25 March 2021

Liberté, Egalité, Identité

Der Conseil d’État und die französische Verfassungsidentität

Der EuGH hat es derzeit nicht leicht: Das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist kaum verwunden, da bahnt sich schon der nächste Paukenschlag an. Doch dieses Mal sind es nicht die Richter in Karlsruhe, welche in der Frage nach dem Verhältnis von Unionsrecht zur nationalen Verfassung ein Wörtchen mitreden wollen. Die möglichen Urheber sitzen diesmal in Paris: Berichten von Anfang März zufolge (hier, hier und hier) plädiert die französische Regierung vor dem obersten französischen Verwaltungsgericht, dem Conseil d’État, dafür, ein Urteil des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung nicht zu befolgen, weil es gegen die französische Verfassungsidentität verstoße. Droht Luxemburg eine weitere Breitseite oder wie sind diese Formulierungen einzuordnen?

Die Entscheidung des Conseil d’État steht noch aus, aber sollte das Gericht der französischen Regierung folgen wäre das ein weiterer Schlag gegen den Vorrang des EU-Rechts. Dabei ist die Berufung auf die französische Verfassungsidentität kein überzeugendes Konzept – erst recht nicht wenn es um Vorratsdatenspeicherung geht.

Worum geht es?

Auslöser für den Konflikt ist ein Rechtsstreit, der 2018 vor den Conseil d’État gelangte. Geklagt hatten drei französische NGOs, « la Quadrature du Net », das « French Data Network » und die « Fédération des fournisseurs d’accès à internet associatifs », die gegen einige Bestimmungen des französischen Datenschutzrechts vorgehen wollten. Diese verpflichteten Telekommunikationsdienstleister, eine pauschale und präventive Datenspeicherung vorzunehmen bzw. gegebenenfalls die Weiterleitung der Daten an die zuständige Behörde zu ermöglichen. Die Ziele lagen hierbei vor allem in der Verbrechensbekämpfung und dem Schutz der nationalen Sicherheit.

Geklagt hatten die NGOs, weil in diesem Bereich die EU-Richtlinie 2002/58/EG (zuletzt geändert durch die Richtlinie 2009/136) Vorgaben zur Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung beinhaltet, welche durch nationales Recht umgesetzt werden müssen. Der EuGH hatte bereits mehrere Urteile gefällt, denen sich entnehmen lässt, dass die französischen Regelungen wahrscheinlich zu weit gingen (etwa das Urteil in der Rs. Digital Rights Ireland, in welchem der EuGH die Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie 2006/24/EG für unwirksam erklärte, oder das Urteil in der Rs. Tele2Sverige, in welchem der EuGH festhielt, dass Art. 15 der RL 2002/58/EG einer anlasslosen und allgemeinen Verkehrsdatenerhebung zum Zwecke der Verbrechensbekämpfung entgegensteht). Der Conseil d’État legte deshalb dem EuGH nach Art. 267 AEUV den Fall zur Vorabentscheidung vor, damit dieser noch offene Fragen zur Auslegung der Richtlinie klären konnte. Der EuGH kam daraufhin in seinem Urteil in der Rs. La Quadrature du Net im Oktober 2020, wenig überraschend, zu dem Ergebnis, dass Art. 15 der RL 2002/58/EG dahingehend auszulegen sei, dass er einer pauschalen präventiven Vorratsdatenspeicherung entgegensteht.

Das Urteil missfiel der französischen Regierung – auch das ist in Anbetracht der Reihe an Fällen, in denen Frankreich Mühe hatte, sich mit den europäischen Datenschutzvorgaben anzufreunden (ein Überblick findet sich hier) nicht verwunderlich. Der Fall liegt nun wieder beim Conseil d’État, der sich an die Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH halten muss, schließlich interpretiert dieser das Unionsrecht allein und letztverbindlich. Der französischen Regierung schwebt nun im laufenden Verfahren aber eine Widerstandstat des Conseil d’État vor: Er soll sich über die Auslegung durch den EuGH hinwegsetzen, weil diese die Identität der französischen Verfassung verletze (dazu etwa hier). Die Entscheidung des Conseil d’État steht noch aus, ein Termin zur Verkündung ist noch nicht bekannt.

Woher kommt dieses Argument?

Die Verfassungsidentität (siehe im Unionsrecht Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV) hat in der französischen Rechtsprechung erst spät Bedeutung erlangt. Kurz nachdem er 2004 in der Entscheidung zum (gescheiterten) Vertrag über eine Verfassung für Europa der Pflicht zur Umsetzung von Richtlinien Verfassungsrang zugestanden hatte, entwickelte der Conseil Constitutionnel, das französische Pendant zum Bundesverfassungsgericht, in einer Entscheidung zum Urheberrecht von 2006 die Doktrin, dass sich aus Art. 88-1 der Constitution française (CF) eine Grenze des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ergebe, wenn die französische Verfassungsidentität betroffen sei, es sei denn, der Verfassungsgeber hätte dem zugestimmt. Somit entwickelte er seine eigene Variante eines integrationsrechtlichen Kontrollmaßstabs. Sie ist allerdings seitdem deutlich weniger entfaltet worden als etwa die drei Kontrollmaßstäbe des BVerfG (dazu hier und hier) und kam bislang nur selten zur Sprache.

Der Conseil d’État ist dagegen einen anderen Weg gegangen: In seiner Arcelor-Entscheidung entwickelte er einen eigenen Kontrollmaßstab, ohne auf die Verfassungsidentität zu rekurrieren. Er stellt zwar auch auf Art. 88-1 CF ab, entnimmt ihm allerdings einen anderen, zweistufigen „Äquivalenztest“: In einem ersten Schritt überprüft er, ob sich im Unionsrecht ein Grundsatz findet, der demjenigen aus der CF entspricht und einen äquivalenten Schutzstandard gewährt. Ist dies der Fall, prüft der Conseil d’État im zweiten Schritt anhand des Unionsrechts – bei Unklarheiten wird eine Vorlage an den EuGH fällig. Gibt es dagegen keinen äquivalenten Schutzstandard auf der ersten Stufe, wendet der Conseil d’État auf der zweiten Stufe schlicht nationales Verfassungsrecht an und überprüft auch Umsetzungsgesetze, die auf unionsrechtlichen Vorgaben beruhen, auf ihre Vereinbarkeit mit der französischen Verfassung hin.

Das Verhältnis der beiden Kontrollmaßstäbe ist durch unterschiedliche, an die Eigenheiten der beiden Gerichte angepasste Ansätze geprägt. In der Sache werden sie sich oft einander annähern, weil die Grundsätze, die es nur in der CF, aber nicht im Unionsrecht gibt, wohl meistens französische Besonderheiten sind. Der Schritt hin zur Aufnahme in die französische Verfassungsidentität ist dann meist nicht allzu weit (siehe ausführlich die Einordnung bei Mayer/Lenski/Wendel, EuR 2008, 63 ff.). Auch mit Blick auf die Kooperation im Dialog mit dem EuGH liegen beide Gerichte mittlerweile auf einer Wellenlänge, hat doch der Conseil Constitutionnel mittlerweile selbst Vorlagefragen an den EuGH formuliert (siehe die Anmerkungen dazu hier).

Wie würde sich das im konkreten Fall auswirken?

Das hängt davon ab, wie der Conseil d’État die Auslegung der Richtlinie 2002/58/EG des EuGH einschätzt. Von vornherein kann festgehalten werden, dass der Hinweis der französischen Regierung auf die Verfassungsidentität ungenau ist – sie hat sich hierfür das falsche Gericht „ausgesucht“, bislang jedenfalls zieht der Conseil d’État die Verfassungsidentität überhaupt nicht heran. Das hat auch in der Sache Konsequenzen: Der Äquivalenztest des Conseil d’État ist (ähnlich, wie es die Solange-Rspr. war), auf den Grundrechtsschutz gemünzt. Er hilft insbesondere dem Individuum, das befürchtet, durch das Unionsrecht in seinen Grundrechten verletzt zu werden.

Im konkreten Fall führt das jedoch nicht weiter, denn nicht der Grundrechtsträger will erreichen, dass der Conseil d’État über das Urteil des EuGH hinweggeht, sondern der Staat, der in die (Datenschutz-)Grundrechte eingreift. Gerügt wird gerade ein aus Sicht der französischen Regierung zu weitgehender Grundrechtsschutz durch das Unionsrecht zulasten objektiver Verfassungsprinzipien wie der öffentlichen Sicherheit oder der Verbrechensbekämpfung. Bemüht man nicht eine Schutzpflicht für durch nicht verhinderte Straftaten beeinträchtigte Grundrechte, kann der auf subjektive Rechte zugeschnittene Kontrollmaßstab des Conseil d’État überhaupt nicht zur Anwendung kommen (so auch die Kritik hier auf S. 78 f.).

Wollte sich der Conseil d’État der Argumentation der französischen Regierung anschließen, müsste er ergo seinen Äquivalenztest auch auf Verfassungsstrukturprinzipien und Verfassungsgüter der Allgemeinheit ausweiten oder einen neuen Ansatz wählen, evtl. mit dem Conseil Constitutionnel gleichziehen. In der Tat böte sich hier das Konzept der identité constitutionnelle dank seines weitreichenderen Prüfungsmaßstabs an. Sollte der Conseil d’État so also zu der Einschätzung kommen, dass die Auslegung des EuGH keinen ausreichenden Schutzstandard gewährt, dann müsste er das Unionsrecht außer Acht lassen und den Fall anhand des französischen Verfassungsrechts entscheiden. Damit käme es zu einem weiteren Fall, in dem ein nationales Gericht dem EuGH die Gefolgschaft verweigert.

Welche Folgen hätte das für die EU?

Kritiker argumentieren damit (wie auch beim PSPP-Urteil, beispielsweise hier), dass ein PSPP-Urteil à la française aktuell eher unionskritischen Regierungen in die Karten spielen würde. Die französische Regierung selbst zeichnet sich etwa durch eine gewisse Renitenz im Bereich Datenschutz aus und könnte ein solches Urteil als Bestätigung für ihre permissive Linie in Hinsicht Vorratsdatenspeicherung entgegen unionsrechtlicher Vorgaben sehen (nicht von ungefähr hatte die Regierung mit der Anpassung nationaler Regelungen an die Tele2-Rechtsprechung das Verfahren vor dem Conseil d’État abwarten wollen, dazu hier). Das betrifft aber nicht nur Frankreich, sondern kann auch Auswirkungen auf die Verhandlungen zwischen der EU und den USA über einen Nachfolger für den „Privacy Shield“ haben, den der EuGH in der Rs. „Schrems II“ für unwirksam erklärte. Interne Konflikte in der EU könnten sich negativ auf ihre auswärtige Verhandlungsposition auswirken, was dann zulasten des Datenschutzes ginge.

Hinzukommt, dass sich im Falle einer Absage an den EuGH durch den Conseil d’État mit Frankreich ein zweiter der ursprünglichen Gründungsstaaten der EGKS querstellt. Hinzukommen der Dänische Supreme Court mit seinem Ajos-Urteil von 2016 (dazu hier) und das tschechische Verfassungsgericht mit seiner Landtová-Entscheidung von 2012 (dazu hier). In diese Reihe fügt sich auch die Aktivierung des „controlimiti-Vorbehalts“ durch die italienische Corte Costitutionnale, die der EuGH in der Rs. „Taricco II“ allerdings ausnahmsweise noch akzeptierte. Die europakritischen Stimmen gewännen damit weiter an Gewicht.

Gleichwohl sind dies vor allem politische Argumente, die prima facie für eine gerichtliche Entscheidung keine Rolle spielen sollten. Maßgeblich muss hingegen sein, ob in dem Quasi-Verbot einer präventiven pauschalen Vorratsdatenspeicherung allein bereits ein solch gewichtiger Abfall des Schutzniveaus zu sehen sein kann, dass es aus der Perspektive des französischen Verfassungsrechts nicht mehr vertretbar wäre, den Vorgaben des EuGH zu folgen. Das kann bei vorsichtiger Einschätzung bezweifelt werden, zumal der EuGH in besagtem Urteil selbst bestimmte Ausnahmen anerkennt, etwa im Falle akuter Gefahren und schwerwiegender Bedrohungslagen, wenn gerichtliche Kontrolle möglich bleibt, die Maßnahme auf das Nötigste begrenzt und Missbrauch ausgeschlossen wird. Ob darin tatsächlich eine solch starke Einschränkung liegt, dass, um mit der französischen Regierung zu sprechen, „die Verfassungsidentität Frankreichs“ bedroht ist, scheint fraglich. Der Conseil d’État kann dies auch anders sehen. Insbesondere ist es für ihn, bedenkt man seine Doppelfunktion als Gericht und politisches Beratungsgremium, nicht unüblich, auch politische Nützlichkeitserwägungen mit einfließen zu lassen. Wie er also die Lage einschätzen wird, bleibt abzuwarten. On verra bien.


SUGGESTED CITATION  Presslein, David: Liberté, Egalité, Identité: Der Conseil d’État und die französische Verfassungsidentität, VerfBlog, 2021/3/25, https://verfassungsblog.de/liberte-egalite-identite/, DOI: 10.17176/20210325-151410-0.