Weltumspannende Vernichtungsfantasien
Warum die rechtliche Missbilligung von antisemitischen und rassistischen Kunstwerken unterscheidbar sein sollte
In seinem jüngst veröffentlichten Gutachten zum documenta fifteen-Skandal schreibt Christoph Möllers, dass er Kunstformen, „die sich antisemitischer oder rassistischer Stereotype bedienen“, nebeneinander behandeln könne, „weil die Unterschiede zwischen Rassismus und Antisemitismus jedenfalls nicht auf den Umstand ihrer verfassungsrechtlichen Missbilligung hinüberwirken, die für beide gilt und für beide an gleicher Stelle verankert ist“.1) Das mag der Mehrheitsmeinung unter Verfassungsrechtler:innen entsprechen. Aus der Perspektive der Antisemitismusforschung verdeckt eine solche same standards-These2) jedoch gerade das, was den modernen Antisemitismus ausmacht. Deshalb sollten wir erwägen, bei seiner rechtlichen Bekämpfung dogmatisch neue Wege zu gehen.
Die Ausgangslage, so muss man eingangs zugestehen, könnte freilich kaum verworrener sein. Rassismusvorwürfe sind mancherorts Reflexe, um Antisemitismus zu tabuisieren.3) Und Antisemitismusverdächtigungen dienen auch schon einmal dazu, rassistische Verhaltensweisen zu relativieren. Dass in der aktuellen Debatte nun noch die Kunstfreiheit (mit-)verhandelt wird, hat die Situation nicht weniger dialektisch gemacht – im Gegenteil: Öffentlicher Kritik an einer „Zensur“ bzgl. als antisemitisch klassifizierter Kunstwerke stehen die Perspektiven jüdischer oder israelischer Künstler:innen gegenüber, die ganz regelmäßig mit Boykottaufrufen konfrontiert sind (etwa aus dem BDS-Umfeld).
Diese Komplexitäten entlasten aber nicht davon, gründlich darüber nachzudenken, welche moralisch relevanten Unterschiede zwischen rassistischer und antisemitischer Kunst bestehen könnten. Und im Anschluss stellt sich dann natürlich die Frage, ob das Recht angemessen darauf reagiert. Um zumindest ein wenig Licht auf die genannten Problemcluster zu werfen, werden wir in drei Schritten vorgehen. Erstens bedarf es eines kurzen Hinweises auf die bestehenden (verfassungs-)rechtlichen Wertungsnormen hinsichtlich antisemitischer Verhaltensweisen. Zweitens werden wir skizzieren, aus welchen Gründen Antisemitismus – sogar anders als der mörderischste Rassismus – strukturell stets „aufs Ganze geht“. Und drittens muss es sich auch bei einer „kunstspezifischen“ (BVerfGE 119, 1 Rn. 82) bzw. kunsttheoretischen Betrachtungsweise einsichtig machen lassen, dass antisemitische Kunst wirklich qua Kunstwerk Gewalt ausüben oder Hass säen kann.
Unser Beitrag ist dabei als Diskussionsanstoß zu verstehen. Wir wollen keine Gewissheiten liefern, sondern zu Reflexionsprozessen anregen: Könnte es sich lohnen, Antisemitismusbekämpfung im Recht einmal außerhalb der eingespielten antidiskriminierungsrechtlichen Kategorien und ihrer Adressat:innenabhängigkeit zu denken?
I. (Verfassungs-)Recht – Wertungsreserven zur Antisemitismusbekämpfung
Rechtlich betrachtet wird antisemitisches Verhalten in erster Linie durch den Diskriminierungsschutz in Normenkorpora des Verfassungs- und Völkerrechts missbilligt, etwa durch die Art. 1 I, 3 III 1 GG, Art. 1, 21 I GRCh, Art. 14 EMRK sowie Art. 20 II, 26 IPbpR (siehe z.B. hier). Daneben stehen einfachgesetzliche Vorschriften, etwa das AGG und nicht zuletzt strafrechtliche Verhaltens- und Wertungsnormen wie die §§ 46 II 2, 130, 192a StGB.4)
Darüber hinaus wäre überlegenswert, ob auch die grundgesetzlichen Bestimmungen, die allgemein als „Gegenentwurf“ zur nationalsozialistischen Schreckensherrschaft gesehen werden (neben Art. 1 I, 3 III 1 also v.a. Art. 16, 16a, 26, 79 III, 116 und 139 GG), zumindest teilweise implizite Anti-Antisemitismuswertungen enthalten. Hinsichtlich (1) des sekundären (Schuldabwehr-)Antisemitismus dürfte zudem das postmortale Persönlichkeitsrecht der Shoah-Opfer aus Art. 1 I GG (vgl. BVerfGE 124, 300 Rn. 33, 40, 62) und hinsichtlich (2) des israelbezogenen Antisemitismus insbesondere die „Staatsräson“-Einstellung der Bundesregierung als Teil der sachlichen demokratischen Legitimation staatlichen Handelns (Art. 20 II 1 GG)5) sowie § 7 AWV als Anti-Boykottwertung des einfachen Rechts einschlägig sein.
Es wäre sicher interessant, näher zu untersuchen, ob wirklich ausnahmslos alle dieser Wertungsnormen gleichzeitig auch eine parallele (mindestens implizite) rechtliche Missbilligung des Rassismus enthalten. Aber das führt im Rahmen dieses Textes deutlich zu weit. Und darum geht es uns auch gar nicht. Wichtig sind vielmehr die strukturellen Unterschiede, die in den im weiteren Sinne „sozialwissenschaftlichen“ Theorien des modernen Antisemitismus schon lange klar benannt worden sind.
II. Antisemitismustheorie – Wie Antisemitismus sich von Rassismus abhebt
Vorausgeschickt sei, dass die näher zu erläuternden Unterschiede keinesfalls dazu dienen, Antisemitismus und Rassismus in eine künstliche Hierarchie zu bringen. Nichts von beidem muss z.B. mehr bekämpft werden als das andere. Aber beide sollten in ihren Funktionsmechanismen kognitiv voneinander getrennt werden, um sie jeweils besser verstehen und bekämpfen zu können (siehe hier). Sie gleichen sich zunächst freilich darin, dass in beiden Fällen menschenfeindliche Projektionen, Gerüchte und Vorurteile im Spiel sind. Während der Rassismus die „Minderwertigkeit“ gewisser Menschen aus – oftmals biologistischen – Pseudoerklärungen über ihre „Natur“, „Kultur“, „Identität“ o.Ä. zusammenfabuliert, liegt dem Phänomen des modernen Antisemitismus eine gänzlich anders geartete und fatale Abstraktionsleistung zugrunde: Die Chiffren „Jude“, „Jüdin“, „jüdisch“ und dergleichen stehen erst gar nicht mehr für konkrete Individuen oder Personengruppen, sondern direkt für den gebündelten Hass auf die Symbole der Moderne (Kapital, Herrschaft, Singularisierung usw.).6) Jüdische Menschen gelten überhaupt nicht als bedrohliche „Fremde“, sondern als „Andere“; in den Augen der Antisemit:innen sind sie weder Ingroup noch Outgroup. Sie markieren stattdessen eine diffuse „Figur des Dritten“ und werden gerade deshalb als besonders unfassbar sowie existentiell bedrohlich imaginiert.7) Rassifizierten Menschen dichtet man ihre Unterlegenheit an. „Jude(n)“ ist hingegen zu einem universalen cultural code (Shulamit Volkov) geworden, der gleich für eine umfassende Weltverschwörung und eine ultimative, unentrinnbare, wenn auch nicht-identifizierbare Macht steht.8)
Diese Differenzen wurden gerade rhetorisch besonders eindrücklich in der frühen Kritischen Theorie, genauer im Rahmen der Dialektik der Aufklärung herausgearbeitet. In den Elementen des Antisemitismus liest man, dass jüdische Menschen nicht einfach nur als (moralisch, ökonomisch, intellektuell etc.) minderwertig angesehen, sondern zum „negativen Prinzip als solches“ erklärt und als das „absolut Böse“ gebrandmarkt werden.9) Zur Struktur des Antisemitismus gehört ein zutiefst manichäisches Weltbild, welches in Verbindung mit der empfundenen Ohnmacht der Antisemit:innen konsequent auf Vernichtungsobsessionen ausgerichtet ist. Dies wird besonders in einem Zitat von Horkheimer und Adorno deutlich, das seinerseits ganz erhebliche epistemische Gewalt beinhaltet, weil es von ihnen bewusst aus der Perspektive der Faschist:innen formuliert ist:
„[D]ie [N-Wort] will man dort halten, wo sie hingehören, von den Juden aber soll die Erde gereinigt werden, und im Herzen aller prospektiven Faschisten aller Länder findet der Ruf, sie wie Ungeziefer zu vertilgen, Widerhall.“10)
Die sog. „Logik“ des Antisemitismus, das hat etwa Moishe Postone gezeigt, geht als weltumspannende Vernichtungsfantasie aufs Ganze:11) Rassistische und xenophobe Einstellungen unterscheiden sich von antisemitischen anhand der den anderen zugeschriebenen Macht und der Abstraktheit dieser Zuschreibung – das „Jüdische“ wird mit einer „mysteriöse[n] Unfassbarkeit, Abstraktheit, Allgemeinheit“ identifiziert, die als nicht mehr greifbar, wurzellos, ungeheuer groß und vor allem unkontrollierbar angesehen wird.12) Deshalb zielt der Antisemitismus in letzter Konsequenz nicht auf Dominanz, sondern auf Vernichtung.
Wie schon eingangs angedeutet, geht es bei alldem nicht darum, verschiedene Formen der Menschenfeindlichkeit gegeneinander auszuspielen oder gar in eine Rangordnung zu bringen. Niemand bestreitet die Existenz von eliminatorischem Rassismus. Den gibt es natürlich. Er ist brandgefährlich und hat u.a. zu kolonialen Genoziden geführt, über die wir bis heute zu wenig reden und zu wenig wissen.
Dennoch unterscheidet sich auch der mörderischste Rassismus vom Antisemitismus. Das lässt sich mit einem Bild von Achille Mbembe verdeutlichen.13) Laut Mbembe liegt dem Rassismus die Idee eines gigantischen Zoos der Kulturen zugrunde. Einer „Logik des Einzäunens“ folgend sollen die einzelnen „Rassen“, „Kulturen“ oder „Identitäten“ feinsäuberlich getrennt und eine „Vermischung“ tunlichst vermieden werden (jede:r bleibt in seinen/ihren Käfig gesperrt).14) Manchmal sollen die Insass:innen einzelner Käfige auch vernichtet werden. Doch nicht einmal dieser „Logik“ gehorcht der Antisemitismus. Ihm geht es nicht ums Einzäunen (ein weiterer Käfig für die Juden), sondern er wittert eine diffuse Macht im Hintergrund, von deren Eliminierung das Glück der Welt abhängt. Antisemit:innen sprengen mit ihren Obsessionen das Käfigdenken. Sie werden stets Fragen wie diese in den Raum werfen: „Was soll eigentlich mit der Zoodirektion geschehen – den grauen Eminenzen, die im Hinterzimmer die Fäden ziehen und damit für alle Übel auf der Erde verantwortlich zu machen sind?“. Die Antwort lautet freilich, dass diese Bedrohung dringend eliminiert werden müsse, da sie sich in keinen Käfig sperren lässt.
Gerade weil der Antisemitismus in einer umfassenden manichäischen Weltanschauung kulminiert, handelt es sich nicht um eine weltumspannende Fantasie des Einzäunens, sondern um eine weltumspannende Fantasie des Vernichtens. Antisemitismusbekämpfung, so hart das klingen mag, ist immer im buchstäblichen Sinne eine extinction rebellion.
III. Kunsttheorie – Inwiefern Kunstwerke verwerflich sein könn(t)en
Kunstwerke sind nun aber schon phänomenologisch keine plumpen antisemitischen Parolen. Die Frage nach ihrer normativen Kritisierbarkeit ist deshalb nicht ganz leicht zu beantworten. Einschlägig sind hier die Debatten der analytisch geprägten Kunstphilosophie, die sich intensiv mit dem Problem beschäftigt haben, ob – und wenn ja, inwiefern – sich einzelne Kunstwerke moralisch bewerten lassen (siehe hier und hier): Was bedeutet es eigentlich genau, z.B. von einem „antisemitischen Kunstwerk“ zu sprechen?
Man kann erstens mit einem hohen theoretischen Aufwand versuchen, einen perspektivistischen Ansatz zu plausibilisieren, der geltend macht, dass Kunstwerke unmoralische Haltungen oder Perspektiven einnehmen können. Kritiker:innen wenden dagegen ein, dass nur bewusstseins- und handlungsfähige Subjekte moralische Haltungen haben können. Will man nicht letztlich die Haltung des:der Künstler:in kritisieren, sondern diejenige des Werks, stellt sich die Frage, wem die Haltung, die sich im Werk manifestiert, zuzuschreiben ist. Die klassische Antwort lautet, dass die moralische Haltung nicht (zwingend) diejenige des:der realen Künster:in, sondern die des:der „implizierten“ oder „sich im Werk manifestierenden“ Künstler:in ist (hier, hier und hier). Diesem Vorschlag kann wiederum entgegengehalten werden, dass es sich bei diesen Konstruktionen um Fiktionen handelt, die ebenfalls keine realen moralischen Haltungen haben können.
Da Kunstwerke keine handlungsfähigen Subjekte sind, ist die Rede davon, dass sie „Gewalt ausüben“, irreführend. Doch es ließe sich zweitens auch behaupten, dass manche Kunstwerke, insofern ihnen eine hinreichende kommunikative Funktion zukommt, selbst eine Form der Gewalt an einer Gruppe von Personen sind. So ist im Kontext der anglo-amerikanischen Diskussionen um Pornographie das später auf die Kunst im Allgemeinen ausgeweitete Argument vertieft worden, wonach gewisse Werke die Unterwerfung und Degradierung der Frau befürworten und damit – unabhängig von ihren Folgen – als Werk verwerflich sind (hier). Im Hintergrund steht die Sprechakttheorie (hier und hier). Sie fragt, wie allein durch sprachliche Äußerungen Handlungen vollzogen werden können. Die Bedeutung des Satzes „Das Messer ist scharf!“ erschöpft sich etwa nicht in der Auskunft über die Beschaffenheit des Messers, dem sogenannten lokutionären Akt; denn wer ihn äußert, kann damit unterschiedliche Sprechhandlungen vollziehen. So ließe sich etwa eine Warnung oder aber eine Empfehlung aussprechen. Diese Art von Sprechakten wird illokutionärer Akt genannt. Die illokutionäre Rolle einer Äußerung kann auch in der Abwertung einer Gruppe von Personen i.S.d. Legitimierung einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung bestehen. Damit illokutionäre Akte erfolgreich sind, müssen sie allerdings bestimmte Bedingungen erfüllen. So vermag nicht jede Person mit dem Satz „Ich erkläre Sie zu Ehepartner:innen!“ zwei Personen zu trauen. Sie muss dazu die erforderliche Autorität innehaben. Können Kunstwerke solche Bedingung erfüllen? Wenn z.B. bestimmte Formen der Pornographie die illokutionäre Rolle haben, festzulegen, welche Handlungen in sexuellen Akten als normal zu betrachten sind, spricht viel für eine positive Antwort. Werden nämlich unmoralische Kunstwerke in Ausstellungen präsentiert und dadurch geadelt, mag man dies ebenfalls als illokutionären Akt der Normalisierung verstehen.
In den letzten Jahren befürworten viele Theoretiker:innen drittens einen produktionsorientierten Ansatz, der besagt, dass ein Kunstwerk unmoralisch ist, wenn es seine Existenz unmoralischer Handlungen verdankt (hier).
Und viertens erfreut sich auch ein kognitivistischer Ansatz wachsender Beliebtheit (hier): Demnach ist ein Kunstwerk anhand seines Potenzials zu evaluieren, moralrelevante Einstellungs- und Verhaltensänderungen zu bewirken. Anzunehmen, dass Kunstwerke einen kausalen Einfluss auf derartige Veränderungen nehmen können, ist dabei grundsätzlich plausibel. Studien, die Kausalzusammenhänge zwischen gewalthaltigen Medien und aggressiven Verhaltensweisen untersucht haben, geben einige automatisch und unbewusst ablaufende psychologische Mechanismen als Erklärung an. Doch wird man schwerlich behaupten können, dass die Rezeption eines einzelnen Werks, das gewalthaltige Darstellungen oder antisemitische oder rassistische Stereotype enthält, bei jeder einzelnen betrachtenden Person zu gewalttätigem Verhalten führt, rassistische Vorurteile verstärkt oder gar erst verursacht. Vielmehr ist die These, dass Kunst Hass sät, wie die Aussage aufzufassen, dass Rauchen Lungenkrebs verursacht. Eine einzelne Zigarette mag eine geringe kausale Kraft aufweisen; eine Schädigung ist nach wiederholter, längerfristiger Exposition mit Zigarettenrauch jedoch um ein Vielfaches wahrscheinlicher – auch wenn nicht alle Raucher:innen zwangsläufig an Lungenkrebs erkranken. In Bezug auf das schädigende Potential von Kunstwerken (hier) ist diese These allerdings empirisch schlecht erforscht. Können Kunstwerke also Hass säen? Es gibt gute Gründe für diese Annahme, auch wenn die „Keimrate“ unbekannt ist, nicht jeder Samen keimt und nicht jeder auf fruchtbaren Boden fällt.
Unbestreitbar ist allerdings, dass auch bei Zugrundelegung einer kunstspezifischen Betrachtung diverse theoretische Möglichkeiten zur Verfügung stehen, ein Kunstwerk sinnvollerweise als „antisemitisch“ zu brandmarken.
IV. Ausblick – Wie könnte das Recht reagieren?
Mit dem Bewusstsein dafür im Hinterkopf, dass es zu kurz greift, antisemitische Verhaltensweisen (nur) als irgendeine weitere Art der rassistischen Diskriminierung zu beschreiben,15) stellt sich mit Nachdruck die Frage, wie das Recht mit Praxen des Kalibers „weltumspannender Vernichtungsfantasien“ umgehen sollte.
Bislang wird in Deutschland allzu oft ein deutlich zu einfaches Argumentationsmuster verwendet: Auch antisemitische Kommunikationsakte fallen in den Schutzbereich von Art 5 I 1 Var. 1 bzw. Art. 5 III Var. 1 GG. Also sind sie erst dann rechtlich angreifbar, wenn sie die „Friedlichkeitsgrenze überschreiten“, d.h., sofern sie die rein geistige Sphäre verlassen und aggressiv sowie unmittelbar die subjektiven Rechte konkreter Individuen gefährden (siehe hier).
Vielleicht müssen wir ganz anders denken. Weltumspannende Vernichtungsfantasien könnten das traditionelle subjektiv-rechtliche Verständnis nämlich schlicht sprengen. Sie richten sich zunächst gar nicht gegen konkrete Jüdinnen und Juden, sondern gegen abstrakte „Juden“. Wer zu letzteren zählt, entscheiden die Antisemit:innen kurioserweise selbst. Nun fallen die ominösen „Juden“ aber gleichzeitig durch das dogmatische Raster, weil sie als abstrakte Entität(en) überhaupt keine subjektiven Rechte haben können. Und wenn sich der Vernichtungswahn erst einmal individualisiert hat, indem „das Jüdische“ auf ein konkretes Rechtssubjekt projiziert wird, ist es zu spät. Das ist das Dilemma des subjektiv-rechtlichen Denkens in dieser Konstellation. Warum sind antisemitische Verhaltensweisen also eigentlich kein Musterbeispiel, um die objektiv-rechtliche Dimension der Menschenwürde zu aktivieren? Die Merkmale (1) maximaler Abstraktion bei (2) gleichzeitig ultimativem Vernichtungswillen lassen sich doch auf den ersten Blick wesentlich besser einfangen, wenn man dogmatisch ausnahmsweise eine adressat:innenunabhängige Verletzung annimmt, die sich eben aus dem objektiven Gehalt von Art. 1 I GG speist.16) Durch die radikale Entpersonalisierung in Verbindung mit der skizzierten (Eliminations-)„Logik“ des Antisemitismus wird Jüdinnen und Juden letztlich pauschal ihr fundamentaler Wert- und Achtungsanspruch abgesprochen, indem sie nicht mehr als Menschen, sondern als (bloß abstrakte) Objekte eingeordnet werden, denen man ohne Weiteres den Garaus machen darf bzw. muss – dabei handelt es sich geradezu um die klassischen Kriterien für eine Verletzung der objektiv-rechtlichen Dimension der Menschenwürdegarantie.17) Freilich gibt es auch rassistische Darstellungen, die keine konkreten Individuen zum Gegenstand haben.18) Man denke etwa an die Südstaatenflagge. Solche Rassismen können als Kommunikationsakte im Einzelfall selbstverständlich ebenfalls den objektiven Gehalt von Art. 1 I GG aktivieren. Allerdings bieten die im Rahmen der Antisemitismusforschung herausgearbeiteten Unterschiede (Stichwort „weltumspannende Vernichtungsfantasien“) Rechtfertigungspotential dafür, dies bei antisemitischen Handlungen stets anzunehmen, während rassistische Handlungen die objektive Menschenwürdegarantie verletzen können, aber nicht müssen.
Natürlich mag man auch argumentieren, dass es nicht genug ist, einfach eine Brücke von sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen zu rechtsdogmatischen Innovationen zu schlagen, um eine solche Ausnahme zu begründen.19) Dann bliebe uns wohl nichts weiteres übrig als bei antisemitischen Kunstwerken, die wegen fehlender subjektiv-rechtlicher Betroffenheit juridisch immun sind, auf den „freiheitliche[n] Skandal“ des Grundgesetzes zu verweisen.20) Diese liberale Zumutung wird nicht jede:n überzeugen.
Wir danken Christoph Möllers, Marcus Schnetter und Bent Stohlmann für Anmerkungen und Hinweise zu früheren Versionen des Textes
References
↑1 | Christoph Möllers, Grundrechtliche Grenzen und grundrechtliche Schutzgebote staatlicher Kulturförderung, Ein Rechtsgutachten im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, 2022, 4–5. Im Expert:innenbericht (Deitelhoff et al., Abschlussbericht, Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta fifteen, 2023, 111) ist i.Ü. nur noch von „ganz ähnlichen verfassungsrechtlichen Grundlage[n]“ die Rede. |
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↑2 | Möllers, Rechtsgutachten (Fn. 1), 5, 31 ff. betont freilich, dass das Bundesverfassungsgericht antisemitische Äußerungen zwar nicht auf der Maßstabsebene aber doch auf der Anwendungsebene tendenziell strenger ahndet. Als Indiz dient eine jüngere Kammerentscheidung (BVerfG, 7.7.2020 – 1 BvR 479/20), die eine strafrechtliche Verurteilung wegen Volksverhetzung in dem Fall gebilligt hat, dass ein Vorsteher einer jüdischen Gemeinde von einem Politiker der Partei „Die Rechte“ als „frecher Juden-Funktionär“ bezeichnet worden war. |
↑3 | Dazu auch Deitelhoff et al., Abschlussbericht (Fn. 1), 73 f. |
↑4 | Liebscher/Pietrzyk/Lagodinsky/Steinitz, NJOZ 2020, 897 f. |
↑5 | So Möllers, Rechtsgutachten (Fn. 1), 30. |
↑6 | Etwa Salzborn, Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne, 2010. |
↑7 | Holz, Die Figur des Dritten in der nationalen Ordnung der Welt, Soziale Systeme 6 (2) 2000, 270. |
↑8 | Rensmann, Kritische Theorie über den Antisemitismus, 1999 und Salzborn, Leitidee (Fn. 4), 322 f. |
↑9 | Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 2002 [1969], 177. |
↑10 | Horkheimer/Adorno (Fn. 7), Dialektik, 177 (Einfügung durch Verfasser). |
↑11 | Postone, Die Logik des Antisemitismus, Merkur 36 (403) 1982, 13–25. |
↑12 | Postone (Fn. 9), Logik, 14 f. und Salzborn, Antisemitismustheorien, 2022, 22. |
↑13 | Siehe zum Folgenden Düring/Luft, Justitias Blinder Fleck: Antisemitismus, Adorno und das AGG, in: Neuhann/Wirsing, Kritische Theorien des Rechts, Beihefte des ARSP, 2023 (i.E.). |
↑14 | Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, 2014, 77 ff. |
↑15 | Vgl. Liebscher et al, NJOZ (Fn. 2), 898. |
↑16 | Vgl. Völzmann, AöR 2018, 251, 258–260 und den Verweis bei Möllers, Rechtsgutachten (Fn. 2), 32. |
↑17 | S. dazu im Kontext krasser sexistischer Objektifizierungen Völzmann, AöR 2018, 251, 260. |
↑18 | Vgl. etwa Scherschel, Rassismus als flexible symbolische Ressource, 2006, 227 ff. |
↑19 | Hierzu Lagodinsky, Kontexte des Antisemitismus, 2013, 91 ff. |
↑20 | Möllers, Rechtsgutachten (Fn. 2), 49. |
Vielen Dank an die Autoren für diesen spannenden Beitrag. Zu folgender Passage stellte sich mir eine Frage: “Nun fallen die ominösen „Juden“ aber gleichzeitig durch das dogmatische Raster, weil sie als abstrakte Entität(en) überhaupt keine subjektiven Rechte haben können. ”
Sind denn subjektive Rechte (resp. deren Verletzung) überhaupt notwendig, damit eine adäquate Rechtsreaktion auf Antisemitismus getroffen werden kann? Kann (resp. muss) der Staat nicht auch gegen “abstrakten” Antisemitismus in vollem Umfang vorgehen, soweit das Recht das erlaubt? Können die relevanten Straf- und Verwaltungsrechtsnormen nicht bereits in diesen “abstrakten” Konstellationen eingesetzt werden?
MLG