Was heißt hier Verzeihung?
“Historisch” war das Wort, das nach Angela Merkels Bitte um Verzeihung für den MPK-Clusterfuck diese Woche in aller Munde war. Das war etwas für die Geschichtsbücher – aber warum eigentlich, und was daran genau? Dass auch Regierungschef_innen Fehler einräumen, kommt zwar nicht alle Tage, aber doch immer wieder mal vor, drüben in Frankreich dieser Tage etwa, und kann nach der Binnenlogik der Politik als taktisch geschickter Move zum Machterhalt auch durchaus mal Sinn machen. Die Erschütterung, die Merkels Bitte um Verzeihung in der deutschen Öffentlichkeit ausgelöst hat, scheint mir damit zusammenzuhängen, dass sie sich durch bloße politische Klugheit nicht ohne Rest teilen lässt. Das ist nicht alles hier. Da steckt mehr drin. Was?
Die Kanzlerin hat ausdrücklich Verantwortung übernommen für etwas, das sie nicht alleine verbockt hat, aber sie ist halt die Kanzlerin und als solche für alles verantwortlich. The buck stops here, stand auf einem Schild auf Harry Trumans Schreibtisch: Dafür ist er Präsident, dass er die Verantwortung für Atombombenabwürfe und andere kollektiv verbindliche Entscheidungen an niemand anderen weiterschieben kann. Deutschland, sagt man, ist anders als die USA eine parlamentarische und keine Präsidialdemokratie, und wenn man das Grundgesetz beim Wort nimmt, dann gäbe es schon auch noch den einen oder anderen Ort außerhalb des Kanzleramts, an dem der Buck gelegentlich mal stoppen könnte. Aber de facto tut er das halt so gut wie nicht (mehr) im Deutschland des Jahres 2021, da hat Angela Merkel schon Recht. Das ist es also nicht.
Aber sie hat nicht nur Verantwortung übernommen, sondern um Verzeihung gebeten. Wer das tut, wer um Entschuldigung bittet, schuldet etwas, ist etwas schuldig geblieben und will von dieser Schuld erlöst werden. Was schuldet Angela Merkel, und wem?
“Ich will Deutschland dienen”, lautet einer ihrer bekanntesten und beliebtesten Sätze, geäußert zum ersten und nicht zum letzten Mal am 30. Mai 2005, dem Tag, als CDU und CSU sie zu ihrer Kanzlerkandidatin kürten. Er beschreibt ihren Job als Dienstverhältnis: Was sie schuldet, ist ihre Arbeitskraft. Sie tut und macht und müht sich im Dienst ihres Herrn, um dessen Wohl zu mehren und dessen Willen zu erfüllen. Das ist es, was sie schuldig ist, und wenn sie das nicht schafft und der Dienstherr unzufrieden mit ihr ist, dann stellt sie sich vor ihn hin und bittet um Entschuldigung.
Der Satz klingt redlich und bescheiden und hat ihr viel Sympathie eingebracht, gerade im Kontrast zu den vielen in ihrer Partei und anderen, die in erster Linie niemand als sich selber dienen. Er klingt auch angenehm unautoritär: Sie herrscht nicht – sie dient. Sie dient Deutschland, also uns Deutschen, den Bürger_innen dieses Staates; das klingt auch sehr demokratisch. Aber das stimmt nicht.
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Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht sucht ab sofort eine studentische oder wissenschaftliche Hilfskraft (m/w/d) (Jura / Politikwissenschaft) zur Unterstützung der Aktivitäten des Instituts im Bereich der Wissenschaftskommunikation, insbesondere in den sozialen Medien, Mitarbeit bei der Weiterentwicklung der Kommunikationsformate sowie im allgemeinen Veranstaltungs- und Kommunikationsbereich des Instituts (bis zu 8,5 Std./Woche, befristet) im Arbeitsbereich der Wissenschaftlichen Koordinatorin (Alexandra Kemmerer).
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Der Satz funktioniert nicht. Nicht für eine Bundeskanzlerin. Sie schuldet keinen Dienst. Sie ist keine Dienerin und keine Beamtin, sie ist die Bestimmerin der Richtlinien der Bundespolitik. So steht das drin in ihrer Jobbeschreibung in Artikel 65 Grundgesetz: Sie bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Das ist es, was sie schuldig ist. Das ist, in die Kategorien des bürgerlichen Vertragsrechts übertragen, ein Werk und kein Dienst. Sie schuldet den Erfolg einer von ihren Richtlinien bestimmten Politik. Das hat sie zu liefern. Und wenn sie ihre Lieferpflichten schuldig bleibt und dafür um Verzeihung bittet, dann ist wirkt das nicht so sehr als Übernahme von Verantwortung, sondern vielmehr als Wunsch, von ihr freigesprochen zu werden. Das ist in dieser Woche offenbar geworden und scheint mir die Erklärung dafür zu sein, dass ihr Auftritt auf den letzten Metern ihrer Amtszeit in Deutschland solche Erschütterung ausgelöst hat.
In einer demokratischen Verfassungsordnung gibt es rechtlich geregelte Verfahren und Institutionen, die es möglich halten, unterschiedlicher Meinung zu sein und unterschiedliche Dinge zu wollen und trotzdem zu kollektiv verbindlichen Entscheidungen zu gelangen. Nach einem Jahr Coronakrise, so scheint es, stellen wir fest: Kollektiv verbindliche Entscheidungen kriegen wir hier gar nicht mehr ohne weiteres hin. Immer mehr Menschen sind bereit, zu den Verfassungsorganen zu sagen: Wer seid ihr denn eigentlich, ihr könnt uns mal, das sind eure Verfahren und Institutionen und nicht unsere, und was ihr da entscheidet, ist überhaupt nicht verbindlich, jedenfalls nicht für uns, und damit auch gar keine Entscheidung, sondern nur ein albernes Herumgefuchtel. Das hat die Wirkung einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Vor zwei, drei Jahren waren das noch ein paar spinnerte Reichsbürger, heute sind es Zigtausende, die diese Prophezeiung erfüllen helfen, und sie werden immer mehr. Niemand hält sich an Normen, an die sich niemand hält, schon gar nicht in einer Pandemie. Der Kanzlerin und den Ministerpräsident_innen, so scheint es, ist im Angesicht der bevorstehenden Osterwelle halt nicht mehr genug eingefallen, auf dessen Verbindlichkeit sie sich noch hinreichend verlassen zu können glaubten. Weshalb das, was sie dann entschieden haben, in der Tat nach nichts mehr aussah als nach albernem Herumgefuchtel.
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Zwei Stellenausschreibungen: Grant Manager und WiMi
Die Universität Duisburg-Essen hat zwei Stellen am Standort Freie Universität Berlin, Campus Lankwitz ausgeschrieben.
Gesucht wird zum einen ein/e Grant Writer/Manager (w/m/d) (Entgeltgruppe 11 TV-L). Nähere Informationen finden sich hier.
Zudem gibt es eine Stelle als wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in (w/m/d) (Entgeltgruppe 13 TV-L) im Bereich der Wissenschaftskommunikation. Nähere Informationen finden sich hier.
Bewerbungsfrist ist für beide Stellen der 13. April 2021.
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Das ist kein moralisches oder intellektuelles Versagen überforderter, der Verzeihung bedürftiger Menschen, sondern eine Tragödie. Die Tragödie nicht zuletzt einer Kanzlerin, die Deutschland dienen wollte, aber sich für die Bedingungen der Möglichkeit kollektiv verbindlichen Entscheidens unter Vielfältigen nie richtig interessiert hat. Das ist nicht zu entschuldigen: The buck stops here.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Gegen das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz und dahinter gegen den Corona-Aufbaufonds der EU ist ein Antrag auf eine einstweilige Anordnung vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig. Das Gericht hat heute nachmittag sozusagen eine Quadrat-Einstweilige erlassen, und zwar gegenüber dem Bundespräsidenten, auf dass er bis zur Entscheidung das Gesetz nicht ausfertige und damit vollendete Tatsachen schaffe. Das ist deshalb ungewöhnlich, weil sonst eine solche Aussetzung zwischen den beiden Verfassungsorganen informell und auf Arbeitsebene geklärt wird. Ein solcher formeller “Hängebeschluss” ist im höchsten Maße ungewöhnlich. Ich habe beim Bundespräsidialamt angerufen und gefragt, wie das hier war, und siehe da: Es gab ein solches Ersuchen des Gerichts und man habe dieses “nicht abgelehnt”, sagt mir eine Sprecherin des Bundespräsidialamts. “Den zusätzlichen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts heute haben der Bundespräsident und das Bundespräsidialamt zur Kenntnis genommen.” Nicht abgelehnt heißt ja streng genommen nicht gleich zugestimmt. So oder so: da ist etwas im Busch zwischen Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht, und es wird spannend zu erfahren, was genau.
Warum der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen den Aufbaufonds rechtlich ins Leere gehen müsste, begründet einstweilen MATTHIAS KOTTMANN.
Im Streit um den Astra-Zeneca-Impfstoff mit dem Ex-Mitgliedsstaat UK hantiert die EU mit einem so genannten Exportstopp, was viele Brit_innen mit Kopfschütteln und manche mit Empörung betrachten. Ist das rechtswidrig oder gar ein Angriff auf die Herrschaft des Rechts? Das glaubt GEORGE PERETZ nicht, aber politisch hält er diesen Ansatz trotzdem nicht für klug.
In Israel will die Regierung militärische Überwachungstechnologie einsetzen, um Kontakte von Corona-Infizierte zu tracken. Das hat der Oberste Gerichtshof zwar im Prinzip gebilligt, aber im Detail die Regierung deutlich zurückgepfiffen, berichtet TAMAR HOSTOVSKY BRANDES.
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Reichskriegsflaggen auf Coronademos haben für eine Verbotsdebatte gesorgt. Symbolische Kontinuitäten verlieren ihre Sprengkraft nicht, das gilt nicht zuletzt für Nationalflaggen. In vielen Fällen braucht es deshalb eine Fortentwicklung von Symbolen, meint JÖRG PHILIPP TERHECHTE und hat auch eine Idee, wie das im Fall der deutschen Bundesflagge aussehen könnte.
Die Unabhängigkeit von Gerichten ist sowohl in Europa als auch in Südamerika in Gefahr. MARIE-CHRISTINE FUCHS und JENNY ZAMORA zeigen, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte voneinander lernen können.
In Ecuador wurden mindestens 79 Menschen bei Gefängnisunruhen getötet. Kurz darauf veröffentlichte das Verfassungsgericht eine Entscheidung, die das Systemversagen deutlich benennt und dabei sowohl die Möglichkeiten und Grenzen eines transformativen Konstitutionalismus aufzeigt, schreiben CLARA BURBANO HERRERA and GUSTAVO PRIETO.
In Portugal hat im Januar das Parlament aktive Sterbehilfe und assistierten Suizid in bestimmten Fällen entkriminalisiert. Das portugiesische Verfassungsgericht hat nun das Gesetz gestoppt, aber dabei die Tür für eine geänderte Version offen gehalten, berichtet TERESA VIOLANTE.
In Frankreich plädiert die Regierung vor dem Conseil d’État dafür, ein Urteil des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung nicht zu befolgen, weil es gegen die französische Verfassungsidentität verstoße. DAVID PRESSLEIN über ein Verfahren, das einen weiteren Schlag gegen den Vorrang des EU-Rechts bedeuten könnte.
Die Türkei ist am 20. März aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ausgetreten. AYŞEGÜL KULA erklärt, warum diese Entscheidung nicht nur ein herber verfassungsrechtlicher Rückschlag ist, sondern eine weitere Aneignung Präsident Erdogans von ihm nicht-zustehender legislativer Kompetenzen.
In UK überlegt die Tory-Regierung, ob nicht private Streaminganbieter wie Netflix dazu verpflichtet werden könnten, öffentlich-rechtliche Inhalte der BBC zu verbreiten. LENNART LAUDE untersucht, ob und inwieweit auch in Deutschland eine derartige Regelung (verfassungs-)rechtlich überhaupt möglich wäre.
Entscheidungen, die den freien Informationsfluss im Netz beschränken, gehören nicht in private Hände. Doch genau solche Entscheidungen trifft künftig die „Clearingstelle Urheberrecht im Internet“ über Netzsperren bestimmter Webseiten. FELIX REDA und JOSCHKA SELINGER zeigen, wie private Netzsperren ohne Gerichtsbeschluss rechtsstaatliche Prinzipien aushöhlen.
Letzte Woche hatten wir live mit Politiker_innen, Journalist_innen und Wissenschaftler_innen über die Rolle der Verfassungsrechtswissenschaft als Expert_innen im politischen Raum diskutiert. In der kommenden Woche werden wir die Debatte mit einem Online-Symposium fortsetzen, u.a. mit Beiträgen von OLIVER LEPSIUS, ANDREAS BUSCH, ISABEL FEICHTNER, FRIEDHELM HASE, ANNA-BETTINA KAISER und MATTHIAS JESTAEDT u.v.m.
Womit ich wieder am Ende wäre für diese Woche. Haben Sie alle schon eine “Hold-on-to-the-Constitution”-Tasse? Nein? Kein Problem, die gibt’s hier.
Ihnen alles Gute, vielen Dank und bis nächste Woche,
Ihr
Max Steinbeis
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