Völlige Autonomie
Alle zwei Jahre treffen sich in wechselnden deutschen Städten rund zweieinhalb Tausend Jurist*innen in einem Kongresszentrum, um zu diskutieren und abzustimmen, wo und wie und ob aus juristischer Sicht das Recht der Verbesserung bedarf. Dieses Format gibt es länger als den deutschen Staat, seit 1860 nämlich, und ist Zeichen und Ausfluss1) des besonderen Staats- und Statusbewusstseins, das einem in Deutschland nach erfolgreichem Abschluss der Großen Juristischen Staatsprüfung ans Revers geheftet wird: Auch als freiberufliche Rechtsanwält*in bleibt man “Organ der Rechtspflege” und hat sich nicht nur um seine privaten Mandate und Billable Hours, sondern auch um die Pflege eben des Rechts zu kümmern. Der Juristentag bietet dafür reichlich Gelegenheit: Dort werden in einem halben Dutzend so genannter Abteilungen Fragen rechtspolitischer Natur zur Debatte gestellt und über die Antworten in Form von Empfehlungen an die Politik abgestimmt.
Der 73. Deutsche Juristentag nächste Woche findet in Bonn statt und ist schon deshalb eine Anomalie, weil 72. Deutsche Juristentag nicht zwei, sondern vier Jahre her ist. Pandemiebedingt trägt die Konferenz in diesem Jahr einen doppelten Zeitstempel: Sie holt nach, was im Jahr 2020 ausfallen musste. Eine Abteilung ist dabei der Justiz und der Frage gewidmet, ob sich “Regelungen zur Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz bei der Besetzung von Richterpositionen” empfehlen. Warum der DJT dieses Thema auf die Tagesordnung gehoben hat, wird insbesondere Leser*innen des Verfassungsblogs nicht schwer fallen zu erraten. Seit mittlerweile sieben Jahren schauen wir der polnischen Regierung dabei zu, wie sie Verfassungsgericht, Obersten Justizrat, Obersten Gerichtshof und die Instanzgerichte in der Fläche systematisch und mit äußerster Brutalität unter ihren Daumen zwingt. Das hat den Europäischen Gerichtshof bekanntlich zu einer beispiellos kühnen Fortentwicklung des europäischen Justizverfassungsrechts und auch die eine oder andere deutsche Richter*in zum Nachdenken animiert, wie es unter dem Aspekt eigentlich mit dem eigenen Abhängigkeitsverhältnis zu den Justizministerien in Bund und Ländern aussieht.
Die Suche nach Antworten wird auf dem DJT mit einem oder mehreren wissenschaftlichen Gutachten vorstrukturiert. In der Abteilung Justiz hat das Gutachten der Staatsrechtsprofessor Fabian Wittreck aus Münster verfasst. Dessen mit beträchtlichem polemischem Überschuss (“Denkfehler”, “Unbedarftheit”, “politische Theologie”) vorgetragene These: Institutionelle Unabhängigkeit der Justiz können sich die Richter*innen in Deutschland gleich mal knicken. Anspruch habe die deutsche Justiz lediglich darauf, dass “konkrete Rechtsprechungspersonen gegen vermeidbare Einflussnahmen auf ihre Rechtsprechungstätigkeit” geschützt bleiben. Mit Gewaltenteilung habe das “nichts, aber auch gar nichts … zu tun”. Die Dritte Gewalt als solche von Gesetzgeber und Regierung abzuschirmen, sei eine Forderung, die “dem bundesdeutschen Recht in dieser Form fremd und auch aus dem europäischen Recht keineswegs verbindlich abzuleiten sei” (S. 15).
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Die völkerrechtsfreundliche Verfassung – Ein Grundsatz im deutsch-österreichisch-schweizerischen Rechtsvergleich
Symposium am 20. und 21. Oktober 2022, Universität Innsbruck
Im Rahmen eines Symposiums sollen im deutschen, österreichischen und schweizerischen (Verfassungs-)Recht tätige WissenschaftlerInnen Parallelen ebenso wie Differenzen im Verständnis der Völkerrechtsfreundlichkeit ausloten und dazu beitragen, das Verständnis für die internationale Offenheit der eigenen Verfassungsordnung zu vertiefen. Weitere Informationen finden Sie hier.
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Das Grundgesetz, so Wittrecks Argument, schützt in Art. 97 Abs. 1 die sachliche und in Abs. 2 die persönliche Unabhängigkeit der individuellen Richter*in. Sachliche Unabhängigkeit heiße, dass die Richter*in nur an das Gesetz gebunden und frei von Weisungen und vermeidbarer Einflussnahme der Regierung entscheiden können muss. Aus der Rechtsprechung des EGMR und des EuGH ergebe sich nichts anderes. Soweit der EuGH in seinen jüngeren Urteilen von “völliger Autonomie” der Justiz spreche, dann sei das “bei allem schuldigen Respekt leider normlogischer Unfug”, denn völlige Autonomie könne man, wenn überhaupt, vom “christlichen Schöpfergott” verlangen, aber keiner demokratischen Institution, die “Menschenwerk” sei (S. 25). So oder so verlange schon das Demokratie- wie das Rechtsstaatsprinzip, dass auch Richter*innen in ihrem Tun und Unterlassen einer gewissen Kontrolle unterliegen, schreibt Wittreck, nicht ohne allerhand Süffisanz über den notorisch unkontrollierten EuGH auszugießen. Weshalb die EuGH-Formulierung so zu auszulegen sei, dass die “völlige Autonomie” sich nur auf die Rechtsprechung im engeren Sinne erstrecke.
Der Schutz der persönlichen Unabhängigkeit, so Wittreck weiter, stelle klar, dass die Richter*innen nicht nur frei von Weisungen, sondern auch frei von Sanktionen urteilen können müssen. Vor allem dürfen sie nicht um ihren Job fürchten müssen, wenn sie mit ihren Urteilen das Missfallen der Regierung erregen. Hier sieht Wittreck wiederum vor allem beim EuGH selbst ein Problem, dessen Mitglieder nach Ablauf ihrer sechsjährigen Amtszeit wiedergewählt werden können – “evident kritisch” in Wittrecks Augen: Es sei “mit Händen zu greifen, dass eine Richterin oder ein Richter angesichts der anstehenden ,Verlängerung’ des eigenen Amtes zumindest darüber nachsinnen könnte, ob die mitverantworteten Entscheidungen die Zustimmung der für die Wiederernennung Verantwortlichen finden könnten”. Was den aktuellen deutschen EuGH-Richter Thomas von Danwitz betrifft, der immerhin sein Amt schon zweimal ,verlängert’ bekommen hat, so ist da jedenfalls mit Wittrecks Händen dann offenbar doch nicht so viel zu greifen: Vielmehr, so Wittreck in einem furchtlosen Gedankensalto, sei es die vorherige Praxis, die Richter*innen nach einer Amtszeit nicht wieder zu wählen, die auf das Schärfste zu geißeln sei: “Schlicht ein grob fahrlässiger Umgang mit den für die Bundesrepublik vorgesehenen Posten” sei das gewesen, “die lange als reine parteipolitische Verteilungsmasse behandelt worden sind, anstatt den Richterinnen und Richtern durch eine lange Amtszeit zu ermöglichen, mäßigenden oder gar maßgeblichen Einfluss auf das Gericht und seine Entscheidungen aufzubauen” (S. 28f., dazu auch S. 57).
Von einer institutionellen Unabhängigkeit der Justiz hingegen, so Wittreck, stehe im Grundgesetz explizit nichts drin, weshalb sie “im Grunde Glaubenssache” sei (S. 32). Zwar vertraue das Grundgesetz in Art. 92 die Recht sprechende Gewalt explizit den Richter*innen an, aber deren Ernennung eben genauso explizit der Exekutive und ggf. dem Parlament. Auf Landesebene wirken zwar teilweise Richter- und Anwält*innen mit, aber eine “reine Selbstergänzung” (S. 33) der Dritten Gewalt sei jedenfalls ausgeschlossen. Auch aus dem Europarecht ergebe sich nichts anderes, abgesehen von “im Modus des Raunens vorgetragenen ,Standards’ …, die hier deutlich als das demaskiert werden müssen, was sie im Kern sind: Produkte richterlicher Lobbyarbeit oder eben Funktionärsphantasien”, auch wenn sich ein “nur notdürftig verdecktes Zitierkartell” noch so sehr um den Nachweis des Gegenteils bemühe (S. 34).
Wie steht es nach diesen Maßstäben nun um die Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland? De iure entscheiden über Ernennung und Beförderung von Richter*innen auf Bundesebene und in einem großen Teil der Länder in der Tat die Regierung ggf. mit Mitwirkung des Parlaments. Faktisch, so Wittreck, sei das aber eine ganz andere Sache: Teils überlasse man diese Entscheidung Mitgliedern der Justiz, die sich ans zuständige Ministerium haben abordnen lassen. Teils trete man die Entscheidungsbefugnis an die Obergerichte ab bzw. richte sich nach den Voten der Präsidialräte.
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Ausschreibung eines Werkvertrags
Das Deutsche Institut für Menschenrechte e. V. ist die Nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es hat als unabhängige Monitoring-Stelle den Auftrag, die Umsetzung der UN-Behindertenrchtskonvention durch staatliche Stellen zu überwachen. Das Institut beabsichtigt in diesem Zusammenhang, zum 30.09.2022 einen Werkvertrag zur Bestandsaufnahme und vergleichenden Analyse bundes- und landesrechtlicher Vorschriften zur Normenprüfung zu vergeben.
Bewerbungsfrist: 21.09.2022, 12.00 Uhr. Weitere Informationen finden Sie hier.
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Für Wittreck ist ohnehin die personelle Selbstreproduktion der Justiz, wo es sie gibt, weit mehr ein Teil des Problems als der Lösung: Was die in acht Bundesländern vorgesehenen Richterwahlausschüsse betrifft, so empfiehlt er umstandslos deren Abschaffung, “da sie in Sachen Bestenauslese iSv Art. 33 Abs. 2 GG wie in Sachen Unabhängigkeit iSv Art. 97 GG mit Händen zu greifen dysfunktional sind” (S. 42). Dort würden Posten nach Proporz in Paketlösungen verteilt und die Zahl der “Strippenzieherinnen”2) (S. 43), mit denen man sich gut stellen muss, um Karriere machen zu können, nur noch vergrößert. Die Präsidialräte an den obersten Bundesgerichten, deren Veto gegen “ungeeignete” Kandidaten faktisch den Ausschlag gibt, seien teilweise nur am “wohligen Schmoren im eigenen Saft” interessiert und trügen insoweit zum Schutz richterlicher Unabhängigkeit “soviel bei wie ein weidendes Rind zum Klimaschutz”.
Nicht nur in dieser Art der Metaphorik wird deutlich, dass der Gutachter seinem Gegenstand bisweilen mit mehr Emotion begegnet, als dem Thema mitunter gut tut. So solide, wie die justizielle Unabhängigkeit in Deutschland ja faktisch im Großen und Ganzen immer noch da steht, allerlei Einzelprobleme und der Macht der Justizministerien über sie und allem strategischen Gejammer der Richter*innenverbände zum Trotz, kann man seine Ungeduld wohl bis zu einem gewissen Grad verstehen.
Gemeinsam haben der Gutachter, die Richter*innenverbände und sämtliche Besucher*innen des DJT, dass sie als Jurist*innen nur die Fälle in den Blick zu bekommen gewohnt sind, die tatsächlich vor ihnen liegen. Im Unterschied zu denen, die das noch nicht tun, aber bald könnten.
Ob das deutsche System der Richter*innenernennung, -beförderung und -disziplinierung reformbedürftig ist, bemisst sich nicht nur nach den aktuellen Problemen, die wir mit ihm haben, sondern auch nach seiner Krisenfestigkeit angesichts der Zeiten, in denen wir leben. Das muss ja auch halten, wenn, sagen wir mal, im Freistaat Sachsen demnächst mal die AfD die Wahlen gewinnt. Die ganzen Konventionen, die im Moment dafür Gewähr bieten, dass sich die Politik aus den Personalentscheidungen der Justiz heraushält, sind ja nicht mehr als das: Konventionen. An sie wird sich genau so lange gehalten, wie sich an sie gehalten wird. Jens Maier übt ja gottlob kein Richteramt mehr aus. Was, wenn er als sächsischer Justizminister zurückkehrt? Ausgeschlossen? Wirklich?
Nicht nur in Polen, in allen Teilen der Erde hat sich in den letzten Jahren eine mächtige transnationale autoritär-populistische Bewegung formiert, die das Ziel eint, die personelle Herrschaft über die Justiz zu erringen und diese hinterher mit aller Konsequenz in den Dienst ihres Machterwerbs und Machterhalts zu stellen. Auf dem Weg zu diesem Ziel verschafft sie sich Resonanz, indem sie das Ressentiment gegen die Richter*innen-“Kaste” und ihre Privilegien und ihre Macht nährt, sich dem Willen des Volkes in den Weg zu stellen. Der deutsche Teil dieser Bewegung zumindest scheint im Moment zugegebenermaßen noch beruhigend weit von diesem Ziel entfernt zu sein. Warten wir mal ab, was der Winter bringt.
Das alles kommt aber in dem Gutachten so gut wie gar nicht vor. Lediglich in einer kurzen Bemerkung zum Bundesverfassungsgericht wird Klaus-Ferdinand Gärditz’ Vorschlag, die Zweidrittelmehrheit für die Wahl der BVerfG-Mitglieder in Art. 94 GG abschaffungsfest zu machen, en passant lobend erwähnt.
Schade eigentlich. Mal sehen, wie sich die Dynamik auf dem DJT entwickelt.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:
Die Unterabteilung Europa der Bundestagsverwaltung hat eine „Ausarbeitung“ zur Cannabislegalisierung veröffentlicht. KAI AMBOS‘ scharfe Kritik zeigt die Mängel des Papiers im Einzelnen auf.
FRIEDERIKE GEBHARD analysiert, wie die Masernimpfpflicht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Lichte der ausschließlichen Verfügbarkeit von Kombinationsimpfstoffen den Kindeswohlbegriff verschiebt.
SIMON SCHÄFER-STRADOWSKY & ANNA-LENA PRIEBE erklären warum das Merit-Order-Prinzip mitverantwortlich für die steigenden Energiepreise ist und fordern eine Erneuerung des Strommarktdesigns.
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Vacancy at the new Institute for AI and Law at the University of Tübingen
The Institute for Artificial Intelligence and Law at the University of Tübingen was founded in summer 2022. Its mandate is to support cutting-edge interdisciplinary research at the intersection of artificial intelligence and law. We will hire a post-doctoral researcher and group leader in law (m/f/d). A completed doctoral degree is required. Please click here for further information.
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SASKIA STUCKI nimmt die schweizerische Volksinitiative gegen Massentierhaltung zum Anlass, die klimapolitische Bedeutung von staatlichen Fleischregulierung zu betonen.
LOUISE DU TOIT gibt einen Überblick über den Shell-Fall in Südafrika und erörtert das Urteil und seine Bedeutung für soziale und ökologische Gerechtigkeit.
MARCIN MATCZAK liefert einen persönlichen und ausführlichen Bericht über die Debatte, wie die Rechtsstaatlichkeit in Polen verbessert werden kann: Er ist der Meinung, dass man nicht auf die Emotionen der Menschen setzen sollte, sondern auf ein umfassendes rechtliches Verfahren.
Anlässlich der Proteste von Demokraten bei verschiedenen königlichen Veranstaltungen in dieser Woche befasst sich DAVID MEAD mit Fragen der polizeilichen Überwachung von Meinungsfreiheit, Protesten und abweichenden Meinungen in Großbritannien.
JUDIT BAYER kommentiert den Entwurf des Medienfreiheitsgesetzes der Europäischen Kommission – und was darin noch fehlt.
RIVKA WEILL stellt uns ihre Theorie zu verfassungsrechtlichen Schutzklauseln vor.
Unsere Blog-Debatte über Frontex und die Rechtsstaatlichkeit geht weiter mit einem Beitrag von Amanda Musco Eklund in zwei Teilen (Teil I und Teil II).
So viel für diesmal. Ihnen alles Gute und bis nächste Woche!
Ihr
Max Steinbeis
References
↑1 | Zu diesem Begriff lässt DJT-Gutachter Wittreck seine Leser*innen – Triggerwarnung! – in Fußnote 31 folgendes wissen: “Die geläufige Redeweise davon, die Unabhängigkeit sei ,Ausfluss’ der Gewaltenteilung, kommentiert der Verfasser in der Vorlesung gerne dahingehend, dass die Studierenden sich im Falle der Feststellung von Ausfluss an den Urologen oder die Urologin ihres Vertrauens wenden, den Begriff im genuin rechtswissenschaftlichen Kontext aber als greifbar inadäquat meiden sollten.” |
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↑2 | Warum hier die weibliche Form verwendet wird, bleibt unerklärt. |
Wittreck dürfte sich mit institutionellen Intrigen hervorragend auskennen, weil seine eigenen Worte als Strick gegen Horst Dreier in einem solchen Kontext verwendet wurden. Insoweit halte ich den Zynismus des Beitrags nicht für über-, sondern gar untertrieben. Im höheren deutschen Justizwesen, vom Hochschulwesen garnicht zu reden, zu überleben, ohne Zyniker zu sein, dürfte eine unerfüllbare Aufgabe sein.
Zu Fn. 2 (“Strippenzieherinnen”): Manche Lektoren schlagen vor, einfach wechselnd das generisch weibliche & männliche Wort zu benutzen … . Was mit dem Dritten passiert, bleibt unklar. #gender
Ganz am Anfang meines lange zurückliegenden Jura-Studiums habe ich gelernt, dass sich selbst diskreditiert, wer in einem juristischen Text unsachlich wird. Nach diesem Maßstab hat Prof. Wittreck leider die volle Negativ-Punktzahl erreicht.
Beeindruckend ist, mit welcher Leichtfertigkeit er darüber hinweggeht, dass und warum die allermeisten EU-Mitgliedsländer gemäß den aus dem Rechtsstaatlichkeitsgrundsatz folgenden Beitrittsregeln zur EU über von der Exekutive unabhängige Justizräte verfügen und wie bedenkenlos er in seinem Gutachten die Jahrzehnte alten Forderungen und entsprechenden Gesetzentwürfe der deutschen Richterverbände (abgesehen vom BDVR) nach dem Ende der Steuerung der dritten Staatsgewalt durch die Exekutive abtut. Dabei sind die deutschen, in mancher Hinsicht noch wilhelminisch anmutenden Justizstrukturen aus der Zeit gefallen und – nicht zuletzt im Hinblick auf eine gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung – dringend reformbedürftig. Auch in Deutschland sollte die rechtsprechende Staatsgewalt nicht weiterhin als “nachgeordneter Bereich” der Justizministerien geführt, sondern mit einem zur eigenen Staatsgewalt gehörenden Verwaltungsorgan versehen werden.
Der nächste Juristentag verspricht hochspannende Diskussionen zur Unabhängigkeit der deutschen Justiz, vor allem im Lichte der europäischen, vom EuGH wie EGMR (!) aufgestellten Maßstäbe, an deren Ende hoffentlich Reformen stehen.
Mit Blick auf die – von Wittreck offenbar gering geschätzte – institutionelle Unabhängigkeit geht es in der Tat vor allem um die constitutional resilience. Nach der letzten Umfrage ist die AfD bei weitem stärkste Kraft in Thüringen. Ich habe lebhaft einen polnischen Kollegen vor Augen, der zu einem “Forum des Magistrats” am EuGh im letzten November sinngemäß ausrief, er habe sich anlässlich eines Justizbesuches in Freiburg mit den Strukturen der deutschen Justiz befasst und “Alpträume” bekommen (ein vergleichbares Erlebnis mit einer polnischen Kollegin schildert auch Wittreck in seinem Gutachten …).
Wittreck betont auf der anderen Seite zu Recht die Mängel bei der “inneren Unabhängigkeit”. Als problematisch dürften sich vor allem Recht und Praxis der – arkanen – Bundesrichterwahlen erweisen. Hier zeigt sich jüngsten Umfragen zufolge auch erhebliche Skepsis in der deutschen Richterschaft. Nebenbei: Meinen eigenen rechtshistorischen Forschungen zur NS-Belastung von Nachkriegsjuristen zufolge dürfte das System der Bundesrichterwahlen es ermöglicht, jedenfalls nicht verhindert haben, dass selbst hochbelastete “furchtbare Juristen” an Bundesgerichte gelangten. Hier bedarf es weiterer Forschung.
Die Kritik an den Richterwahlausschüssen vermag ich hingegen nicht nachzuvollziehen. Als Mitglied des Thüringer Richterwahlausschusses habe ich keinerlei Versuch einer Einflussnahme erlebt, vielmehr parteiübergreifend sachliche Erwägungen im Interesse unseres Rechtsstaates.
Letztlich gilt auch für unsere Justiz: Semper reformanda!
Als bloßer Bürger – kein Jurist – war und ist meine Hoffnung, dass wenigstens die Dritte Gewalt unabhängig ist. Und ich wünschte mir, dass nicht mehr von Gewaltenteilung, sondern – viel schärfer – von Gewaltentrennung die Rede wäre. Ansonsten ist es für mich sehr vertrauensbildend, wenn die Justiz mit sich selbst kritisch umgeht. Deshalb schätze ich übrigens als Laie auch diesen Verfassungsblog.