09 March 2016

Von wegen „Rückkehr zum Recht“: Warum die deutsche Grenzpolitik den Maßgaben des Dublin-Systems entspricht

Seit einigen Wochen wird vielerorts – und seit kurzem auch auf diesem Blog (zuletzt hier und hier) – die Forderung einer „Rückkehr zum Recht“ diskutiert. Nicht ganz selbstverständlich ist dabei der Art. 20 IV Dublin-III-VO in das Zentrum der Diskussion gerückt. Peukert, Hillgruber, Foerste und Putzke haben dabei eine für Migrationsrechtler*innen doch überraschende Lesart dieser Vorschrift präsentiert: Danach soll es für Deutschland möglich sein, unionsrechtskonform Einreiseverweigerungen an der Grenze auszusprechen, weil nach Art. 20 IV 1 Dublin-III-VO die Zuständigkeit unbestreitbar bei anderen Mitgliedstaaten liege. Faktisch liefe dies darauf hinaus, Schutzsuchende pauschal an ein Land zu verweisen, das soeben Obergrenzen für die Behandlung von Asylanträgen beschlossen hat. Das ohnehin stark reformbedürftige Dublin-System würde mit einem solchen Ergebnis vollends ad absurdum geführt.

Die Konstruktion einer vermeintlich einfachen Lösung und ihre Systemwidrigkeit

Das Motiv, mit dem sich Peukert et al. auf die Vorschrift des Art. 20 IV Dublin-III-VO stürzen, ist leicht zu durchschauen. Die Vorschrift scheint eine simple Lösung bereitzuhalten, nach der Deutschland jede Verantwortung für die gegenwärtige Flüchtlingsschutzkrise beruhigt von sich weisen könnte. Allerdings nur, wenn man ihn wie Peukert et al. dekontextualisiert und etablierte Grundsätze des gemeinsamen europäischen Asyslrechts ignoriert. Hierzu ist es hilfreich, sich den Kern des Dublin-Systems noch einmal in Erinnerung zu rufen.

Kern des Dublin-Systems im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem ist, dass jede schutzsuchende Person Zugang zu einem Asylverfahren nach gemeinsamen Standards erhalten soll. Für die Durchführung dieses Verfahrens ist jedoch jeweils nur ein Mitgliedstaat zuständig. Hält ein Mitgliedstaat sich – nachdem er Adressat eines Antrags geworden ist – in Bezug auf die Durchführung dieses materiellen Asylverfahrens für unzuständig, muss er in einem geordneten und kooperativ angelegten Verfahren den zuständigen Mitgliedstaat bestimmen, bevor er die betreffende Person dorthin überstellen kann (Art. 20 ff. Dublin-III-VO). Hierfür sieht die Dublin-III-VO ein abgestuftes System von Kriterien von, nach denen der zuständige Mitgliedstaat ermittelt wird. Erst wenn der betreffende Mitgliedstaat seine Zustimmung explizit oder implizit ­– durch Fristablauf – erteilt hat, kann die Überstellung durchgeführt werden (Art. 22 VII Dublin-III-VO). In der Praxis ist das bedeutendste Kriterium für die Zuständigkeitsermittlung die erstmalige – meist illegale – Einreise in die EU (Art. 13 Dublin-III-VO). Dies führte seit jeher zu der wenig solidarischen Folge, dass die Staaten an der Außengrenze die Hauptlast für die Durchführung von Asylverfahren zu tragen hatten.

Bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates handelt es sich also um ein kooperatives und auf Konsens angelegtes Verfahren (darauf weist auch Hruschka hin), das verhindern soll, dass ein Mitgliedstaat einseitig die Verantwortung von sich weist, ohne sicherzustellen, dass ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist. Aus diesem Grund sieht die Verordnung auch eine weitere Absicherung vor: Scheitert die Überstellung – aus welchem Grund auch immer – wird der Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in dem erstmals ein Asylantrag gestellt wurde und der die Zuständigkeitsprüfung vorgenommen hat (Art. 3 II UAbs. 2 Dublin-III-VO). Dublin sieht damit ein absolut lückenloses Zuständigkeitssystem vor, bei dem stets eine Zuständigkeit positiv feststeht.

In der Lesart von Peukert et al. präsentiert Art. 20 IV Dublin-III-VO nun eine vermeintlich einfache Lösung, die dieses Verfahren der Zuständigkeitsermittlung gewissermaßen umgehen würde, indem Deutschland sich für einen Asylantrag schlichtweg negativ für unzuständig erklären könnte, ohne in dem vorgesehenen Verfahren sicherzustellen, dass ein anderer Staat – Österreich – tatsächlich die Überprüfung der Zuständigkeit übernimmt (und gegebenenfalls auch selbst zuständig wird). Es bleibt allerdings unverständlich, warum die Dublin-III-VO zunächst ein derart komplexes, kooperatives Verfahren entwerfen sollte, dessen sich der einzelne Mitgliedstaat dann gleichwohl durch die Fiktion entziehen könnte, dass die Antragstellung auf deutschem Hoheitsgebiet in Wirklichkeit in Österreich stattgefunden.

Ergebnissicherung durch Dekontextualisierung

Doch es gibt eine viel plausiblere und einfachere Erklärung für diese relativ obskure Norm: Art. 20 IV Dublin-III-VO zielt auf die eher seltenen Konstellationen, in denen Territorialstaat und Behördenträger auseinanderfallen. Nur dann ist es denkbar, dass ein Antragsteller den Antrag bei „der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats stellt, während er sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaats aufhält“ (Herv. d. Verf.). Wie bereits von Anna Lübbe und Constantin Hruschka dargelegt, findet dagegen eine Antragsstellung an der deutschen Grenzkontrollstelle – für den asylverfahrensrechtlichen Kontext – auf deutschem Hoheitsgebiet statt.

Peukert et al. begründen ihre Lesart mit dem historischen Willen des Gesetzgebers, weil die Vorschrift auf Art. 4 IV Dublin-II-VO zurückzuführen sei und seither unverändert blieb. Weniger prominent widmen sich die Autoren der Tatsache, dass die Vorschrift bereits in Art. 12 des Dubliner Übereinkommens von 1990 zu finden war. Dies jedoch erklärt den eigentlichen Regelungszweck der Vorschrift. 1990 lag der Raum ohne Binnengrenzen noch in weiter Ferne. Damals führten die Mitgliedstaaten an ihren Binnengrenzen gemeinsame Grenzkontrollen ein, um illegale Grenzübertritte innerhalb des Dublin-Raums zu verhindern. Für diese Konstellation vereinbarten die Mitgliedstaaten, dass der Staat, auf dessen Hoheitsgebiet sich eine schutzsuchende Person befindet, für das Verfahren zur Bestimmung der Asylzuständigkeit zuständig ist. Gedacht wurde dabei vor allem an die Konstellation, in der illegal weitergewanderte Schutzsuchende etwa in der Botschaft eines anderen Mitgliedsstaats Asyl beantragen, während sie sich bereits im Dublin-Raum befinden. Die Existenz gemeinsamer Grenzkontrollen führte zugleich zu der seltenen Situation, dass ein Kontakt mit deutschen Grenzbehörden tatsächlich von einem angrenzenden Territorium aus möglich war. Dies ist bei einseitigen und getrennt durchgeführten Grenzkontrollen gerade nicht der Fall, wie Anna Lübbe dargelegt hat. Man kann die gemeinsamen Grenzkontrollstellen als Einstieg in ein kooperatives System verstehen. Das Ziel war von Beginn an die eindeutige Festlegung von Zuständigkeiten. Genau diese wäre jedoch nicht mehr möglich, wenn bei getrennten Grenzkontrollen jeder Mitgliedstaat auf seine Unzuständigkeit verweisen könnte, sobald die schutzsuchende Person im Transitraum ist.

Vor diesem Hintergrund kann Art. 20 IV Dublin-III-VO „an der Grenze“ nur dann Bedeutung erlangen, wenn gemeinsame Grenzkontrollen durchgeführt werden. Im Raum ohne Binnengrenzen ist dies heute praktisch nur an den Außengrenzen des Schengenraums denkbar, wenn diese nicht zugleich Grenzen des Dublin-Raums sind (z.B. zwischen Slowenien und Kroatien). Dort wo die Mitgliedstaaten vorübergehend wieder Grenzkontrollen eingeführt haben, handelt es sich nicht um gemeinsame Grenzkontrollstellen, sondern um einseitige, so dass jeder Antrag an der deutschen Grenzkontrolle bereits auf deutschem Hoheitsgebiet stattfindet. Bedeutung und Anwendungsbereich des Art. 20 IV Dublin-III-VO sind also erheblich eingeschränkt. Dafür spricht auch, dass die Vorschrift im Zuge der letzten Gesetzesreform in einen hinteren Abschnitt der Dublin-III-VO verschoben wurde. Peukert et al. vernachlässigen den eigentlichen Entstehungskontext und wenden systemwidrig und entgegen der historischen Bedeutung eine Vorschrift auf die Binnengrenzen an, die hierfür eigentlich nicht gedacht war.

Ersatzweise versuchen sie daher, zu einer Definition des Hoheitsgebiets zu kommen, die ihre Argumentation stützt. Allerdings erschließt sich nicht, weshalb die Definition des Hoheitsgebiets in Art. 2 lit. p der Asylverfahrens-RL hier systemfremd sein soll, wie Peukert et al. in ihrem Kommentar zu Anna Lübbe meinen. In beiden Fällen geht es um die Bestimmung des asylverfahrensrechtlichen Verantwortungsbereichs der Mitgliedstaaten. Dass der Unionsgesetzgeber den Begriff für die Modalitäten der Durchführung des Asylverfahrens anders regeln wollte als bei der Bestimmung der Zuständigkeit hierfür, ist nicht plausibel – erst recht nicht, weil er die exakt gleiche Definition in der für das Dublin-System zentralen Bestimmung des Art. 3 I Dublin-III-VO wiederaufgreift.

Für Peukert et al. scheint es auf all diese Details, die sich aus Kontext und Systematik des Dublin-Systems ergeben, aber gar nicht anzukommen. Sie stellen Art. 20 IV Dublin-III-VO stattdessen isoliert so dar, als ergäbe sich daraus zweifelsfrei, dass Deutschland unter keinen Umständen für die Prüfung der Zuständigkeit nach dem Dublin-System zuständig sein könne, wenn nur die Grenzen zu Österreich hinreichend kontrolliert würden.

Kooperation statt Alleingang

Wie weit diese Idee von den zentralen kooperativen und rechtsstaatlichen Prämissen des Dublin-Systems entfernt ist, zeigt Art. 20 V Dublin-III-VO. Selbst wenn die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats feststeht, weil dort ein Asylantrag gestellt wurde, sieht Art. 20 V Dublin-III-VO ein förmliches Verfahren vor, in dem dieser Mitgliedstaat zur Wiederaufnahme der schutzsuchenden Person aufgefordert wird. Selbst wenn also Peukert et al. mit ihrer Lesart recht hätten und ein Asylantrag an der deutschen Grenze als Asylantrag in Österreich zu behandeln wäre, wäre eine automatische Zurückweisung ohne Überstellungsverfahren stets unzulässig. Bei allen Unzulänglichkeiten und allen unsolidarischen Folgeeffekten liegt die zentrale Errungenschaft des Dublin-Systems nämlich genau hier: Eine einseitige Zurückweisung der Verantwortung für Schutzsuchende soll um jeden Preis ausgeschlossen werden. Dies gilt auch im verbleibenden Anwendungsbereich des Art. 20 IV Dublin-III-VO. Das Dublin-System enthält Sicherheitsnetze, um zu verhindern, dass das Fehlverhalten einzelner Mitgliedstaaten zu „refugees in orbit“ führt; auch wenn sich einer oder mehrere Mitgliedstaaten regelwidrig verweigern, ihrer Verantwortung nachzukommen, soll immer noch ein Mitgliedstaat bestimmbar bleiben, der das Verfahren am Ende durchführen muss.

Die Verfahrensregeln bei der Zuständigkeitsbestimmung lassen erkennen: Trotz aller Schwächen und unsolidarischen Folgeeffekte etabliert das Dublin-System eine wichtige Kooperationsordnung. Unkooperatives Verhalten eines Mitgliedstaates darf daher nicht von den anderen Mitgliedstaaten mit einer Aufkündigung der Kooperation „geahndet“ werden. Dies entspricht einem Grundprinzip des Unionsrechts: Talionsgesetze, wie sie das klassische Völkerrecht kennt, gelten im Unionsrecht nicht.

Das Selbsteintrittsrecht kennt keine Obergrenze

Peukert et al. lehnen jedoch nicht nur die reguläre Zuständigkeit der Bundesrepublik für das Dublin-Verfahren ab. Auch die Anwendbarkeit des in Art. 17 I Dublin-III-VO vorgesehenen freiwilligen Selbsteintritts, also der freiwilligen Zuständigkeitsübernahme, lehnen die Autoren ab. Sie meinen, es handle sich um eine bloße Ausnahmeregelung, die jedenfalls keine zeitlich und zahlenmäßig unbegrenzte Einreiseerlaubnis rechtfertige. Auch der EuGH habe in der Rs. N.S. und ME eine pauschale Aussetzung des Dublin-Systems im Namen der Grundrechte für unzulässig gehalten. Peukert et al. bedienen sich jedoch einer verkürzten Wiedergabe des Urteils. In der Tat hat der EuGH festgestellt, dass es zu weit ginge, wenn „jeder geringste Verstoß“ gegen Sekundärrecht oder europäische Grundrechte genügen würde, um das auf gegenseitigem Vertrauen basierende Dublin-System auszuhebeln (Rn. 84). Damit trifft der EuGH jedoch noch keine Aussage darüber, dass das auch bei völligem Systemversagen gilt. Im Gegenteil: Der EuGH hat in N.S. und M.E. anerkannt, dass systemische Defizite in einem Mitgliedstaat zu kompensatorischer Verantwortung der anderen Mitgliedstaaten führen. Dies gilt freilich nur, wenn diese Defizite zu Verstößen gegen Art. 4 GRC führen. Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass ein freiwilliger Selbsteintritt unterhalb der Schwelle der Verletzung von Art. 4 GRC untersagt ist.

Der EuGH hatte bislang lediglich zu entscheiden, wann das Ermessen der Mitgliedstaaten im Falle eines Selbsteintritts aus humanitären Gründen so weit reduziert ist, dass sie zur Verantwortungsübernahme verpflichtet sind. Über die Grenzen des freiwilligen Selbsteintrittsrechts hat er nicht entschieden. Es steht den Mitgliedstaaten daher weiter frei, von ihrem Selbsteintrittsrecht auch jenseits der menschenrechtlichen Pflicht zu kompensatorischer Verantwortung Gebrauch zu machen. Solange die Mitgliedstaaten ihren in Art. 17 I Dublin-III-VO festgelegten Informationspflichten nachkommen, kann sich durch die freiwillige Ausübung des Selbsteintrittsrechts durchaus eine Zuständigkeit für das Asylverfahren ergeben, die von den Dublin-Kriterien abweicht. Das Selbsteintrittsrecht kennt keine Obergrenze.

Unilaterale Zuständigkeitsabwehr gefährdet europäische Kooperation

Peukert et al. reden in ihren Beiträgen der unilateralen Zuständigkeitsabwehr das Wort. Sie negieren unter Zuhilfenahme des Mosaiksteins Art. 20 IV Dublin-III-VO die Grundprinzipien eines kooperativen Systems gemeinsamer europäischer Verantwortungsübernahme. Zu einer solidarischen und humanitären Lösung, die die Verantwortung weder an die Staaten an den Außengrenzen noch an einzelne Staaten im Inneren abwälzt, trägt dies nichts bei. Vor diesem Hintergrund ist es gefährlich, Art. 20 IV Dublin-III-VO als „vorrangige Zuständigkeitsregel“ für die europäischen Binnengrenzen zu präsentieren. Telos und Geschichte des gesamten Regelungsgebietes stehen einem solchen Verständnis entgegen. Insofern ist die Argumentation von Peukert et al. nicht „anspruchsvoll“, sondern fernliegend im wahrsten Sinne des Wortes.