Dobrindts Rechtsbruch
Warum die aktuellen Kontrollen an den deutschen Binnengrenzen rechtswidrig sind
Der neue Innenminister Alexander Dobrindt hat am 7. Mai 2025 die Bundespolizei angewiesen auch Schutzsuchenden bei Binnengrenzkontrollen die Einreise basierend auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG zu verweigern (und diese in den jeweiligen angrenzenden Staat zurückzuweisen). Damit sind die bei Schutzsuchenden verpflichtend durchzuführenden Dublin-Verfahren für diese Personengruppe faktisch ausgesetzt. Davon ausgenommen sind nur „erkennbar vulnerable Personen“, die „weiterhin an die zuständigen Stellen oder Erstaufnahmeeinrichtung weitergeleitet werden.“ Diese Aussetzung des Dublin-Verfahrens an den deutschen Binnengrenzen ist evident rechtswidrig – also ein klarer Rechtsbruch.
Kein eigenständiger Anwendungsbereich für Art. 72 AEUV
Das wäre selbst dann der Fall, wenn sich die Bundesregierung auf eine Ausnahme von der Beachtung des EU-Rechts gemäß Art. 72 AEUV aufgrund einer Notlage stützen wollen würde, denn die Voraussetzungen für die Annahme eines eigenständigen Anwendungsbereichs von Art. 72 AEUV sind im Bereich von Grenzkontrollen offensichtlich nicht erfüllt. Art. 72 AEUV regelt nämlich nicht eine Ausnahme vom Sekundärrecht, sondern enthält die Aussage, dass die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Wahrung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit durch die Unionsgesetzgebung nicht ausgehebelt werden. Der EuGH hat in diesem Kontext entschieden, dass in einer Situation, in der der Unionsgesetzgeber der „Wahrnehmung der Zuständigkeiten, über die die Mitgliedstaaten nach Art. 72 AEUV verfügen, [durch entsprechende Normen, die diese Zuständigkeiten in den Blick nehmen,] gebührend Rechnung getragen hat“, Art. 72 AEUV keinen eigenen Anwendungsbereich hat (EuGH, Urteil im Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn, Rn. 212 ff., 221). Art. 72 AEUV kann daher im Bereich der Dublin-Verordnung oder der Binnengrenzkontrollen schon deshalb nicht zur Anwendung kommen, da beide Regelungsbereiche, die Zuständigkeiten für Notlagen in den Blick genommen haben und abschließend regeln (durch Art. 33 Dublin-Verordnung und Art. 25 ff. SGK).
Im Folgenden sollen die rechtlichen Argumente beleuchtet werden, die aktuell zur Rechtfertigung von Einreiseverweigerungen (nicht nur für Schutzsuchende) an den deutschen Binnengrenzen herangezogen werden. Um es gleich zu sagen: Wirklich kompliziert ist das nur, wenn es darum geht, den Rechtsbruch, der spätestens durch die der Einreiseverweigerung folgenden Zurückweisungen oder Zurückschiebungen geschieht, zu rechtfertigen – denn mit anerkannten juristischen Methoden ist dies schlicht nicht möglich.
Diskursive Verwirrung
Wie verworren die Diskussion inzwischen ist, kann politisch etwa daran beobachtet werden, dass der Bundeskanzler, der Innenminister und die Bundespolizei unterschiedliche Rechtfertigungsstränge für den Rechtsbruch bedienen. Während der Bundeskanzler sagt, es sei europarechtskonform, was an den Binnengrenzen passiert und zum Vergleich auf die Kontrollen bei Sportgroßereignissen hinweist und damit auf den Schengener Grenzkodex und dessen Regelungen zur Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen rekurriert, geht der Innenminister einen anderen Weg. In seiner Weisung wird § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG genannt, womit die Anwendung der Dublin-Verordnung (unter explizitem medialem Verweis auf Art. 72 AEUV) partiell ausgesetzt wäre. Die Bundespolizei hingegen bezieht sich auf Abkommen mit den jeweiligen Nachbarstaaten und damit auf die Ausnahme vom Erlass einer Rückkehrentscheidung nach Art. 6 Abs. 3 Rückführungsrichtlinie (RRL). Diese Ausnahme greift, wenn ein anderer Mitgliedstaat die Person „aufgrund von zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie geltenden bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen“ wieder aufnimmt.
Da alle drei Begründungsstränge nicht miteinander kombinierbar sind, ist es auch angezeigt, diese separat zu betrachten. Allen drei Argumentationen liegt die Annahme zugrunde, dass die aktuellen Grenzkontrollen rechtmäßig sind und dass die deutschen Behörden aktuell in einem rechtlich relevanten Sinne überfordert sind. Daher werden diese beiden Fragen zuerst behandelt.
Aktuell rechtswidrige Grenzkontrollen
Die Frage, wann Grenzkontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raumes rechtmäßig wieder eingeführt werden können, ist grundlegend im Schengener Grenzkodex (SGK) in Art. 25 geregelt. Dieser erfordert eine Notlage zur Wiedereinführung (und Aufrechterhaltung) der Binnengrenzkontrollen. Binnengrenzkontrollen dürfen nämlich nur wieder eingeführt werden, wenn „die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht“ sind. Es muss also eine Notlage herrschen und es müssen vorher alternative, weniger einschneidende Maßnahmen geprüft werden (Art. 26 SGK). Zusätzlich ist erforderlich, dass „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen. Angesichts dieser Vorgaben ist es kein Wunder, dass Luxemburg bereits nach der erneuten Einführung der Binnengrenzkontrollen an den deutschen West- und Nordgrenzen im September 2024 ein Konsultationsverfahren (nach Art. 27a SGK) verlangt hat, weil die dortige Regierung (völlig zu Recht) an der Notwendigkeit der Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Luxemburg zweifelt. In diesem Verfahren hat die Kommission im Schengen-Statusbericht 2025 (Annex I, Punkt 4) eine begründete Stellungnahme angekündigt, die angesichts der Rechtsprechung des EuGH nur gegen die Rechtmäßigkeit der aktuellen Binnengrenzkontrollen ausfallen kann.
Hier ist zu hoffen, dass die Kommission ihre Rolle ernst nimmt und feststellt, dass die Kontrollen rechtswidrig sind. Der EuGH hat nämlich bereits in einer vergleichbaren Situation für die Binnengrenzkontrollen zwischen Österreich und Slowenien deren Rechtswidrigkeit festgestellt und festgehalten, dass Art. 72 AEUV weder „dahin ausgelegt werden kann, dass er die Mitgliedstaaten ermächtigt, durch bloße Berufung auf ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit von den Bestimmungen des Unionsrechts abzuweichen“ (Rn. 86) noch eine Abweichung von Art. 25 SGK rechtfertigen kann (Rn. 90). Die Binnengrenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) erst im März 2025 für rechtswidrig gehalten.
Wichtig zu erwähnen ist noch, dass sowohl der EuGH als auch der BayVGH die auf rechtswidrige Grenzkontrollen gestützten Maßnahmen ebenfalls für rechtswidrig erklärt haben. Der EuGH hat dabei deutlich gemacht, dass „eine Sanktionsregelung nicht mit den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex vereinbar ist, wenn sie auferlegt wird, um die Einhaltung einer Pflicht zur Duldung einer Kontrolle sicherzustellen, die ihrerseits nicht im Einklang mit diesen Bestimmungen steht“ (Rn. 97). Damit ist genereller gesagt, dass Maßnahmen, die auf rechtswidrige Grenzkontrollen gestützt sind (also auch Zurückweisungen und Zurückschiebungen), rechtswidrig sind.
Damit wäre die Bewertung der Weisung rechtlich eigentlich zu Ende, da schon die Grundlage für Zurückweisungen und Zurückschiebungen fehlt. Da es aber in Deutschland einen sehr weitgehenden medial-politischen Konsens zu geben scheint, dass die aktuellen Grenzkontrollen rechtmäßig sind (was die Nachbarstaaten explizit anders sehen), sollen im Folgenden auch die weiteren rechtlichen Fragen thematisiert werden. Hierzu sei unterstellt – nur als hypothetische Grundlage für die weitere Analyse, nicht als eigener Befund –, dass die aktuellen Binnengrenzkontrollen an den deutschen Grenzen rechtmäßig sind.
Keine rechtlich relevante Überforderung der Behörden
Das zentrale Argument für die aktuelle Verschärfung der Grenzkontrollen ist die Überforderung der deutschen Behörden. Eine behördliche Überforderungssituation kann grundsätzlich nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Bst. c SGK ein Grund für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen sein. Dies allerdings nur in einer außergewöhnlichen Situation und nicht aufgrund einer systemisch angelegten Überlastung der Behörden. Die Norm setzt nämlich voraus, „dass plötzlich eine sehr hohe Zahl unerlaubter Migrationsbewegungen von Drittstaatsangehörigen zwischen den Mitgliedstaaten stattfindet, wodurch die Ressourcen und Kapazitäten der gut vorbereiteten zuständigen Behörden insgesamt erheblich unter Druck geraten“. Davon kann angesichts der zurückgehenden Antragszahlen keine Rede sein.
Um rechtlich relevant zu sein, darf die Überforderung der Behörden zudem nicht vorhersehbar gewesen sein. Die seit Jahren dringenden Appelle der Bundesländer (unter anderem durch Beschlüsse der IMK und der MPK) an die Bundesregierung, der Überforderung der Landesbehörden entgegenzuwirken, zeigen, dass die deutschen Behörden eben nicht gut vorbereitet in einem europarechtlichen Sinne sind.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der EuGH in einem Urteil vom 8. Mai 2025 (also am Tag nach der Weisung des Innenministers) die Argumentation mit hohen Zugangszahlen zur Rechtfertigung der Anwendung von Ausnahmebestimmungen bei Behördenüberlastung für europarechtlich nicht zulässig erklärte. Das Urteil Zimir betraf die Dauer von Asylprüfverfahren. Regulär ist ein Asylverfahren innerhalb von sechs Monaten durchzuführen (Art. 31 Abs. 3 der Asylverfahrensrichtlinie). Diese Frist zu verlängern (in dem Fall: um neun Monate), ist nach Ansicht des EuGH an hohe Voraussetzungen geknüpft (Rn. 55 f.). Eine solche Verlängerung kommt gem. Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 Bst. b AsylverfRL nur in Frage, wenn die Situation „nicht auf andere Umstände als die große Anzahl gleichzeitig gestellter Anträge zurückzuführen “ ist. Insbesondere „das vorherige Vorliegen einer großen Menge nicht bearbeiteter Anträge oder die unzureichende Zahl an Personal der Asylbehörde“, sind keine Argumente, die eine Fristverlängerung rechtfertigen.
Ist „die Zahl dieser Anträge über einen langen Zeitraum beständig hoch, ist es gemäß Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie Sache des Mitgliedstaats, die Asylbehörde angemessen auszustatten, um für sie eine ausreichende Bearbeitungskapazität zu gewährleisten.“ Dasselbe gilt selbstverständlich für die Ausstattung der Behörden, die für die Aufnahme von Asylsuchenden zuständig sind. Die deutschen Behörden sind daher nicht in europarechtlich relevanter Weise überfordert, da das Problem hausgemacht und deren mangelhafter Ausstattung geschuldet ist.
Zusätzlich wäre es in diesem Bereich erforderlich, dass durch die Überforderung eines Mitgliedstaats „das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt wahrscheinlich gefährdet ist, wobei diese Situation durch Informationsanalysen und alle verfügbaren Daten, auch von betreffenden Agenturen der Union, belegt wird.“ Diese europäische Dimension fehlt der aktuellen nationalen Diskussion um Grenzkontrollen vollständig. Aus europäischer Sicht ist dem Schengen-Raum nicht geholfen, wenn ein Land seine (angebliche) Überforderung auf den anderen Mitgliedstaaten ablädt, wie dies verschiedene Mitgliedstaaten (insbesondere Ungarn, Griechenland und Italien) aktuell und teilweise schon seit langer Zeit tun.
Keine unilateralen Zurückweisungen auf Basis des Schengener Grenzkodex
Der SGK enthält keine Norm, die es bei wiedereingeführten Grenzkontrollen erlaubt, Personen an der jeweiligen Grenze direkt zurückzuweisen oder zurückzuschieben. Vielmehr hat der EuGH im Urteil ADDE u.a. für die Grenzkontrollen zwischen Italien und Frankreich klargestellt, dass im Fall einer Einreiseverweigerung an einer kontrollierten Binnengrenze trotzdem ein Rückkehrverfahren nach der Rückführungsrichtlinie durchzuführen ist. Der EuGH stellt in diesem Verfahren klar, dass eine Einreiseverweigerung nur an einer benannten Grenzübergangsstelle ausgesprochen werden darf (Rn. 39). Solche Grenzübergangsstellen hat Deutschland aber bisher nicht benannt. Zudem müssen die Verfahrensrechte der Person nach der Rückführungsrichtlinie gewahrt werden, auch wenn dieser Umstand einer Einreiseverweigerung, die gegenüber einer drittstaatsangehörigen Person ausgesprochen wird, die „an einer der Binnengrenzen dieses Mitgliedstaats einreisen will […], einen Großteil ihrer Wirksamkeit nehmen kann“ (Rn. 40). Der EuGH ist sich also bewusst, dass die Notwendigkeit eines förmlichen Verfahrens die Wirkung von Binnengrenzkontrollen auf die Migrationskontrolle beschränkt (z.B. zur Registrierung) und direkte Zurückweisungen ausschließt.
Sind keine Grenzübergangstellen benannt, ist die Einreiseverweigerung und die Zurückweisung oder Zurückschiebung nicht vorgesehen. Mobile Grenzübergangsstellen sieht der SGK nicht vor.
Die einzige Möglichkeit einer Zurückschiebung im Schengener Grenzkodex, die nicht ein Verfahren nach der Rückführungsrichtlinie voraussetzt, findet sich in Art. 23a SGK, der – als Vorstufe zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen, vgl. Art. Art. 26 Abs. 1 Bst. a Ziff. ii SGK – zur Anwendung kommen kann, wenn gemeinsame „Kontrollen unter Beteiligung der zuständigen Behörden beider Mitgliedstaaten im Rahmen der bilateralen Zusammenarbeit“ (sog. Schleierfahndung) stattfinden. In einer solchen Situation sind Überstellungen in den angrenzenden Staat möglich, „sofern die Mitgliedstaaten vereinbart haben, im Rahmen dieser bilateralen Zusammenarbeit ein solches Verfahren anzuwenden“. Es ist also eine explizite Zustimmung des angrenzenden Staates und eine (neu) vereinbarte diesbezügliche Zusammenarbeit erforderlich.
Auch im Rahmen dieses Verfahrens ist aber eine Überstellung von Asylsuchenden und schutzberechtigten Personen ausgeschlossen, wie Art. 23a Abs. 31 UAbs. 2 SGK klarstellt.
Gestützt auf den Schengener Grenzkodex allein können somit keine Zurückweisungen gerechtfertigt werden und Überstellungen kann es nur im Rahmen einer vereinbarten Zusammenarbeit geben. Der SGK eignet sich also nicht als Argument für die aktuelle Zurückweisungspraxis.
Aussetzung der Dublin-Verordnung
Eine europarechtliche Möglichkeit, einen kompletten Rechtsakt als Mitgliedstaat zu suspendieren, gibt es nicht. Zudem würde die teilweise propagierte Nichtigkeit wegen Nichtfunktionierens des Systems auch erfordern, dass gar keine Dublin-Verfahren mehr durchgeführt werden, was aktuell nicht der Fall ist.
Damit ist es nicht möglich, sich einfach auf die in § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG vorgesehene Einreiseverweigerungsmöglichkeit zu berufen, da für das Dublin-System § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG vorsieht, dass Personen, für deren Asylverfahren Deutschland zuständig ist, die Einreise gestattet wird. Es ist also auch nach dem AsylG eine Zuständigkeitsprüfung an der Grenze vorgesehen, um entscheiden zu können, ob die Einreise zu gestatten ist. Eine direkte Zurückweisung ohne Zuständigkeitsprüfung ist auch nach dem AsylG nicht rechtmäßig. Rechtlich kann die Weisung des Innenministers dementsprechend auch bei suspendierten Dublin-Verfahren nicht für alle Asylsuchenden greifen, ohne vorgängig § 18 Abs. 4 AsylG zu ändern.
Der Teil der Weisung, mit dem erkennbar vulnerable Personen von den Zurückweisungen ausgenommen werden sollen, kann als Weisung, „aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ die Einreise zu gestatten (§ 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG), angesehen werden. Damit ist die Anwendung der sog. Fiktion der Nichteinreise auf diese Personen rechtlich ausgeschlossen, da ihnen die Einreise zu gestatten ist.
Im unionsrechtlichen Kontext ist die Weisung wohl am ehesten so zu interpretieren, dass Deutschland (unter Berufung auf eine Notlage gem. Art. 72 AEUV) Art. 3 Abs. 1 Dublin-Verordnung partiell ausgesetzt hat. Dieser lautet:
„Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.“
Das bedeutet, dass für jede Person, die gegenüber deutschen Behörden auf deutschem Staatsgebiet ein Asylgesuch äußert, ein Verfahren durchzuführen ist, in dem zunächst die Zuständigkeit bestimmt wird. Daran schließt sich entweder ein Übernahmeverfahren mit dem zuständigen Staat an („Dublin-Verfahren“) oder – wenn Deutschland zuständig ist oder wird – die Prüfung, ob die Person Schutz benötigt.
Eine Abweichung von Art. 3 Abs. 1 Dublin-Verordnung ist nach der Rechtsprechung des EuGH ausgeschlossen. In seinem Urteil Jafari aus dem Jahr 2017 hat sich der EuGH mit der Situation an den Grenzen im Jahr 2015 beschäftigt. Der Gerichtshof stellt klar, dass „Art. 3 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung die Anwendung des in der Verordnung festgelegten Verfahrens auf jeden von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gestellten Antrag auf internationalen Schutz“ vorsieht, „ohne davon Anträge auszunehmen, die in einer durch die Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger gekennzeichneten Situation gestellt werden“ (Rn. 96).
Dazu führt der Gerichtshof aus, dass die Verordnung mit Art. 33 Dublin-Verordnung eine Norm beinhalte, die für Krisensituationen geschaffen wurde. Mit dieser Norm sei der Situation der „Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger“ Rechnung getragen und es würden den Mitgliedstaaten aufgrund dessen entsprechende Instrumente zur Verfügung gestellt. Diese Instrumente, die es ermöglichen sollen, der Situation „angemessen zu begegnen“, sehen keine Möglichkeit von der Anwendung der Verordnung abzuweichen vor (Rn. 93 ff.).
Eine Abweichung von den Normen der Dublin-Verordnung hat der EuGH auch in seinem Urteil Tudmur zu der von Italien im Jahr 2022 erklärten (und regelmäßig verlängerten) Notlage, mit der die italienische Regierung die Verweigerung der Rückübernahme im Rahmen von Dublin-Verfahren begründet, ausgeschlossen. Der Gerichtshof stellt klar, dass eine einseitige Aufkündigung der Verpflichtungen aus der Dublin-Verordnung rechtlich nicht in Frage kommt. Ein Mitgliedstaat könne sich „nicht durch eine bloße einseitige Ankündigung seinen Pflichten nach dieser Verordnung entziehen, da eine solche Möglichkeit dazu führen würde“, dass „das ordnungsgemäße Funktionieren des durch diese Verordnung geschaffenen Systems“ gefährdet würde (Rn. 42).
Verfahren nach der Rückführungsrichtlinie
Gemäß Art. 6 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie (RRL) „erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.“ Eine solche Entscheidung ist auch bei wiedereingeführten Grenzkontrollen notwendig, wie der EuGH betont hat (siehe oben).
Keine Zurückweisungen von Asylsuchenden
Voraussetzung für eine Rückkehrentscheidung ist daher ein illegaler Aufenthalt. Durch das Äußern eines Asylgesuches wird gemäß Art. 9 Abs. 1 AsylverfahrensRL aus dem illegalen Aufenthalt (mindestens) für die Dauer des Asylverfahrens ein legaler Aufenthalt und die Rückführungsrichtlinie ist nicht mehr anwendbar. Dies hat der EuGH etwa für Verfahren klargestellt, in denen eine Person basierend auf der Rückführungsrichtlinie in Abschiebungshaft genommen werden sollte (EuGH, Urteil VL, Rn. 99). Der Gerichtshof hat diesbezüglich in einem weiteren Urteil grundsätzlich klargestellt, dass „der betreffende Kläger ab dem Zeitpunkt, zu dem er seinen neuen Asylantrag gestellt hat, erneut als Person, die internationalen Schutz beantragt und in den Anwendungsbereich der Richtlinien 2013/32 und 2013/33 fällt, angesehen werden“ muss und die Rückführungsrichtlinie in solchen Fällen nicht zur Anwendung kommt (Rn. 213). Eine Zurückweisung von Asylsuchenden auf der Basis der Rückführungsrichtlinie kommt also nicht in Frage.
Keine unilaterale Zurückweisung illegal aufhältiger Personen
Wie oben dargelegt, dürfen Personen an Binnengrenzen generell nach der Rechtsprechung des EuGH nur im Rahmen bilateraler Vereinbarungen und unter Wahrung der Verfahrensrechte nach der Rückführungsrichtlinie zurückgewiesen werden.
Art. 6 Abs. 3 RRL regelt:
„Die Mitgliedstaaten können davon absehen, eine Rückkehrentscheidung gegen illegal in ihrem Gebiet aufhältige Drittstaatsangehörige zu erlassen, wenn diese Personen von einem anderen Mitgliedstaat aufgrund von zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie geltenden bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen wieder aufgenommen wird. In einem solchen Fall wendet der Mitgliedstaat, der die betreffenden Drittstaatsangehörigen wieder aufgenommen hat, Absatz 1 an.“
Das bedeutet, dass im Rahmen eines formalen Verfahrens eine Rückkehrentscheidung nach der Richtlinie (die die Beendigung des Aufenthalts im Schengen-Raum zum Ziel hat) unterbleiben kann, wenn der angrenzende Staat die Person wieder aufnimmt. Dies ist grundsätzlich nur im Rahmen eines bilateralen Rückübernahmeabkommens möglich. Solche Abkommen hat Deutschland mit allen Nachbarstaaten. Diese ermöglichen allerdings keine unilaterale Zurückweisung oder Zurückschiebung, sondern erfordern die Kooperation des angrenzenden Staates. Damit kann auch die sog. Fiktion der Nichteinreise, jedenfalls nicht in der Weise, wie dies in der Weisung angesprochen ist, zur Anwendung kommen. Der EuGH stellt diesbezüglich klar, dass die Einreise an den Binnengrenzen des Schengen-Raumes durch das Überschreiten oder Überfahren der Grenzlinie erfolgt (vgl. EuGH, Urteil ADDE, Rn. 31 ff.) und daher auch bei Aussprechen einer Einreiseverweigerung ein formelles Rückübernahmeverfahren notwendig ist. Diese Feststellung war auch unabhängig von der Existenz eines Rückübernahmeabkommens, da es ein solches auch zwischen Frankreich und Italien gibt, und die Entscheidung sich mit den Ausnahmen von Rückkehrverfahren beschäftigt hat. Der EuGH hat damit eine zusätzliche Absicherung gegen nicht unmittelbar überprüfbare Sofortmaßnahmen geschaffen, die bisher in der Praxis geflissentlich übergangen wurde.
Insoweit waren schon die bisher durchgeführten Zurückweisungen und Zurückschiebungen wohl in weiten Teilen rechtswidrig, weil diese meist nicht in einem formalen Verfahren erfolgt sind, wie etwa im Schengen-Statusbericht 2024 nachzulesen ist (Anhang 3, Punkt 1.2).
Fazit
Die Weisung des Innenministers und die aktuelle Praxis der Zurückweisungen an den deutschen Binnengrenzen sind evident rechtswidrig. Es ist unter keinem europarechtlichen Gesichtspunkt denkbar, dass diese Weisung und die sich anschließende Praxis gestützt auf Art. 72 AEUV gerechtfertigt werden könnte.
Der EuGH hat die Anwendung von Art. 72 AEUV im Dublin-Bereich ausgeschlossen. Der Bedeutungsgehalt von Art. 72 AEUV ist im Schengen-Bereich bereits durch Art. 25 SGK umgesetzt. Eine darüberhinausgehende Anwendung von Art. 72 AEUV ist auch in einer Notlage nicht denkbar, da bereits die Wiedereinführung und Aufrechterhaltung der Grenzkontrollen eine Notlage voraussetzt.
Will man nicht, wie dies teilweise anklingt, den Vorrang des Europarechts (Art. 23 GG), das individuelle Asylrecht (Art. 16a GG) oder das Refoulement-Verbot (bspw. aus Art. 3 EMRK und Art. 33 Abs. 1 GFK) komplett zugunsten des Primats des Politik aushebeln und damit nach eigenem Gutdünken Recht brechen, wäre nicht nur eine Rücknahme der aktuellen Verschärfungen der Zurückweisungspraxis, sondern auch eine Aufhebung der Grenzkontrollen an den deutschen Binnengrenzen erforderlich, um den andauernden evidenten Rechtsbruch zu beenden.
Notwendig wäre in der gesamten Diskussion ein gesamteuropäischer Blick, der auch das Unionsrecht stark macht. Der EuGH hat diese Perspektive in seinem Urteil zur Grenze zwischen Spanien und Frankreich (Arib) von den Mitgliedstaaten eingefordert und festgehalten, „dass, wie sich aus diesem Kodex ergibt, eine Binnengrenze, an der nach Art. 25 des Kodex von einem Mitgliedstaat Kontrollen wiedereingeführt worden sind, nicht mit einer Außengrenze im Sinne dieses Kodex gleichbedeutend ist“ (Rn. 61). Der Gerichtshof weist darauf hin, dass für den Schengen-Raum als Ganzes nichts gewonnen ist, wenn sich eine illegal aufhältige Person auf dem spanischen Territorium befindet statt auf dem französischen. Ein solcher europäischer Blick würde der deutschen Debatte sehr guttun. Dieser Blick nach Europa ist aber nach einem kurzen Aufflackern in den Berichten über die unmittelbaren Reaktionen der Nachbarländer auf die innenministerielle Weisung bereits medial-politisch wieder nahezu vollständig unsichtbar. Für den Schengen-Raum ist das eine schlechte Nachricht und für die Rechtsstaatlichkeit in Deutschland ebenfalls. Da die europäische Einbindung eine (wenn nicht sogar: die) zentrale Säule der Nachkriegsordnung ist, stellt sich die Frage, was daraus folgt, dass (nicht nur) Deutschland bereit ist, diese Errungenschaft auf dem Altar der populistischen Krisenkommunikation zu opfern, um der Bevölkerung Sicherheit und Kontrolle zu suggerieren.
Um Handlungsfähigkeit und Kontrolle zu signalisieren, gäbe es viele gute und richtige Wege. Als erster Schritt wäre angezeigt, wie dies etwa der Sachverständigenrat für Integration und Migration in seinem aktuellen Jahresgutachten fordert, die Krisenkommunikation und hyperaktive Gesetzgebung zu beenden. Dies würde den Behörden die Möglichkeit geben, sinnvolle Maßnahmen zu entwickeln und ein System aufzubauen, das nachhaltig und verlässlich funktioniert.