Vorratsdatenspeicherung: Kein Grund zum Jubeln
Freut euch nicht zu früh.
Nach Lektüre der Pressemitteilung scheint mir das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung kein einschränkungsloser Grund zum Jubeln.
1. Das Gericht hat die Speicherung der Vorratsdaten als solche für verfassungsmäßig erklärt – unter engen und vor allem sehr, sehr detaillierten, aber dennoch erfüllbaren Voraussetzungen. Das heißt: Die Vorratsdatenspeicherung, in den Worten des Gerichts “ein besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt” und geeignet, ein “diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann” – dieses würgende und vom Gericht zu Recht in grellen Farben geschilderte Szenario kommt. Vielleicht nicht genau so, wie Schäuble es machen wollte. Aber es kommt.
2. Die Gründe, die das Gericht für die Verfassungsmäßigkeit nennt, sind eigentümlich flau: Gut, die Daten liegen bei den einzelnen Telekom-Unternehmen und nicht beim Staat selbst. Na und? Gut, immerhin ist damit keine “Totalerfassung der Kommunikation und Aktivitäten der Bürger insgesamt” geplant. Thank you very much. Damit, so das Gericht, sei die Sache ja doch irgendwie begrenzt, im Sinn von: man kann sich noch extremere Hämmer ausmalen, und das scheint ihm als Rechtfertigung für doch angeblich so einzigartigen Eingriff locker zu genügen.
3. Echt schräg ist das, was dann kommt: Die Speicherung gehe in Ordnung, aber nur, wenn sie die Ausnahme bleibt. Wie eine überforderte Mama, die ihrem Kind mit flatternden Lidern entgegenhaucht: Liebling, das war jetzt aber wirklich das allerletzte Mal. Und dann ist da von einem “Spielraum für anlasslose Datensammlungen” die Rede, der jetzt zu einem Gutteil aufgebraucht sei mit der Vorratsdatenspeicherung – wie ein Süßigkeitenvorrat, von dem der Gesetzgeber naschen darf, und wenn er heute alles auffuttert, hat er halt morgen nichts mehr. Und das auch noch verknüpft mit so einem ominösen Wink mit dem Ausbrechenden-Rechtsakt-Zaunpfahl in Richtung EU…
4. Apropos EU: In mir keimt der Verdacht, dass die Senatsmehrheit nur oder jedenfalls maßgeblich deshalb davor zurückgeschreckt ist, die Speicherung als solche zu killen, weil sie sich dann der Frage hätte stellen müssen: Dem EuGH vorlegen oder nicht? Die Speicherung als solche ist EU-Recht, d.h. der Senat hätte vorlegen müssen, und damit anerkennen, dass Luxemburg in Dingen des Europarechts das letzte Wort hat und nicht Karlsruhe. Das hat er vermieden, indem er nach dem EU-Haftbefehls-Muster auf die Art und Weise abstellte, wie der nationale Gesetzgeber die in der EU-Richtlinie gelassenen Umsetzungsspielräume ausgefüllt hat. Immerhin, und das könnte noch bedeutsam werden: In der Passage zur Zulässigkeit (über der ich ansonsten rätsle) scheint der Senat ausdrücklich anzuerkennen, dass es eine Vorlagepflicht des BVerfG zum EuGH überhaupt gibt. Das ist neu, oder?
5. Die zusätzlichen Anforderungen, die das Gericht im einzelnen an die Vorratsdatenspeicherung stellt, sind jetzt nicht gerade so beschaffen, dass mein “diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins” einem Seufzer der Erleichterung weicht. Beschränkung auf Katalogtaten, Richtervorbehalt, und nachher muss man benachrichtigt werden – so Sachen halt. Mikromanagement bei der Gesetzesausgestaltung.
Fazit: Dieses Urteil hätte die Magna Charta des Internetzeitalters werden können. Ist es aber nicht geworden. Schade.
Soweit meine ersten Eindrücke, frisch und unausgewogen. Was meinen Sie?
Stimmt.
zu 4.:
Ja, so ausdrücklich ist das neu und kann mit etwas gutem Willen als erfreulich bezeichnet werden.
Auch mir erscheinen die entsprechenden Passagen insoweit widersprüchlich, als das BVerfG prüft, was es nach seiner eigenen Rechtsprechung eigentlich nicht prüfen darf, nämlich die Vereinbarkeit der zwingenden Richtlinienvorgaben mit dem Grundgesetz. Hierfür zieht es das (grds. zutreffende) Szenario heran, dass der EuGH, würde es die Sache vorlegen, die Richtlinie ja für nichtig erklären könnte, so dass das BVerfG das Gesetz (anschließend!) nach dem GG überprüfen könnte. Allerdings geht das BVerfG diesen Weg nicht konsequent, sondern verweist hinsichtlich der (von ihm bejahten) Grundgesetzvereinbarkeit der zwingenden Richtlinienvorgaben auf unten, nämlich auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung, und erspart sich so die eigentlich erforderliche Vorlage.
zu 1) Volle Zustimmung. Die meisten Politiker und Journalisten, die sich jetzt danach geäußert haben, werden wohl noch ihr Erwachen in den nächsten Tagen haben. Das Ganze erinnert in seiner Janusköpfigkeit auch an die HartzIV-Entscheidung vor ein paar Wochen.
zu 2) Immerhin wurde damit eine Bundesdatensammelstelle verhindert; angesichts der
Bestrebungen des Ausbaus des BKA ist das schon mal ein kleiner Erfolg.
zu 4) Es ist die logische Konsequenz des Lissabon-Urteils.
zum Fazit: “Dieses Urteil hätte die Magna Charta des Internetzeitalters werden können. Ist es aber nicht geworden. Schade.”
Konnte es unter den jetzigen Voraussetzung wie sie oben selbst belegen auch nicht werden.
Das Problem ist immer noch, dass in Brüssel Normen geschaffen werden weit ab von Öffentlichkeit, Gewaltenteilung und Demokratie. Das BVerfG ist sozusagen Opfer seiner eigenen Rechtsprechung.
Zum Verhältnis zur EU Rn. 218 bitte einmal lesen, ich kann insofern nur meinem Vorkommentator zustimmen: Es ist die Konsequenz aus dem Lissabon-Urteil.
Meine Anmerkungen:
http://www.ferner-alsdorf.de/2010/03/bverfg-zu-vorratsdatenspeicherung-erste-anmerkungen-vds/
Mich stört auch diese Passage des Urteils:
Eine Rekonstruktion gerade der Telekommunikationsverbindungen ist daher für… Gefahrenabwehr von besonderer Bedeutung.
Man muss sich dabei vor Augen halten was man alles als “Gefahr” und auch schon als “konkrete Gefahr” bezeichnet hat. Und, das es dabei um vergangene Kommunikation geht welche als “besonders Bedeutsam” herausgestellt wird. Eine Art “must have” für den Staat und das vom BVerfG formuliert?
Grüße
ALOA
Ja, noch während der Urteilsverkündung war ich auch deutlich euphorischer als nach der Lektüre im Detail. Obwohl das Urteil ganz auf der Linie der beiden Anordnungen liegt und somit erwartbar war, war ich vor dem Fernseher zwischenzeitlich durchaus in Jubelstimmung (an der Stelle, wo Papier die Löschung der bereits gespeicherten Daten erörterte). Aber dann kam sie ja doch noch, die generelle Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz.
Die Tatsache, dass sie sich bei Randnummer 218 (ausgerechnet!) dem Duktus des Lissabon Urteils mit dem übertragungsresistenten Souveränitätskern angeschlossen haben, war dann der ernüchternde Tiefpunkt. Ganz erschütternd war ich aber dann, als ich las, wie einfach man an die IP-Adresse von Nutzern kommen kann. Denn hier gelten nach dem Urteil “Weniger strenge verfassungsrechtliche Maßgaben” und da geht es ja auch nicht um Vorratsdaten, sondern lediglich um “personenbezogene Auskünfte”. Wie beruhigend! Und nein, natürlich dürfe vom ermittelnden Beamten eine “Auskunft nicht ins Blaue hinein eingeholt” werden.
Wer die Praxis von Ermittlungsbehörden kennt, weiss, dass sie genau das tun.
Zu 4): Neu ist das nicht – jedenfalls nicht nach den eigenen Worten des Gerichts, das in Rn. 185 auf den Solange-I-Beschluss verweist (BVerfGE 37, 271 ). Dort heißt es, daß die Vorlageverpflichtung “auch für das Bundesverfassungsgericht verbindlich” sei.
Das BVerfG würde m.E. also erst nachfolgend prüfen, ob die entsprechend von ihm eingeholte EuGH-Entscheidung ihrerseits mit den Grundrechten vereinbar ist.
Und nein, natürlich dürfe vom ermittelnden Beamten eine “Auskunft nicht ins Blaue hinein eingeholt” werden.
Wer die Praxis von Ermittlungsbehörden kennt, weiss, dass sie genau das tun.
Dazu muss man sich nur “Operation Mikado” ansehen wo das BVerfG selbst “festgestellt” hat, das ein Betrag und ein Empfänger-Konto ausreicht um ein Scannen in einer Datenbank durchzuführen. Nichts anderes machen ETSI dann auch – und nichts anderes hätte man je mit dem Datenbestand denn auch anderes machen können.
Entscheidend ist nämlich ausschließlich wie hart ein Verdacht sein muss. Bekanntlich prüfen Richter aber überhaupt nicht ob ein Verdacht wirklich begründet ist oder nicht. Und damit wird alles wie geplant laufen.
Wenn – ja wenn die FDP und Co. das neue VDS 2.0 absegnen werden. Etwas derartiges wird auf Polit-Ebene entschieden. Und das wird ein heißer Kampf.
Grüße
ALOA
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Meine Hoffnung liegt dahingehend eigentlich nur darin, dass wir ja eigentlich immer vor einer Wahl stehen werden.
Nach einmaliger Lektüre: Ein sehr ausgewogenes und kluges Urteil auf ausgesprochen holprigem Gelände. Das Urteil setzt sich zwar in zweierlei Hinsicht über EU-Recht hinweg, riskiert aber keinen Grundsatzkonflikt:
1. Mit dem Umstand, dass D nun der einzige MS ist, der die RL 2006/24/EG nicht anwendet, wird die Kommission für eine Übergangszeit leben müssen und können. Sogar an dieser Stelle waren viele Richter skrupulös: Für eine übergangsweise Anwendung hat sich immerhin eine ganze Senatshälfte ausgesprochen. Man wird annehmen können, dass hierzu der Berichterstat