21 March 2023

Vom Chancentod zur Chance: Ein wahlrechtlicher Vorschlag zur Güte

Die ohnehin nicht gerade ruhmreiche Geschichte der Bemühungen um eine Reform des Bundestagswahlrechts ist am vergangenen Freitag um ein weiteres Kapitel ergänzt worden. Dabei hat alles so gut angefangen: Nach Jahrzehnten mit planlosem Rumgekicke hat die Ampel zunächst ein Spiel aus einem Guss hingelegt, hat vorbildlich Ball (= Verhältniswahl) und Gegner (= CSU) laufen und sich von den frenetischen Fans (= Freundeskreis einfaches Wahlrecht) zu Recht feiern lassen. Das neue Verhältniswahlrecht verkleinert den Bundestag, es macht aus wahlrechtlichen Absurditäten wie Überhangmandaten und negativem Stimmgewicht Rechtsfossile, und man kann es jetzt sogar wieder wagen, im Hörsaal das Wahlrecht zu erklären, ohne ins Schleudern zu geraten. Im Stadion verleihen wir für so ein Kabinettstückchen schon einmal den Ehrentitel „Fußballgott“.

Kurz vor dem Tor hat die Ampel dann aber alles verstolpert. Im Stadion nennt man so etwas dann „Chancentod“. Die Rede ist nicht von der Grundmandatsklausel, zu der Christoph Schönberger einen treffend tränenlosen Nachruf verfasst hat. Dass südbadische Linke nur deshalb in den Bundestag einziehen, weil im fernen Berlin ein Parteikollege seinen Kiez erfolgreich bespielt hat, ließ sich auch mit dem vom Bundesverfassungsgericht beschworenen „Anliegen weitgehender integrativer Repräsentanz“ (BVerfGE 95, 408/420) kaum erklären. Tränenlos wäre wohl auch ein Nachruf der SPD auf die LINKEN, die man ganz gerne als politische Konkurrentin um Wähler:innen los wäre, denen soziale Gerechtigkeit noch ein politisches Anliegen ist. Entsprechend groß soll hier das Engagement für die Reform gewesen sein. Ohne es öffentlich zuzugeben, würde auch manches CDU-Mitglied keine Träne über eine verblichene bayerische Regionalpartei vergießen, die ihre grotesken Privilegien gegenüber den 15 CDU-Landesverbänden in der Vergangenheit immer wieder dazu benutzt hat, Minister (hier nicht als generisches Maskulinum) nach Berlin zu entsenden, die die Grenze des Zumutbaren streifen und die – wie beim Länderfinanzausgleich, bei der Krankenhausreform und beim Wahlrecht – das bundesweite Gemeinwohl nur interessiert, wenn es sich mit bayerischen Interessen deckt.

Aber es geht beim Wahlrecht eben nicht darum, wer wem nicht fehlt. Mehr als bei jedem anderen Thema müssen parlamentarische Mehrheiten beim Wahlrecht auf politische Fairness achten (hier und hier) – nicht nur, weil sie Gesetzgebung in eigener Sache betreiben, sondern auch, weil sie das Betriebssystem der Demokratie bearbeiten. Das vom U.S. Supreme Court akzeptierte, derzeit aber wieder anhängige Gerrymandering in den USA ist insoweit ein mahnendes Beispiel dafür, wie man mit der Ausnutzung von kurzfristiger politischer Macht der Demokratie (und letztlich auch sich selbst) langfristig schadet. Republikaner und Demokraten praktizieren den interessengeleiteten Neuzuschnitt von Wahlkreisen mittlerweile mit einer frappierenden Selbstverständlichkeit und führen zur Rechtfertigung an, dass es die anderen ja auch so machen. Auch die Ampel wird nicht ewig regieren. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.

„Vor dem Spiel“ sollte hier aber nicht bedeuten: Wir warten, bis es uns die anderen mit den gleichen Mitteln heimzahlen oder das Bundesverfassungsgericht den Daumen senkt. Beides kann man nicht ausschließen. Um das zu verhindern, müsste die Diskussion aber die bisherige Engführung auf die Grundmandatsklausel verlassen. Einige Ampel-Abgeordnete wollen sie aus politischen Gründen wieder zurück haben; Christoph Schönberger und Joachim Wieland halten ihren Wegfall aber nicht für verfassungswidrig und möchten damit dann gleich die ganze verfassungsrechtliche Debatte beenden. Verfassungsrechtlich geht es aber nicht um die Frage, ob die Grundmandatsklausel zwingend ist oder nicht – natürlich ist sie es nicht. Eine auf Wiedereinführung der Grundmandatsklausel gerichtete Normenkontrolle wäre schon deshalb unzulässig, weil ihr Beschwerdegegenstand nur eine existierende Norm sein kann.

Durch den Wegfall der Grundmandatsklausel rückt aber die 5%-Klausel (§ 6 Abs. 3 BWahlG) wieder in den verfassungsrechtlichen Fokus. Das Bundesverfassungsgericht hat die „Grundmandatsklausel als Mittel des Ausgleichs zwischen Funktionsfähigkeit und Integration“ (BVerfGE 95, 408/424) verstanden und damit auch zum Ausdruck gebracht, dass sie die Härten der 5%-Klausel abmildern soll. Nach ihrer Abschaffung bedeutet aber nun ein Zweitstimmenanteil von unter 5% das ultimative Aus bei der parlamentarischen Sitzverteilung. Der Eingriff in den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) ist erheblich: Hätte es bei der vergangenen Wahl keine Grundmandatsklausel gegeben, wären gut 2,2 Millionen Stimmen für die LINKEN verfallen. Würde die CSU bei der nächsten Bundestagswahl bei sonst gleich bleibenden Verhältnissen nur minimal schlechter abschneiden als bei der vergangenen, wären weitere gut 2 Millionen Zweitstimmen betroffen. Bei der Bundestagswahl 2013 sind der 5%-Klausel gar 6,8 Millionen Zweitstimmen zum Opfer gefallen, das waren 15,7% aller abgegebenen Zweitstimmen (vgl. BVerfGE 146, 327 Rn. 71). Bei solchen Zahlen muss man sich über das abnehmende Interesse an Wahlen nicht beklagen.

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht Sperrklauseln für Bundestagswahlen unter Hinweis auf die notwendige Funktionsfähigkeit des Bundestages stets akzeptiert (seit BVerfGE 1, 208) – obwohl sich der Parlamentarische Rat gegen sie ausgesprochen und daher das erste Wahlgesetz zum Bundestag keine Sperrklausel enthalten hat (Meyer, Handbuch des Staatsrecht III, § 46 Rn. 38). Aber es hat stets Wert darauf gelegt, dass dies im „gegenwärtigen Zeitpunkt“ (BVerfGE 1, 208/256) gelte und der Grad der zulässigen Differenzierungen „nicht losgelöst von dem jeweiligen Wahlsystem und dem Aufgabenkreis der zu wählenden Volksvertretung“ bestimmt werden könne (BVerfGE 51, 222/235). Tatsächlich hat es dann nicht nur die 5%-, sondern später sogar die 3%-Klausel für Wahlen zum Europäischen Parlament als verfassungswidrigen Eingriff in die Gleichheit der Wahl angesehen und in diesem Zusammenhang betont, dass die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit „nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden“ und daher eine „einmal als zulässig angesehene Sperrklausel […] nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden“ könne (BVerfGE 135, 259 Rn. 54f.). Auch Sperrklauseln bei Wahlen zu kommunalen Vertretungskörperschaften wurden nicht akzeptiert (BVerfGE 120, 82/109ff.); der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof ist sogar so weit gegangen, eine in der Landesverfassung festgeschriebene 2,5%-Klausel für Wahlen zu Gemeinderäten und Kreistagen als verfassungswidrig zu verwerfen (VerfGH NRW, NVwZ 2018, 159 Rn. 93ff.).

Über die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Wahlen zum Europäischen Parlament kann man natürlich mit Fug und Recht streiten, weil man sie auch als Geringschätzung des Europäischen Parlaments verstehen kann, das eben so unwichtig ist und möglichst auch bleiben sollte, dass seine Funktionsfähigkeit kein besonderes verfassungsrechtlich legitimes Schutzziel ist, das mit einer Sperrklausel geschützt werden müsste. Die Entscheidungen zeigen aber, dass es das Bundesverfassungsgericht mit dem Anspruch ernst meint, die 5%-Klausel im jeweiligen politischen System zu kontextualisieren und die Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit bei grundlegenden Veränderungen des Wahlrechts neu zu stellen. Der faktische Übergang zu einem Verhältniswahlrecht könnte als eine solche Zäsur verstanden werden. Auf der einen Seite verlieren die Wahlkreise weitgehend an Bedeutung; die Gefahr, dass aus ihnen regionale Splitterparteien in den Bundestag kommen, ist durch den Wegfall der Grundmandatsklausel gebannt. Auf der anderen Seite bewirkt ihr Wegfall neue Härten, weil eben unter 5% ausnahmslos Schluss ist, wenn man einmal von den Parteien nationaler Minderheiten absieht.

Die verfassungsrechtlich notwendige Kontextualisierung der 5%-Klausel erfolgt zudem unter der Ägide eines im Vergleich zur früheren Judikatur schärfer gestellten Kontrollmaßstabs. In seiner Entscheidung aus 1979 zur Verfassungsmäßigkeit der 5%-Klausel bei Europawahlen hat das Bundesverfassungsgericht noch Zurückhaltung walten lassen. Es müssten „besondere Umstände des Einzelfalles“ vorliegen, die ein solches Quorum unzulässig machen würden; alles andere sei die freie Entscheidung des Gesetzgebers, und das Bundesverfassungsgericht könne nur prüfen, „ob die Grenzen des gesetzgeberischen Ermessens überschritten worden sind“ (BVerfGE 51, 222/237f.). Dies laxe Praxis ist seit der Entscheidung zur 5%-Klausel bei Kommunalwahlen vorbei. Seither betont das Bundesverfassungsgericht, dass an Differenzierungen innerhalb der Wahlrechtsgleichheit „grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen“ sei (BVerfGE 120, 82/106); für sie bleibe „dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener Spielraum“ (BVerfGE 135, 259 Rn. 57). Daher wollte das Bundesverfassungsgericht selbst die 3%-Klausel bei Europawahlen nur durch „die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane aufgrund bestehender oder bereits gegenwärtig verlässlich zu prognostizierender künftiger Umstände“ (BVerfGE Band 135, 259 Rn. 59) rechtfertigen.

Diese Maßstäbe wird das Bundesverfassungsgericht auch an die im veränderten Kontext des neuen Verhältniswahlrechts stehende 5%-Klausel anlegen. Ob sie ihnen standhalten wird, lässt sich kaum verlässlich prognostizieren. Einfluss auf die Entscheidung dürfte aber der Umstand haben, dass das neue Wahlrecht ausgerechnet zwei derzeit im Bundestag vertretene Oppositionsparteien in ihrer bundespolitischen Existenz gefährdet. Insbesondere in den Unionsparteien kann die harte 5%-Klausel tektonische Prozesse auslösen, an deren Ende entweder eine bayerische CDU oder eine bundesweit ausgedehnte CSU stehen könnten. Es geht hier also um möglicherweise weitreichende politische Dispositionen, und dies nur gut zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl. Das Bundesverfassungsgericht könnte daher eine Idee wiederbeleben, die es aus Anlass der ersten gesamtdeutschen Wahl und ihrer besonderen Umstände entwickelt hat: eine regionalisierte 5%-Klausel (BVerfGE 82, 322), die nicht auf das gesamte Wahlgebiet bezogen ist, sondern alle Parteien am Verhältnisausgleich teilnehmen lässt, die in einem Bundesland 5% der für ihre Landeslisten abgegebenen Stimmen erreichen. Diese Regelung würde dann nur für die Bundestagswahl 2025 gelten und gäbe den Parteien hinreichend Zeit, ihre Aufstellung für die übernächste Bundestagswahl zu diskutieren – oder bei passenden Machtverhältnissen das Wahlrecht wieder zu ändern.

Für die politische Kultur wäre es aber am besten, wenn es gar nicht erst zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kommen müsste. Das verhindert aber sicher nicht die Revitalisierung der Grundmandatsklausel, die ein Relikt des überkommenen Mehrheitswahlrechts ist und dadurch ihrerseits verfassungsrechtlichen Konsistenzanfragen ausgesetzt wäre. Vorzugswürdig wäre eine dosierte Absenkung der Sperrklausel. In Betracht kämen hier beispielsweise die 3,5%, die das Europäische Parlament für die nächsten Europawahlen vorgeschlagen hat. Das hätte den positiven Nebeneffekt, dass Europäisches Parlament und Bundestag in ihrer notwendigen Funktionsfähigkeit als gleichermaßen schutzbedürftig behandelt werden könnten. Bei Zugrundelegung der Ergebnisse der vergangenen Bundestagwahl würde eine 3,5%-Klausel noch immer verhindern, dass Parteien, die bundesweit weniger als 1,5 Millionen Stimmen erhalten haben, nicht in den Bundestag einziehen; das sind immer noch sehr viele! Zugleich würde sie den betroffenen Oppositionsparteien die Zustimmung erleichtern oder, anderenfalls, die Erfolgsaussichten ihrer angekündigten Klagen minimieren.

Es liegt im Interesse aller demokratischen Parteien, den bösen Anschein, dass ein Wahlgesetz kein demokratisches, sondern ein demoskopisches Projekt ist, zu vermeiden. Wenn die negativen Erfahrungen nicht nur der vergangenen Wochen, sondern Jahre dann noch zu der Erkenntnis führen sollten, dass das Wahlsystem nicht allein in die Hände einfacher Mehrheiten gehört und daher in Art. 38 GG in seinen Grundzügen geregelt werden sollte, wäre aus dem „Chancentod“ eine echte Chance geworden.


SUGGESTED CITATION  Kingreen, Thorsten: Vom Chancentod zur Chance: Ein wahlrechtlicher Vorschlag zur Güte, VerfBlog, 2023/3/21, https://verfassungsblog.de/vom-chancentod-zur-chance-ein-wahlrechtlicher-vorschlag-zur-gute/, DOI: 10.17176/20230321-185249-0.

3 Comments

  1. Uwe Volkmann Tue 21 Mar 2023 at 15:12 - Reply

    Das ist auch ein Vorschlag, über den man reden kann. Irgendwas wird man jedenfalls machen müssen, so wie es ist, kann es nicht bleiben.

  2. P. Fuchs Wed 22 Mar 2023 at 00:23 - Reply

    Interessanter Beitrag!
    Evtl. bin ich zu müde, aber mir scheint da ein [nicht] am falschen Ort!? —–
    (…) würde eine 3,5%-Klausel noch immer verhindern, dass Parteien, die bundesweit weniger als 1,5 Millionen Stimmen erhalten haben, [nicht] in den Bundestag einziehen; (…)

    • Thorsten Kingreen Wed 22 Mar 2023 at 12:42 - Reply

      Vielen Dank, Sie sind nicht zu müde gewesen, sondern haben Recht.

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