Entscheidungsfreudig, aber begründungsschwach
Mangelnde Entscheidungsfreude kann man der CSU nicht vorwerfen. Nur einen Tag nach der Verabschiedung der Wahlrechtsreform im Bundestag hat die Partei beschlossen, das Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel anzurufen, die Reform für verfassungswidrig erklären zu lassen. Was aber ist die rechtliche Begründung für die beabsichtigte Klage? Darüber ist bislang nichts zu erfahren. Politische Empörung begründet noch keine Verfassungsklage. Nicht ohne Grund war die bisherige verfassungsrechtliche Diskussion zwar intensiv, hat aber keine Verfassungsverletzung aufgezeigt.
Der Regierungsentwurf des Reformgesetzes sah noch die Beibehaltung der Grundmandatsklausel vor. Die juristischen Berater der Regierungskoalition Jelena von Achenbach, Florian Meinel und Christoph Möllers hatten sie in der Anhörung des Bundestagsausschusses für Inneres und Heimat als für die Glaubwürdigkeit des Entwurfs unabdingbar, aber verfassungsrechtlich nicht für geboten erklärt. Die Chancenverteilung im politischen Wettbewerb könne aber nur dadurch sichergestellt werden, dass die Grundmandatsklausel beibehalten werden. Demgegenüber hatten die Sachverständigen der Union in der gleichen Anhörung die Beibehaltung der Grundmandatsklausel als verfassungsrechtlich nach der Reform nicht mehr haltbar (Philipp Austermann), nicht widerspruchsfrei begründbar (Stefanie Schmahl) und als verfassungswidrige Systemausnahme (Bernd Grzeszick) qualifiziert. Die Grundmandatsklausel sei in dem reformierten Wahlrecht systemfremd und mit der Gleichheit der Wahl unvereinbar, weil sie das Direktmandat vom ansonsten bestehenden Erfordernis der Hauptstimmendeckung löse. Diese Bedenken sind nicht von der Hand zu weisen. Schon für das bislang geltenden Wahlrecht hatte das Bundesverfassungsgericht 1997 die Grundmandatsklausel nur mit erheblichem argumentativem Aufwand zu rechtfertigen vermocht. Ob das Gericht sie in einem konsequent als Verhältniswahl ausgestalteten System noch einmal billigen würde, war jedenfalls nicht sicher. Michl und Mittrop haben zu Recht darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber nach der Verabschiedung der Personenwahl im Wahlkreis bei der Proporzverteilung schwerlich eine Legitimation für die Berücksichtigung von Parteien, die wegen ihres schlechten Abschneidens eigentlich nicht an der Mandatsverteilung teilnehmen, vorsehen könne. Der Gesetzgeber war deshalb gut beraten, das verfassungsrechtliche Risiko, auf das ihn die Sachverständigen in der Anhörung hingewiesen hatten, ernst zu nehmen und die Grundmandatsklausel aus dem Entwurf zu streichen.
Eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Beibehaltung der Grundmandatsklausel hatte bislang noch niemand überzeugend begründet. Dominik Rennert sieht nun in diesem Blog ein verfassungsrechtlich ernst zu nehmendes Legitimationsproblem für das Wahlsystem und seine Integrationsleistung, wenn eine Partei, die nur in einem Land antritt und in diesem Land fast alle Wahlkreise gewinnt, mangels einer Grundmandatsklausel oder einer vergleichbaren Regelung nicht in den Bundestag einzieht. Warum soll das aber für eine Verhältniswahl auf Bundesebene gelten? Uwe Volkmann hat ebenfalls in diesem Blog eingeräumt, dass es schwer sei, einen konkreten Verfassungssatz zu benennen, mit dem die Streichung der Grundmandatsklausel nicht vereinbar sei. Er hat aber auf das weithin empfundene Störgefühl hingewiesen, dass sich aus der nicht hinreichenden Repräsentanz einer Partei im Parlament nähre. Auch Maximilian Steinbeis hat beachtliche verfassungspolitische Bedenken, aber keine Gründe für eine Verfassungswidrigkeit der Abschaffung der Grundmandatsklausel formuliert. Demgegenüber hat Christoph Schönberger im Verfassungsblog zu Recht von einem Nachruf ohne Tränen gesprochen, weil die Kritiker keinerlei auch nur von Ferne verfassungsrechtliches Argument gegen die Streichung der Klausel vorbringen könnten. Dem ist zuzustimmen.
Das Wahlrecht muss nicht auf die Strategien der politischen Parteien Rücksicht nehmen, sondern die Parteien müssen ihren Erfolg im geltenden Wahlrecht suchen. Angesichts ihrer starken Stellung in Bayern konnte die CSU in den vergangenen Jahrzehnten als Regionalpartei auf der bundespolitischen Bühne agieren. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern Ergebnis der Wählerentscheidung, eine Regionalpartei in einem Land so stark zu machen, dass sie als Akteur in der Bundespolitik die Interessen des Landes durchsetzen kann. Das ist der CSU bei der Lenkung von Ressourcen des Bundes nach Bayern seit langem gelungen. Solange die bayerischen Wähler dieses Vorgehen genügend stützen, kann die CSU ihre bundespolitische Rolle weiterspielen. Wenn aber ihr Rückhalt in Bayern dafür nicht mehr ausreicht, muss sie ihre Strategie ändern und sich mit der CDU zusammenschließen. Die Tradition der Fraktionsgemeinschaft im Bundestag spricht seit langem dafür. Der Gesetzgeber ist jedenfalls nicht verpflichtet, für die Perpetuierung der Machtstellung der Regionalpartei CSU in der Bundespolitik zu sorgen. Die Unionsparteien haben selbst noch am 24. Januar 2023 beantragt, die Grundmandatsklausel von drei auf fünf errungene Sitze zu erhöhen. Dieser offensichtliche Versuch, die Privilegierung der CSU zu sichern und zugleich für einen Abschied der Linken aus dem Bundestag zu sorgen, zeigt eine machtpolitische Motivation. Eine Verschleierung machtpolitische Interessen mit Argumenten demokratischer Repräsentation überzeugt nicht. Ein Störgefühl hätte die Beibehaltung der Grundmandatsklausel im neuen System der Verhältniswahl hervorgerufen. Warum sollte in einer Verhältniswahl auf Bundesebene bei einem gleichen Wahlergebnis von 4,9 % eine Partei, die drei Wahlkreise gewonnen hat, in Fraktionsstärke im Bundestag vertreten sein, während eine andere Partei mit der gleichen Zahl von Stimmen, aber weniger als drei Direktmandaten keine Abgeordnete nach Berlin entsenden? Der darin liegende Verstoß gegen die Gleichheit der Verhältniswahl ist kaum zu übersehen. Wir können deshalb mit Spannung auf die verfassungsrechtliche Begründung der angekündigten Klage der CSU warten.
Aber selbst wenn es vielleicht nicht zwingend die Grundmandatsklausel braucht – da mag der Beitrag ja Recht haben -, bleibt doch immer noch ein ungelöstes verfassungsrechtliches Problem.
Es geht ja nicht nur um oberflächliche Parteienstrategien, sondern um eine über 150jährige Geschichte: seit dem Kaiserreich ist die BVP/CSU eigenständig organisiert. Und hinter dieser Geschichte stecken vielleicht wirklich tiefere regionale Unterschiede. Es geht ja unter anderem auch um die Linkspartei als eine Partei mit Schwerpunkt in Ostdeutschland. Das mag sich ja ändern, aber sicher nicht von heute auf morgen.
Kann man das wirklich so schnell vom Tisch wischen? Die starken regionalen Disparitäten in der Bundesrepublik abzubilden und so die Integrationskraft der Wahl sicherzustellen, mag es dennoch brauchen. Das kann ja verschieden aussehen, vielleicht fällt die 5 % – Klausel, oder eine abgewandelte Grundmandatsklausel, oder Listenverbindungen. Aber die dahinterliegende Integrationsfunktion der Wahl ist schon ein ernstzunehmendes verfassungsrechtliches Argument.
Die Debatte ist ein treffender Anlass, die 5%-Hürde insgesamt unter die Lupe zu nehmen.
Eine Sperrklausel bedarf immer einer Rechtfertigung, insbesondere wenn sie einen beachtlichen Wählerteil (hier 1/20) für den Einzug ins Parlament voraussetzt. Höhere Sperrklauseln kennen nur die Türkei, Russland, Liechtenstein und Kasachstan.
Viele Staaten mit einer Sperrklausel verfügen über ein Korrektiv, das über ähnliche Ideen regionaler Anbindung funktioniert wie die dt. Grundmandatsklausel – vergleiche hier etwa Schweden oder Österreich.
Entstehungsgeschichtlich wird auf die Erfahrungen der Weimarer Republik verwiesen, die aber mittlerweile auch um Erfahrungen in anderen Parteiendemokratien mit keinen oder geringeren Sperrklauseln ergänzt und hinterfragt werden können.
Eine Sperrklausel von 5% macht eine Parteiengründung nahezu uninteressant, es ist kaum erfolgversprechend möglich, auf politische Vorgänge außerhalb des bestehenden Parteienapparates mit einem abweichendem Programm reagieren zu können.
Daneben hat sich beim knappen Verfehlen der Hürde von FDP und AfD gezeigt, dass sie auch dazu führen kann, dass rund 1/6 der abgebenen Stimmen nicht zu einer Repräsentation im Parlament führten.
Mit Wegfall des Grundmandatskorrektives, einer schnelllebigeren Zeit und der Erfahrung anderer Staaten lässt sich fragen, ob die tradierte 5%-Hürde nicht zu einer 2- oder 3% Prozenthürde mutieren sollte und die Bundesrepublik damit mehr Demokratie wagen sollte.
So nachvollziehbar der Zorn über den machiavellistischen Umgang der CSU mit dem Wahlrecht ist, sollte man vielleicht trotzdem das verfassungsrechtliche Argument ernst nehmen. Im Kern haben ja sehr viele Beobachter Bauchschmerzen (auch innerhalb der Koalition und im Verfassungsrecht). Das soll wirklich alles nur Verfassungspolitik und Klugheitsregel sein? Zumindest eine Diskussion ist es doch wert!
Wie ist es denn mit der regionalen Integrationsfunktion der Wahl? Strahlt unser Bundesstaatsprinzip insofern aus, als regionalen Unterschieden Raum gegeben wird? Oder gerät umgekehrt die 5 % – Hürde als – dann, ohne Grundmandatsklausel – zu massive Verzerrung der Verhältniswahl unter Druck? Müssen wir begleitend Listenverbindungen (CDU-CSU) zulassen? Etc. pp.. Ganz so offensichtlich, wie es der Beitrag darstellt, ist es möglicherweise auch hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Argumentation nicht.
“Wie ist es denn mit der regionalen Integrationsfunktion der Wahl? Strahlt unser Bundesstaatsprinzip insofern aus, als regionalen Unterschieden Raum gegeben wird?”
Smend wäre sicherlich sehr stolz darauf, dass man seine Integrationsleerformeln und andere Smend-Ismen auch nahezu 100 Jahre später dazu verwendet, eine politisch konservative Partei unter dem Deckmantel eines rechtsdogmatischen Arguments in die “Verfassungsrealität” zu zementieren. Dass die Linkspartei dabei auch unter den Schirm dieses “Arguments” fällt, ist angesichts seiner geschichtlichen Herkunft sehr amüsant.
Der Beitrag scheint ein wenig blind auf dem föderalen Auge. Welche verfassungsrechtliche Bedeutung haben regional gewachsene Strukturen wie die CSU oder die Ost-Linke im Wahlrecht? Darum geht es doch im Kern. Herrn Wielands Antwort verstehe ich als: überhaupt keine, das ist völlig irrelevant, die Parteien müssen sich dem Wahlrecht fügen. Die Position kann man natürlich vertreten, aber dass sie verfassungsrechtlich die einzig Wahre sein soll, scheint doch überraschend.
Woraus soll das denn folgen? Umgekehrt: macht es dann überhaupt noch Sinn regionale Parteien gründen und wenn nein: was bedeutet das für Art. 21 GG? Ist das Bundesstaatsprinzip völlig irrelevant? Siehe auch vorhergehende Kommentare zur 5 % – Klausel & Integrationsfunktion.
Vorschlag für ein gerechtes neues Wahlrecht
Die Anzahl der Wahlkreise wird auf 200 reduziert. In ihnen wird ein Kandidat mit absoluter Mehrheit gewählt. Kommt diese im ersten Wahlgang nicht zustande, findet zwei Wochen später eine Stichwahl statt zwischen dem erstplatzierten und dem zweitplatzierten Kandidaten. So wird stets eine absolute Mehrheit bei den Wahlkreiskandidaten sichergestellt.
Eine gleichgroße Anzahl von Abgeordneten, also auch 200, wird über Parteilisten gewählt. Hier kommt das Verhältniswahlrecht zur Anwendung. Absenkung der Sperrklausel auf 2%. Sie ist damit immer noch hoch genug, um Splitterparteien aus dem Bundestag herauszuhalten; gleichzeitig jedoch auch niedrig genug, um Parteien mit regionalem Schwerpunkt den Einzug in den Bundestag zu ermöglichen. Daher kann die Grundmandatsklausel entfallen, ohne dass dies Probleme verursacht.
Es ist ein Grabenwahlrecht, so dass es keine Überha