Von Brokdorf nach Neukölln
Zum Verbot zweier pro-palästinensischer Versammlungen in Berlin
Die Räume für zivilgesellschaftlichen Protest scheinen sich zunehmend zu verengen. Dies legt nicht nur das martialische Vorgehen der Sicherheitsbehörden gegen die Letzte Generation, die polizeiliche Begleitung des Berliner Demonstrationsgeschehen am 1. Mai oder die Strafverfolgung wegen Nichtanmeldung einer Spontanversammlung in Bremen nahe. „Die grundsätzliche Wertung der Versammlungsfreiheit als fundamentales demokratisches Grundrecht scheint in Vergessenheit geraten“, konstatiert Tore Vetter in der taz.
Vor diesem Hintergrund besorgniserregend (so bereits auf diesem Blog Steinbeis) ist auch das Verbot zweier pro-palästinensischer Versammlungen in Berlin. Die Verbote beruhen nicht nur auf einer Gefahrenprognose, welche die hohen Anforderungen, die Art. 8 GG an ein präventives Versammlungsverbot stellt (etwa BVerfG Rn. 81), grundsätzlich verkennt. Vielmehr stützen die Bescheide (mir vorliegend) diese Gefahrenprognose auch maßgeblich auf rassistische Zuschreibungen. Eilrechtsschutz gegen beide Verbote scheiterte jeweils vor dem OVG, die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor.
Versammlungsverbote für ein politisches Spektrum
In Berlin gab es in der Vergangenheit immer wieder antisemitische Vorfälle auf und im Umfeld von Versammlungen, auch solcher aus dem linken und dem pro-palästinensischen Lager. Letzteres erinnert jährlich um den 15. Mai an die sogenannte Nakba, also die Vertreibung einer großen Zahl Palästinenser*innen aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina im Jahr 1948. Auch dieses Jahr sollte der Tag in Berlin im Rahmen zweier Demonstrationen, die für den 13. und 20. Mai angemeldet worden waren, begangen werden.
Zur Demonstration am 13. Mai hatte das Kollektiv betafelz aufgerufen, laut Angaben der Versammlungsbehörde eine feministische Gruppe „von Menschen palästinensischer, jüdischer und deutscher Herkunft.“ Ob die Zusammensetzung und Ausrichtung des Kollektivs möglicherweise eine Auswirkung auf die Wahrscheinlichkeit antisemitischer oder sonst strafbarer Vorfälle haben könnte, ist der Versammlungsbehörde keiner Erörterung wert. Vielmehr hätten verschiedene Organisationen die Veranstaltung in den sozialen Medien geteilt, geliked oder sogar zur Teilnahme aufgerufen, darunter „solche, die Bezüge zu ‚Boycott, Divestment and Sanctions‘ (BDS) aufweisen.“ Dass dies eine Gefahrenprognose zu stützen vermag, verwundert. Zwar wird der BDS-Kampagne verbreitet Antisemitismus attestiert, unter anderem durch den Bundestag (kritisch dazu hier). Allerdings hatte das BVerwG festgestellt, dass auch die Positionen von BDS der Meinungsfreiheit unterfallen (dazu hier). Sie sind jedenfalls nicht pauschal strafbar.
Außerdem nennt die Versammlungsbehörde in beiden Bescheiden zahlreiche Organisationen aus dem pro-palästinensischen Lager, mit deren Teilnahme sie rechnet, ohne dass sich aus dem unstrukturierten Vortrag stets ergibt, woraus sich diese Einschätzung ableitet.
So seien „Versammlungen, die sich kritisch mit dem Schicksal von Palästinensern in israelisch besetzten Gebieten auseinandersetzen, vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse im Zusammenhang mit Ost-Jerusalem und dem Gaza-Streifen damit geeignet, Personen zu mobilisieren, die sich im konkreten Fall zu Handlungen oder Äußerungen hinreißen lassen, die nicht mit der deutschen Gesetzgebung vereinbar sind.“ Die Versammlungsbehörde schreibt in beiden Bescheiden wörtlich aus der Einleitung eines Textes der WELT ab: „Während manche Demonstranten auch die Hamas kritisierten, stellten viele andere das Existenzrecht Israels in Frage und äußerten sich offen antisemitisch“. Dieser Beitrag zum bundesweiten Geschehen um die Nakba im Jahr 2021 nennt aber in Bezug auf Berlin keine antisemitischen Zwischenfälle.
Eine versammlungsrechtliche Gefahrenprognose muss sich aber stets auf die konkrete Versammlung beziehen. Wie das BVerfG (Rn. 19) festgestellt hat, reicht der bloße Verweis darauf, bei Versammlungen eines bestimmten politischen Spektrums komme es regelmäßig zu Straftaten, gerade nicht aus.
Auch in der Presse wurde kritisiert, dass sich die Verbotsgründe damit de facto gegen sämtliche pro-palästinensischen Versammlungen richten. Dies zeigt sich auch dadurch, dass beide Bescheide, obwohl die Versammlungen von unterschiedlichen Personen zu abweichenden Themen angemeldet worden waren, über weite Strecken wortlautidentisch ausfallen.
Verbotsgründe
Die Versammlungsbehörde stützt ihr Verbot auf Zwischenfälle bei vergangenen pro-palästinensischen Versammlungen. Hier kam es in der Tat mehrfach zu antisemitischen Äußerungen, die zu Recht breit kritisiert wurden. An der Argumentation der Versammlungsbehörde verstört jedoch nicht nur, dass nicht näher begründet wird, warum alleine ein (vermuteter) ähnlicher Teilnehmendenkreis auf einen ähnlichen Verlauf schließen lässt. Auch dürften die aufgezählten Geschehnisse – so kritikwürdig sie im Einzelfall auch sind – kein pauschales präventives Versammlungsverbot rechtfertigen.
Das hohe Gut der Meinungsfreiheit
Maßgeblich stützt sich die Versammlungsbehörde auf den Verbotsgrund des § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VersFG, der ein Regelbeispiel für eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nennt. Die Vorschrift gibt den Wortlaut des § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB wieder. Eine Versammlung kann also dann verboten werden, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass die Versammlung den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt. In Bezug auf eine rechtsextreme Versammlung hatte das BVerfG ausgeführt, die bloße Erwartung der Verbreitung nationalsozialistischen oder rechtsextremen Gedankenguts sei für ein Verbot nicht ausreichend, vielmehr müssten sie die Strafbarkeitsgrenze, insbesondere jene des § 130 StGB überschreiten.
Zahlreiche der Äußerungen auf Plakaten und durch Sprechchöre auf vergangenen Versammlungen, welche von der Polizei zur Begründung einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit herangezogen werden, erfüllen diesen Tatbestand jedoch nicht. So sind Slogans wie „Boycott Israel“ oder „from the river to the sea“ zwar strukturell antisemitisch. Das Äußerungsstrafrecht ist jedoch durch eine diffizile Abwägung zwischen Meinungsfreiheit der Äußernden und der Würde der Personen, über die eine Äußerung gemacht wird, geprägt. Ob die Grenzziehung zwischen Sagbaren und Nichtsagbaren durch das Strafrecht insbesondere in Bezug auf hier in Frage stehende antisemitische Äußerungen vorgenommen wird, ist eine Frage, die zu Recht diskutiert wird (etwa Hasselmann, S. 263 ff.). Allerdings ist es nicht Aufgabe der Polizei, diese Grenze losgelöst von (straf-)rechtlichen Grundlagen für gewisse Gruppen neu zu ziehen.
An diesen hohen Hürden des Verbots einer Versammlung aufgrund der dort getätigten Äußerungen wird auch die im Koalitionsvertrag der neuen Berliner Regierung vereinbarten Wiederaufnahme der Gefährdung der öffentlichen Ordnung als Verbotsgrund ins VersFG (S. 28) nichts ändern. So hat das BVerfG entschieden, dass die strafrechtlich geregelten Begrenzungen der freien Rede abschließend sind und nicht über den Auffangtatbestand der öffentlichen Ordnung zusätzliche Verbote geschaffen werden dürfen (Rn. 26).
Größe der Versammlung als Verhängnis
Mehrfach stützt die Behörde ihre Gefahrenprognose darauf, dass bei vergangenen Versammlungen mehr Personen teilgenommen hätten, als von den Anmelder*innen angegeben. Auch für die gegenständlichen Versammlungen hält die Versammlungsbehörde die angezeigte Personenzahl für zu gering. Die Zahl der erwarteten Teilnehmer*innen wird von § 12 VersFG nicht ausdrücklich als obligatorische Angabe im Rahmen der Anzeige einer Versammlung genannt. So kann eine Schätzung der erwarteten Größe der Versammlung nur im Rahmen der versammlungsrechtlichen Kooperationsobliegenheit (§ 4 VersFG) verlangt werden. Verstöße gegen das Kooperationsgebot können jedoch nicht unmittelbar Maßnahmen gegen die Versammlung rechtfertigen. Denkbar ist lediglich, dass die Polizei aufgrund mangelnder Angaben eine unzutreffende Gefahrenprognose trifft und dadurch zu Maßnahmen greift, die sie bei Vorliegen umfassender Information durch die Veranstalter*innen nicht hätte treffen müssen (Deiseroth/Kutscha, Art. 8 Rn. 232). Zur Begründung eines Verbots taugt eine unzutreffende Angabe der erwarteten Teilnehmer*innen jedenfalls nicht. Das Erfordernis einer belastbaren Angabe der Teilnehmendenzahl würde wohl auch die Versammlungsfreiheit in nicht zu rechtfertigender Weise beschränken. Wie schwierig eine solche Angabe sogar ex post ist, zeigt sich in den erheblichen Abweichungen der Schätzungen der Teilnehmendenzahlen im Nachgang zu einer Demonstration. Eine verlässliche Einschätzung ex ante dürfte daher häufig nahezu unmöglich sein.
Wiederkehr der Corona-Regeln
Beide Verbote werden mit gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden auf vergangenen pro-palästinensischen Versammlungen begründet. Kurioserweise fanden viele der ausgeführten Zwischenfälle im Jahr 2021 statt und entzündeten sich an einem Vorgehen der Polizei gegen diese Versammlungen wegen Verstößen gegen infektionsschutzrechtliche Maßnahmen. Ob diese Maßnahmen im Einzelfall rechtmäßig waren, soll hier nicht im Fokus stehen (vgl. dazu hier; hier; hier; hier). Jedenfalls erleben die pandemiebedingten Einschränkungen der Versammlungsfreiheit hier eine unheilvolle Wiederkehr. Die Versammlungsbehörde setzt sich nicht einmal ansatzweise damit auseinander, dass dieser Konfliktherd spätestens seit dem „offiziellen Ende“ der Corona-Pandemie nicht mehr besteht. Das Bestehen einer unmittelbaren Gefahr, dass sich die Versammlungsteilnehmenden im Mai 2023 (gewaltsam) gegen die Durchsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen wehren, ist denklogisch ausgeschlossen. Dass aus der Nichtbefolgung der Corona-Regeln auf die Bereitschaft, sich auch gegen andere Regeln gewaltsam aufzulehnen zu schließen ist, wird dem Erfordernis einer konkreten Gefahr für konkret geschützte Rechtsgüter nicht gerecht.
Obskure Verhältnismäßigkeitsprüfung
Im Rahmen der (eher formelhaft bleibenden) Begründung der Verhältnismäßigkeit der Verbote bleibt das Gewicht der Versammlungsfreiheit der Anmeldenden gänzlich unberücksichtigt. Eine Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter findet nicht statt, vielmehr werden die Gesichtspunkte, die für ein Verbot sprechen, wiederholt und zusammengefasst. Hier hätte insbesondere berücksichtigt werden, dass auch die freie Zeitwahl der Versammlung von Art. 8 GG geschützt ist (BVerfG Rn. 62). Ganz offensichtlich kam es den Veranstalter*innen hier darauf an, die Versammlungen in zeitlicher Nähe zur Nakba stattfinden zu lassen. Das symbolisch aufgeladene Datum hätte also nicht nur auf Ebene des Gefahrenpotentials der Versammlung, sondern auch im Rahmen der Schwere des Eingriffs berücksichtigt werden müssen.
Zwingend zu berücksichtigen gewesen wäre auch, dass das Verbot einer Versammlung stets nur ultima ratio sein kann (st. Rspr., etwa BVerfG, Rn. 80). Selbst wenn Straftaten von einzelnen Teilnehmer*innen zu befürchten sind, ist der Staat verpflichtet, die Durchführung der Versammlung zu gewährleisten (BVerfG Rn. 93) und gegebenenfalls gegen einzelne Störer*innen vorzugehen. Ein (verbotsweises) Vorgehen gegen eine gesamte Versammlung oder Teile dieser ist nur dann zulässig, wenn diese die Straftäter*innen in ihrem Entschluss stärkt bzw. unterstützt (BVerfG Rn. 19) oder unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes (Dürig-Friedl, § 15 VersG Rn. 72).
Neukölln als Chiffre
Ganz wesentlich stützt die Versammlungsbehörde ihre Gefahrenprognose auf ein derzeit in Berlin beliebtes rassistisches Stereotyp, jenes der migrantischen/muslimischen jungen und vornehmlich männlichen Person. Ausdrücklich wird ausgeführt, dass es sich bei den erwarteten Demonstrationsteilnehmenden überwiegend um junge „Personen der arabischen Diaspora“ sowie „weitere[n] muslimisch geprägte Personenkreise[n]“ handeln wird. Außerdem sei „zurzeit bei dieser Klientel [sic!] eine deutlich aggressive Grundhaltung“ vorherrschend. Auch Neukölln muss wieder als Feindbild herhalten. So sei zu erwarten, dass sich dort „Personen der heterogenen, arabischsprachig und muslimisch geprägten Anwohnerschaft […] spontan dazu ermutigt sehen könnten, die Versammlungen aufzusuchen.“ Ebenso sei die High-Deck-Siedlung, in der „viele junge arabischsprachige Menschen“ leben, fußläufig erreichbar.
Dass die Gefahrenprognose hier im Ungefähren verbleibt, ist kein Zufall. Ganz bewusst werden hier Vorurteile, die insbesondere auch in der politischen und medialen Aufarbeitung der Ereignisse der Berliner, Silvesternacht eine bedeutende Rolle spielten, bedient. Das Bild, das hier gezeichnet wird, scheint das rechtliche Argument zu ersetzen. Dass gewisse Bevölkerungsgruppen gefährlich sein sollen, wird als allgemein bekannte Tatsache vorausgesetzt. Die hohen Anforderungen an die Gefahrprognose und die Verhältnismäßigkeit von Versammlungsverboten die das BVerfG maßgeblich im Brokdorf-Beschluss herausgearbeitet hat, gelten jedoch unabhängig vom Versammlungsort und dem Kreis der sich Versammelnden.
Ein besonderes Problem scheint die Emotionalität der Versammlungsteilnehmenden zu sein. So waren nach Angaben der Versammlungsbehörde bei einer pro-palästinensischen Demonstration im April 2022 „100 bis 150 junge Männer hoch emotional und agierten im gesamten Verlauf sehr lautstark.“ Dabei sei immerhin ein (!) Flaschenwurf auf Polizeikräfte zu verzeichnen gewesen. Die starke Emotionalisierung der Teilnehmenden ist aus Sicht der Behörde nicht allein auf deren junges Alter zurückzuführen. Vielmehr beobachtet sie generell eine „erhebliche Emotionalisierung innerhalb der palästinensischen Diaspora“.
Die besondere Betonung der Emotionalität der Versammlungsteilnehmenden reproduziert die rassistische Dichotomie zwischen dem rationalen Selbst und dem unberechenbaren, emotionsgetriebenen Anderen. Darüber hinaus ist die beinahe obsessive Fokussierung auf die Emotionalisierung der zu erwartenden Versammlungsteilnehmenden versammlungsrechtlich deplatziert. So schützt Art. 8 GG nach der berühmten Formulierung Konrad Hesses gerade „ein Stück ungebändigter unmittelbarer Demokratie“, also die gemeinsame, häufig gefühlsgeladene oder laute Kundgabe der Missbilligung bestimmter Zustände. Versammlungen zeichnen sich gegenüber anderen Formen der politischen Partizipation gerade durch ihren performativen, stark emotional aufgeladenen Charakter aus. Ob diese kollektiv nach außen getragenen Emotionen nachvollziehbar, berechtigt, überzogen oder kritikwürdig sind, ist für den Schutz durch die Versammlungsfreiheit gleichermaßen irrelevant wie die Frage, ob die Versammlung in Nordneukölln oder im Grunewald mobilisiert.