiten würden.

Diese Perspektive erscheint jedoch keineswegs zwingend. Jedenfalls kann man nicht davon ausgehen, dass eine Grundrechtsverwirkung das Gericht – angesichts der tatsächlich bestehenden Mehrdeutigkeit der Aussage – zu einer Deutung zulasten des Angeklagten zwingen würde. Zudem kann eine Grundrechtsverwirkung nicht ohne weiteres als Rechtfertigungsgrund für eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Grundrechtsträgern dienen.6) Mit Blick auf die bestehende Rechtsunsicherheit kann insofern bezweifelt werden, ob Gerichte ohne Not von ihrer etablierten Auslegungspraxis abweichen würden. Sofern sie dies jedoch täten, ergibt sich aus dem Vorstehenden nichtsdestotrotz, dass sich eine Grundrechtsverwirkung nur in dem spezifischen Bereich ambivalenter Äußerungen auswirken würde.

Die Mehrdimensionalität des Grundrechtsschutzes

Im Mehrebenensystem der Grundrechte ist neben der verfassungsrechtlichen stets die unions- und völkerrechtliche Ebene mitzudenken. Nach einhelliger Auffassung führt eine Verwirkung nach Art. 18 GG nicht dazu, dass sich der Betroffene nicht mehr auf die entsprechenden Rechte der GrCH und der EMRK berufen kann. Da die GrCH nur bei der Durchführung von Unionsrecht (Art. 51 I 1 GrCH) anwendbar ist, ist vor allem die Bedeutung der EMRK hervorzuheben. Die Gewährleistungen der Konvention müssen bei der Auslegung des GG beachtet werden, sodass der Ausspruch einer Grundrechtsverwirkung im Einzelfall gegen die EMRK verstoßen kann.

Dass sich der Betroffene noch immer auf das entsprechende Konventionsrecht berufen kann, unterläuft die Rechtsfolge einer Grundrechtsverwirkung partiell. Höcke könnte daher zwar keine auf Art. 5 I 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde mehr erheben, sehr wohl aber eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK, gestützt auf eine behauptete Verletzung seiner Meinungsfreiheit nach Art. 10 I der Konvention. Dann wäre zu prüfen, ob die Umstände, die zu der Verwirkung geführt haben, eine Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 10 II EMRK ermöglichen. Das könnte im Einzelfall problematisch sein, wenn die Meinungsäußerung zwar politischer Natur, nicht aber rechtsextrem oder strafbar wäre.7) Wie im Falle eines durch Karlsruhe ausgesprochenen Parteiverbots ist davon auszugehen, dass ein Rechtsstreit um die Folgen einer Grundrechtsverwirkung erst beim EGMR in Straßburg – und damit nach einer langen Verfahrensdauer – enden würde.

Höcke als Märtyrer

Überdies sind die gesellschaftspolitischen Auswirkungen einer Grundrechtsverwirkung Höckes zu berücksichtigen. Ebenso wie ein Parteiverbotsverfahren würde die AfD auch die Grundrechtsverwirkung argumentativ ausschlachten. Eine personenbezogene und in der Geschichte der Bundesrepublik singuläre Maßnahme würde den Rechtsextremisten die Möglichkeit geben, Höcke als Märtyrer zu stilisieren. Die von Art. 18 GG intendierte „Entpolitisierung“ wäre – davon ist auszugehen – in der AfD-Rhetorik die „politische Ermordung“ ihres geistigen Anführers. Schlimmstenfalls würde so einem Personenkult unfreiwillig Vorschub geleistet. Angesichts der verfassungsgerichtlichen Unerfahrenheit hinsichtlich des Art. 18 GG und seiner limitierten Auswirkungen könnte dies zur Enttäuschung der hohen Erwartungen weiter Teile der Gesellschaft führen, besonders wenn sich das Verfahren über Jahre zieht. Das erste derartige Verfahren gegen den damaligen stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Sozialistischen Reichspartei etwa scheiterte nach achtjähriger Verhandlungsdauer. Sollte Höcke trotz einer Grundrechtsverwirkung weiterhin die Speerspitze rechtsextremer Rhetorik bilden, könnte dies einen gesellschaftlichen Vertrauensverlust in die Wehrhaftigkeit der Demokratie bedingen.

Ausblick: Verfassungsresilienz

Angesichts der skizzierten Risiken stellt sich die Frage, ob nicht die Stärkung der Verfassung gegenüber der symbolischen Schwächung ihrer Feinde vorzugswürdig ist. Während bei ersterer eine breite Unterstützung der demokratischen Mehrheit zu erwarten wäre, wäre bei letzterer vor allem mit einer rechten Mobilisierung zu rechnen, die sich um den grundrechtlich „verbannten“ Höcke formiert.

Verheißungsvoller erscheint es, das Grundgesetz sowie die Landesverfassungen im positiven Sinne gegen antidemokratische Angriffe zu wappnen (in diese Richtung zuletzt auch Jaschinski/Steinbach sowie grundlegend das Thüringen-Projekt). Auf Bundesebene sollte der Blick zuerst auf die überraschend vulnerable Position des Bundesverfassungsgerichts fallen. Lediglich einfachgesetzlich – und dadurch mit einfacher Mehrheit änderbar – ist etwa die Wahl der Richterinnen und Richter, die Zahl der Senate sowie das für gerichtliche Entscheidungen notwendige Quorum geregelt. Wie dies von Feinden der Verfassung – ähnlich wie in Ungarn und Polen – ausgenutzt werden könnte, hat Steinbeis in beängstigender Weise beschrieben.

Der rechtspolitische Blick sollte nicht bloß auf in der Vergangenheit gezogene, echte und vermeintliche Weimarer Lehren gerichtet werden (vgl. Gusy, der von „Fossilien“ spricht), sondern die antidemokratischen Strategien der Gegenwart, wie sie innerhalb der EU vor allem in Ungarn und Polen zu beobachten sind bzw. waren, erfassen. Diese zu antizipieren und (verfassungs-)rechtliche Resilienz zu schaffen, ist wahrhaftiger Ausdruck einer wehrhaften Demokratie.

References

References
1 So etwa Butzer, in: BeckOK GG, Stand: 15.08.2023, Art. 18, Rn. 12.
2 Für eine Verfassungskonformität bspw. Dürig/Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 102. EL August 2023, Art. 18, Rn. 31 ff.
3 Barzcak, in: Dreier, GG, 4. Aufl. 2023, Art. 18, Rn. 23.
4 Butzer, in: BeckOK GG, Stand: 15.08.2023, Art. 18, Rn. 17.
5 Starck/Paulus, in: v. Mangoldt/Klein/Stark, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 5, Rn. 311.
6 Barzcak, in: Dreier, GG, 4. Aufl. 2023, Art. 18, Rn. 55.
7 Siehe dazu Barzcak, in: Dreier, GG, 4. Aufl. 2023, Art. 18, Rn. 11.