Zwischen Komplexität und Klarheit
Komplexes Wahlrecht scheitert nicht am Gebot der Normenklarheit
Am vergangenen Mittwoch verkündete der Zweite Senat des BVerfG sein Urteil zur „kleinen“ Wahlrechtsreform aus dem Jahre 2020. In der mündlichen Verhandlung im April wurde die Frage aufgeworfen, wie verständlich das Wahlrecht sein muss. Nun folgt die Antwort: Wenn es nach der Senatsmehrheit geht, braucht der Wähler wohl nur die Wahlhandlung, nicht aber die Ergebnisermittlung zu verstehen. Damit bleibt die „kleine Revolution“ im Wahlrecht zwar vorerst aus, doch das energisch widersprechende Sondervotum dürfte die wissenschaftliche Diskussion befeuern.
Uneinigkeit im Zweiten Senat
Gegenstand des Verfahrens war die Änderung des Bundeswahlgesetzes 2020. Mit dieser wurde insbesondere das Sitzzuteilungsverfahren für die Wahlen zum Deutschen Bundestag insofern neu geregelt, als bis zu drei Überhangmandate unausgeglichen bleiben und Direktmandate mit Listenmandaten in einem gewissen Umfang länderübergreifend verrechnet werden. Die Abgeordneten der damaligen Opposition aus Grünen, Linken und FDP stimmten gegen den von der Großen Koalition eingebrachten Gesetzentwurf und strengten daraufhin ein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle beim BVerfG an. Der Zweite Senat des BVerfG lehnte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 20. Juli 2021 ab (BVerfGE 159, 40), verhandelte am 18. April 2023 in der Hauptsache und verkündete schließlich am 29. November 2023 sein Urteil (Az. 2 BvF 1/21).
Die Entscheidung, mit der die „kleine“ Wahlrechtsreform für verfassungsmäßig erklärt wurde, erging mit fünf zu drei Stimmen (Urteil Rn. 239). Zur dissentierenden Minderheit gehörte nicht nur die Senatsvorsitzende und Vizepräsidentin Doris König, sondern auch der für das Wahlrecht zuständige Berichterstatter Peter Müller, der das 47 Randnummern umfassende Sondervotum mit viel Verve vortrug.
Bestimmtheit und Klarheit als dogmatisch „einheitliches Postulat“
Zunächst beginnt das BVerfG damit, das dogmatische Verhältnis zwischen der im Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG gründenden Bestimmtheit und Klarheit der Gesetze zu ermitteln. Der Zweite Senat versteht das Gebot hinreichender Bestimmtheit und Klarheit der Gesetze als „einheitliches Postulat“, das zwar verschiedene Aspekte in sich vereine, im Maßstab aber einheitlich zu bestimmen sei (Urteil Ls. 1, Rn. 81). Damit weicht er von der Rechtsprechung des Ersten Senats ab, der ausdrücklich zwischen dem Gebot der Bestimmtheit und dem Gebot der Normenklarheit differenziert, indem ersteres den Rechtsanwender und letzteres den Normbetroffenen adressiert (BVerfGE 156, 11 [45 f. Rn. 86 ff.]; BVerfGE 162, 1 [125 Rn. 272]). Die Senatsmehrheit bestreitet jedoch die Übertragbarkeit dieser Unterscheidung, weil es im Wahlrecht nicht um heimliche Grundrechtseingriffe gehe, aufgrund derer der Erste Senat die Differenzierung vorgenommen habe. Nicht völlig ausgeschlossen war es, zur dogmatischen Klärung das Plenum gem. § 16 BVerfGG anzurufen. Dagegen spricht jedoch, dass selbst die Senatsminderheit das genaue Verhältnis dahinstehen lässt (Sondervotum Rn. 3), sodass die für eine Plenumsentscheidung erforderliche Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage bezweifelt werden dürfte.
Senatsmehrheit sieht kein besonderes Gebot der Normenklarheit im Wahlrecht
Herzstück des Sondervotums ist die Frage, ob das Wahlrecht ein besonderes Gebot der Normenklarheit fordert: Die Senatsminderheit leitet aus der Freiheit und der Öffentlichkeit der Wahl, dem Demokratieprinzip insgesamt sowie besonders dessen Ausprägung als Recht auf demokratische Selbstbestimmung ab, dass Regelungen des Wahlrechts höheren Anforderungen mit Blick auf die Klarheit der Norm genügen müssen. Erforderlich sei, dass der Bürger ohne weitere Hilfe oder Expertise Dritter – die für die Normenklarheit abseits des Wahlrechts auch weiterhin ausreichen soll (Sondervotum Rn. 21) – durch bloße Lektüre der wahlrechtlichen Bestimmungen in der Lage sei zu erkennen, wie sich seine Stimme auf das Ergebnis der Wahl auswirke, um seine Wahlentscheidung dementsprechend zu treffen. Insofern komme es auf die Verständlichkeit der wesentlichen Regelungen für den durchschnittlichen Wahlberechtigten an. Um die Übertragung der staatlichen Gewalt auf konkrete Abgeordnete nachvollziehbar machen zu können, erfordere die Normenklarheit die daraus resultierenden Transparenzanforderungen für alle wesentlichen Schritte des Wahlvorgangs, insbesondere aber für diejenigen Normen, die für die Ausübung des Wahlrechts maßgebend seien (Sondervotum Rn. 6 ff.).
Die Senatsmehrheit hingegen hält besondere Anforderungen für den Bereich des Wahlrechts nicht für erforderlich. Die verfassungskonforme Systementscheidung des Gesetzgebers für das personalisierte Verhältniswahlrecht (dazu BVerfGE 6, 84 [90]; BVerfGE 95, 335 [249 f.]; BVerfGE 121, 266 [296]) bringe eine systemimmanente Komplexität mit sich, die durch weitere Implikationen noch erhöht werde. Das Gebot der Normenklarheit könne diese in Art. 38 Abs. 3 GG eingeräumte Entscheidungsfreiheit nicht einschränken. Der Gesetzgeber sei hieraus nicht dazu verpflichtet, möglichst einfaches Recht zu schaffen, das dementsprechend einfach darstellbar sei. Das Gebot normativer Bestimmtheit und Klarheit könne eine andere (einfachere) Formulierung erforderlich machen, nicht aber eine inhaltlich andere Regelung einfordern (Urteil Rn. 153 f.). Den von der Senatsmehrheit als Maßstab herangezogenen allgemeinen Anforderungen sollen nur Regelungen entgegenstehen, die den eigentlichen Regelungsgehalt verschleiern. Dabei komme es in erster Linie auf den Kreis der Normadressaten an, den die Senatsmehrheit eng zieht und lediglich die rechtsanwendenden Wahlorgane für maßgebend hält. Für das Wahlrecht sei es (nur) erforderlich, dass für den durchschnittlichen Wähler die Umrechnung der Stimmen in konkrete Mandate „in groben Zügen“ erkennbar und verständlich sei. Dafür komme es auch darauf an, dass die Darstellungen und begleitenden Informationen der Wahlorgane zur Verständlichkeit der groben Züge des Wahlverfahrens beitragen (Urteil Rn. 151, 154, 156 f.). Insofern führt die Mehrheitsentscheidung ausdrücklich das Informationsangebot des Bundeswahlleiters an (Urteil Rn. 157).
Die dissentierenden Richter halten dem entgegen, dass das Gebot der Normenklarheit allein den Gesetzgeber unmittelbar verpflichte. Vor diesem Hintergrund könne es der Gesetzgeber nicht dem einzelnen Wähler überantworten, sich selbst zu informieren, um damit den wahlrechtlichen Bestimmungen zur verfassungsrechtlich erforderlichen, hinreichenden Klarheit zu verhelfen (Sondervotum Rn. 17). Das Minderheitenvotum formuliert schließlich auch dogmatische Bedenken mit Blick auf die Mehrheitsentscheidung. Denn die Ausführungen der Entscheidung dahingehend, dass „[d]as Gebot hinreichender Bestimmtheit und Klarheit der Gesetze […] nicht dazu [führt], dass der Gesetzgeber in seinem Spielraum gemäß Art. 38 Abs. 3 GG zur Auswahl des Wahlsystems […] eingeschränkt wäre“ (Urteil Rn. 153), lassen es jedenfalls denkbar erscheinen, dass die Senatsmehrheit das normenhierarchisch gleichrangige Verhältnis der widerstreitenden Verfassungsnormen verkenne (Sondervotum Rn. 19 f.).
Urteil und Sondervotum unterscheiden sich im Abwägungsergebnis
Die Mehrheitsentscheidung lässt – zwar nicht ausdrücklich, aber dennoch erkennbar – den Versuch eines Ausgleichs konfligierender Verfassungswerte durchaus erkennen. Indem die Senatsmehrheit annimmt, dass die Normenklarheit lediglich Anforderungen an die Formulierung des Gesetzes, nicht aber an dessen materiellen Regelungsgehalt stellen könne, wägt sie die Normenklarheit mit der gesetzgeberischen Wahlfreiheit aus Art. 38 Abs. 3 GG ab. Denn der Regelungsauftrag aus Art. 38 Abs. 3 GG ist weit zu verstehen und umfasst notwendigerweise auch die Entscheidung über die konkrete Ausformulierung des Gesetzeswortlauts und die systematische Gestaltung. Indem die Senatsmehrheit also – nur, aber immerhin – mit Blick auf die Formulierung der Norm der Normenklarheit den Vorrang vor der gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit einräumt, wägt sie beide Verfassungsgüter miteinander ab. Insofern sieht sie in Art. 38 Abs. 3 GG gerade kein überkonstitutionelles und damit abwägungsfestes Verfassungsrecht und begeht damit keinen – wie das Sondervotum zumindest nahelegt – dogmatischen Grundlagenfehler.
Der Unterschied zwischen der Senatsmehrheit und der Senatsminderheit liegt allein darin, dass ihre Abwägungsentscheidung im Ergebnis unterschiedlich ausfällt: Für die Senatsmehrheit setzt sich die Normenklarheit nur abseits der inhaltlichen Regelungsfragen durch. Dagegen muss nach der Senatsminderheit das Gestaltungsrecht des Gesetzgebers – nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt – dann hinter den Verfassungswerten zurücktreten, die besondere Anforderungen an die Normenklarheit im Wahlrecht verlangen, wenn ein Wahlsystem derart komplex sei, dass es durch bloße Lektüre der Normen für den Durchschnittswähler nicht nachvollziehbar sei.
Auswege aus dem Konflikt: Präambel oder Informationsangebote?
Sowohl die Senatsmehrheit als auch die Senatsminderheit versuchen, zwischen der Komplexität und der Klarheit des Wahlrechts abzuwägen, ohne jedoch wirklich einen echten Ausgleich zu finden, weil entweder dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers oder der Normenklarheit der Vorrang gewährt wird. Es gäbe jedoch einen Mittelweg: Das BVerfG hätte durchaus die besondere Bedeutung der Normenklarheit für das Wahlrecht herausstellen können, ohne den Gesetzgebungsspielraum zu stark einzuschränken. Sofern die Normen des Sitzzuteilungsverfahrens für die normanwendenden Wahlorgane bestimmbar, für den normbetroffenen Wähler aber zu unverständlich sind, könnte der Gesetzgeber zu einer erklärenden Präambel verpflichtet sein. Entsprechend den in letzter Zeit vielfach angenommen Begründungsanforderungen, die das BVerfG dem Gesetzgeber aufgegeben hat,1) könnte hier eine Darlegungslast des Gesetzgebers dergestalt bestehen, dass er komplexe Wahlrechtsnormen, die sich vorwiegend an die normanwendenden Wahlorgane richten, für den normbetroffenen Wähler in einer Präambel bzw. einem „Allgemeinen Teil“ verständlicher, jedenfalls in den Grundzügen erklärt. In einem „Besonderen Teil“ könnten dann für die normanwendenden Wahlorgane die detaillierten Sitzberechnungsverfahren geregelt werden.
Der Senatsminderheit ist zuzustimmen, dass es die Mehrheitsentscheidung dem Gesetzgeber erlaubt, die ihn treffenden Anforderungen an die Normenklarheit auf den Wähler abzuwälzen und ihm die Heranziehung von Informationen insbesondere des Wahlleiters zuzumuten. Der Wahlleiter muss dieser Aufgabe nachkommen, agiert derzeit aber in einem praktisch rechtsgrundlagenfreien Raum. Will man der Bedeutung von Informationsangeboten Dritter nicht grundsätzlich die Relevanz mit Blick auf die Klarheit einer Norm versagen, ist es möglich, beide Belange miteinander zu verknüpfen: Indem der Gesetzgeber selbst Rechtsgrundlagen für Informationsangebote schafft, erfüllt er den (nur) an ihn gerichteten gesetzgeberischen Auftrag zur Klarheit.
Wahlrechtliche Normen der „kleinen“ Wahlrechtsreform sind auslegbar
Uneins ist der Zweite Senat auch in der Frage, ob die streitgegenständlichen Normen des Wahlrechts noch durch juristische Methoden auslegbar sind. Diesbezüglich halten sowohl die Senatsmehrheit als auch die Senatsminderheit an dieser Grenze für die notwendige Bestimmtheit einer Norm fest (zur bisherigen Rechtsprechung siehe BVerfGE 83, 130 [145]; BVerfGE 117, 71 [111]; BVerfGE 134, 141 [184 f. Rn. 127]; BVerfGE 149, 293 [324 Rn. 78]). Während die Senatsminderheit insbesondere aufgrund von Schwierigkeiten bei der Auslegung von Normverweisen die hinreichende Bestimmtheit verneint, sieht die Senatsmehrheit „bei methodengerechter Auslegung“ (Urteil Rn. 88, 97, 120) keine zu weiten Auslegungsspielräume. Beide Seiten setzen sich zur Begründung ihrer jeweiligen – die Bestimmtheit der Norm stützenden bzw. entgegenstehenden – Auffassung durch ausführliche Auslegung der relevanten Normen auseinander.
Überhangmandate dürfen bewusst in Kauf genommen werden
Unbestritten ist hingegen, dass die bis zu drei nicht ausgeglichenen Überhangmandate sowohl in die Erfolgswertgleichheit der Wahl als auch in die Chancengleichheit der Parteien eingreifen. Fraglich war allein, inwieweit der Eingriff durch die mit der Wahl verfolgten Ziele gerechtfertigt werden kann. Insofern hat der Zweite Senat seine bisherige Rechtsprechung (etwa BVerfGE 131, 316 [365 ff.]) bestätigt, dass die Zielsetzung der personalisierten Verhältniswahl grundsätzlich hinreichend gewichtig ist (Urteil Rn. 175 f.), das Ausmaß der ausgleichlosen Überhangmandate aber auf etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl beschränkt bleiben muss (Urteil Rn. 177). Problematisch war in diesem Fall allein die Erforderlichkeit, weil als milderes Mittel der Ausgleich aller Überhangmandate in Betracht gekommen wäre. Der Vollausgleich ist dem Senat zufolge aber gegenüber der begrenzten Zulassung von ausgleichslosen Überhangmandaten kein ebenso wirksames Mittel, weil damit das Element der Personenwahl relativ geschwächt würde (