17 March 2022

Vorläufig teilweise verfassungskonform

Zum CETA-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Das Ende der „größten Verfassungsbeschwerde der Geschichte“ kommt recht unspektakulär daher: Fast fünfeinhalb Jahre nach der mündlichen Verhandlung über eine einstweiligen Anordnung zum Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) zwischen Kanada und der EU erklärte das Bundesverfassungsgericht mit seinem am 15. März 2022 veröffentlichten Beschluss vom 9. Februar 2022 die drei Verfassungsbeschwerden und den Organstreit der Fraktion Die Linke für teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet. Gerade einmal 29 Randnummern benötigte der Zweite Senat für die Begründetheitsprüfung, die damit in Anbetracht der Bedeutung des Verfahrens nicht nur recht knapp, sondern sogar etwas kürzer als die Folgenabwägung im Rahmen der einstweiligen Anordnung ausfiel.

Worum ging es?

Demonstrationen mit hunderttausenden Teilnehmer*innen, ein belgisches Regionalparlament, das sich gegen einen EU-weiten Konsens stemmt, und ein abgesagtes Gipfeltreffen kurz vor Schluss der Verhandlungen: Die politischen Auseinandersetzungen um das CETA erscheinen uns in einer Welt, die Trump sah, Covid erlebt und sich über den Ukraine-Krieg entsetzt, wie Ereignisse aus einer anderen Zeit. Die Kritik an CETA aber war Ausdruck einer immer deutlicher werdenden Legitimationskrise des neoliberalen Wirtschaftsmodells, als dessen besonderer Auswuchs der internationale Investitionsschutz mit seinen Schiedsgerichten gesehen wird. CETA wurde dabei oft als „kleiner Bruder“ des noch heftiger bekämpften – und letztlich gescheiterten – EU-US-Freihandelsabkommens TTIP angesehen.

Ein Teil der Auseinandersetzungen um CETA wurde auch vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen. Drei Verfassungsbeschwerden von insgesamt über 193.000 Personen sowie ein Organstreitverfahren der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag wurden gegen CETA anhängig gemacht. Genauer Verfahrensgegenstand war dabei nicht das völkerrechtliche Abkommen selbst, sondern die Zustimmung zur bzw. Nichtablehnung des CETA und dessen vorläufiger Anwendung durch den deutschen Vertreter im Rat der Europäischen Union.

Kurz vor der endgültigen Abstimmung im Rat am 28.10.2016 hatte das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 13.10.2016 Anträge auf Erlass einstweiligen Anordnungen abgelehnt. Dabei befand das Gericht, dass die Verfahren nicht offensichtlich aussichtlos waren, kam aber in der verfassungsprozessual gebotenen Abwägung zum Ergebnis, dass die Nachteile, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen, sich das Hauptsacheverfahren aber als unbegründet erweisen würde, schwerer wögen als die Nachteile, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erlassen würde, sich das Hauptsacheverfahren aber als begründet erweisen würde. In seiner Entscheidung hielt es das Gericht für möglich, dass der Beschluss über die vorläufige Anwendung als Ulta-vires-Akt oder als ein die Verfassungsidentität berührender Akt der EU gegen Art. 38 Abs. 1 bzw. Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen würde. Insofern war die Hauptsacheentscheidung mit Spannung erwartet worden.

Das Bundesverfassungsgericht hielt in seinem jetzt veröffentlichten Beschluss in der Hauptsache zunächst fest, dass nur die Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat zur vorläufigen Anwendung des CETA ein tauglicher Beschwerdegegenstand sein könne, da nur von ihr derzeit Rechtswirkungen ausgingen (Rn. 137). Dagegen waren die Beschwerden, soweit sie sich gegen die Zustimmung zu CETA selbst oder ein mögliches deutsches Zustimmungsgesetz richteten, mangels eines tauglichen Verfahrensgegenstandes unzulässig (Rn. 154-156).

Nach der Zustimmung des Europäischen Parlaments zu CETA und der Ratifikation durch Kanada trat CETA – beziehungsweise genauer, die Teile von CETA, die eindeutig von der Unionszuständigkeit erfasst werden – am 21.9.2017 vorläufig in Kraft. Im Kern sind dies die allermeisten Vorschriften zur Handelsliberalisierung und zur regulatorischen Kooperation. Die Vorschriften zum besonders umstrittenen Investitionsschutz sind dagegen ausgenommen, da sie sowohl in die Kompetenz der EU als auch der Mitgliedstaaten fallen, wie der EuGH in seinem Gutachten 2/15 zum Freihandelsabkommen zwischen der EU und Singapur für ähnliche Vorschriften im Mai 2017 feststellte.

Kein Ultra-vires-Akt

In der Sache nahm der Senat sowohl eine Ultra-vires- als auch eine Verfassungsidentitätskontrolle der Zustimmung des deutschen Ratsvertreters zur vorläufigen Anwendung des CETA vor. Mit Blick auf einen möglichen Ultra-vires-Akt, also einen EU-Akt, der nicht von ihren Kompetenzen gedeckt und daher auch nicht vom deutschen Zustimmungsgesetz zu den EU-Verträgen erfasst wird, stellte das Gericht maßgeblich auf die Beschränkung der vorläufigen Anwendbarkeit des CETA auf diejenigen Bereiche ab, die in die Kompetenz der EU fallen. Hatte die Kommission im Juni 2016 noch vorgeschlagen, das Abkommen insgesamt vorläufig in Kraft zu setzen, beschränkte der Rat diese auf diejenigen Gegenstände, die unstreitig in die EU-Zuständigkeiten fielen. So wurden insbesondere der Investitionsschutz betreffend Portfolioinvestitionen, aber auch das System des Investitionsschutz mit dem besonderen Investitionsgericht sowie der internationale Seeverkehr, die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Arbeitsschutz von der vorläufigen Anwendbarkeit ausgenommen (Rn. 180-184).

Im Ergebnis ging das Bundesverfassungsgericht daher davon aus, dass trotz bestehender Unsicherheiten im Einzelfall die Kompetenzordnung zwischen Union und Mitgliedstaaten bei der vorläufigen Anwendung des CETA gewahrt blieb (Rn. 186). Das wird man angesichts der klaren Intention von EU und Mitgliedstaaten bei der Unterzeichnung des CETA kaum anders sehen können. Im Übrigen dürfte sich die Frage der Kompetenzüberschreitung bei einem gemischten Abkommen spätestens mit dessen vollständigen Inkrafttreten generell nicht stellen, da ein Kompetenzübergriff im Sinne eines Ultra-vires-Aktes bei gemischten Abkommen denklogisch ausgeschlossen ist: Auch wenn die Union für einzelne Teile eines Abkommens keine Kompetenz haben sollte, führt dies nicht zu einer Kompetenzausübung zu Lasten der Mitgliedstaaten, da diese ebenfalls Vertragsparteien geworden sind und somit unabhängig von der genauen Kompetenzverteilung kein kompetenzfreier Raum entstehen kann.

Keine Verletzung der Verfassungsidentität

Die Frage nach einer möglichen Verletzung der Verfassungsidentität stellte sich etwas komplexer dar. Hier ging es vor allem um den auch in den öffentlichen Debatten immer wieder erhobenen Vorwurf der Verletzung des Demokratieprinzips durch das CETA-Ausschusswesen, insbesondere den sogenannten Gemischten Ausschuss, der gem. Art. 26.3 Abs. 2 CETA für die Vertragsparteien bindende Beschlüsse fassen kann. Dazu gehören in bestimmten Bereichen auch Änderungen des Abkommens und seiner Anhänge. Da an den Entscheidungen des Gemischten Ausschusses nicht notwendigerweise ein Vertreter Deutschlands beteiligt sein muss, sah das Bundesverfassungsgericht zutreffend die Gefahr, dass hier Beschlüsse ohne deutsche Einflussmöglichkeit getroffen werden könnten. Daher fehle es an einer personellen und sachlichen Legitimation des Ausschusses gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern (Rn. 189). Eine Einflussmöglichkeit der Mitgliedstaaten auf den EU-Vertreter im CETA-Ausschuss durch den Rat sei nur eingeschränkt möglich, da in Handelssachen der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheide. Das Bundesverfassungsgericht hielt daher eine Verletzung von Art. 20 Abs. 1 und 2 GG durch die Tätigkeit des CETA-Ausschusses für möglich (Rn. 190).

Das Gericht sah gleichwohl die Verfassungsidentität nicht als verletzt an, da sich aus der Entstehungsgeschichte und dem Kontext der entsprechenden Protokollerklärung der EU ergebe, dass die Position des EU-Vertreters im CETA-Ausschuss immer einvernehmlich mit den Mitgliedstaaten festgelegt werde (Rn. 191). Das entspricht sicher dem seinerzeit und wohl auch noch heute geltenden Konsens von EU und Mitgliedstaaten. Aus dem Vertragstext selbst ergibt sich dies jedoch nicht. Es hätte sich daher angeboten, die Frage, wie die entsprechenden Vorschriften des CETA auszulegen sind, dem EuGH vorzulegen. Eine diesbezügliche Anregung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, die in dem Verfahren eine eigene Stellungnahme abgegeben hatte (Rn. 120), folgte das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht, sondern begnügte sich mit der eigenen äußerst knappen Interpretation der Vorschrift.

Da weder ein Ultra-vires-Akt vorlag noch das Demokratieprinzip verletzt war, sah das Bundesverfassungsgericht auch keine Verletzung der Integrationsverantwortung der Bundesregierung und des Bundestags. Daran ändere auch nichts, dass das CETA-Ausschusssystem inzwischen aktiviert wurde. Es komme für die Prüfung auf das Abkommen und nicht dessen tatsächliche Anwendung an (Rn. 193). Allerdings blieben die Verfassungsorgane auch während der vorläufigen Anwendung verpflichtet, zu prüfen, ob Maßnahmen im Rahmen des CETA einen Ultra-vires-Akt darstellten oder die Verfassungsidentität verletzten. Käme es dazu, müsste Deutschland „in letzter Konsequenz“ die vorläufige Anwendung beenden (Rn. 196).

Nach der Verfassungsbeschwerde ist vor der Verfassungsbeschwerde

Das Bundesverfassungsgericht habe den Weg frei gemacht für das deutsche Zustimmungsgesetz, so die überwiegende Meinung in der Presse und in Teilen der Politik. Tatsächlich steht der Ratifikation nunmehr kein anhängiges Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht entgegen. Die Bundesrepublik kann nun der 16. Mitgliedstaat der EU werden, der das CETA ratifiziert. Ob das endgültige Inkrafttreten des CETA damit näher rückt, ist aber unklar: Einige Mitgliedstaaten haben recht grundsätzlich Bedenken gegen CETA geäußert, in anderen scheinen parlamentarische Mehrheiten unsicher. Zypern hat die Zustimmung sogar ausdrücklich abgelehnt und Nachverhandlungen gefordert. Die letzte Ratifikation (durch Rumänien) liegt über ein Jahr zurück.

Zu bedenken ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht keineswegs das CETA umfänglich für verfassungskonform erklärt hat. Gegenstand des Verfahrens war nur der Beschluss zum vorläufigen Inkrafttreten. Dieser ist nicht verfassungswidrig. Über die Verfassungskonformität einer in der Zukunft liegende Beteiligung des deutschen Vertreters im Rat an der Zustimmung der EU zum endgültigen Inkrafttreten und eines noch zu verabschiedenden Zustimmungsgesetzes hat das Gericht ausdrücklich nicht entschieden.

Es ist anzunehmen, dass gegen das Zustimmungsgesetz, sobald es vorliegt, wiederum Verfassungsbeschwerde eingereicht wird. Angesichts der Zweifel, die das Bundesverfassungsgericht an einigen Stellen durchklingen lässt, scheint diese auch nicht von vorneherein aussichtslos. Auch hier dürfte erneut eine einstweilige Anordnung beantragt werden, was den Ratifikationsprozess ggf. weiter aufhält.

Welche Bedenken das Bundesverfassungsgericht gegen CETA genau hat, bleibt indes etwas im Dunkeln. Nebulös schreibt das Bundesverfassungsgericht, dass mit „CETA möglicherweise Hoheitsrechte auf das Gerichts- und Ausschusssystem weiterübertragen werden“ könnten (Rn. 185). Damit greift das Bundesverfassungsgericht indes nicht die bekannte Kritik an dem durch CETA etablierten Investitionsgerichtssystem auf, denn dieses übt gerade keine Hoheitsrechte aus. Etwas anderes gilt für das Ausschusswesen, da die Ausschüsse – wie erwähnt – für die Vertragsparteien bindende Entscheidungen treffen können. In einer Verfassungsbeschwerde könnten auch andere Bedenken gegen das Investitionsschutzsystem im Rahmen des CETA aufgegriffen werden. Dazu zählt zum Beispiel das Argument, dass das System zu einer gegen Art. 3 GG verstoßenden Diskriminierung von inländischen Investoren führe, da diese anders als ausländische Investoren in der gleichen Situation keine Klage zum CETA-Investitionsgericht erheben können.

Zwar hat der EuGH in seinem Gutachten 1/17 die unionsrechtlichen Bedenken gegen das CETA-Investitionsschutzregime ausgeräumt. Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken ist damit jedoch nichts gesagt. Als gemischtes Abkommen muss das CETA nicht nur dem Unionsrecht, sondern auch dem Grundgesetz genügen. Diese Frage stellt sich spätestens, wenn das Abkommen ratifiziert und damit in seiner Gänze in Kraft gesetzt werden soll.

Ergebnis

Das Bundesverfassungsgericht hat die vorläufige Anwendung der unstreitig in die Kompetenz der EU fallenden Teile des CETA für verfassungsgemäß erklärt. Oder kurz: Die vorläufige Anwendung von Teilen des CETA ist verfassungskonform. Mehr ist nicht gesagt. Wie schon beim Urteil über die einstweilige Anordnung im Jahre 2016 kann auch bezüglich des Beschlusses in der Hauptsache festgehalten werden: Karlsruhe locuta – causa non finita. Nach der Verfassungsbeschwerde ist vor der Verfassungsbeschwerde.

 

Hinweis: Der Autor hat im CETA-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht im Namen der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen eine Stellungnahme abgegeben.