23 May 2024

Mythos Wertefundament

75 Jahre Grundgesetz

In einer Gesellschaft, die sich über alles Mögliche mit zunehmender Aggressivität streitet, scheint das Grundgesetz, dessen 75. Geburtstag jetzt allenthalben begangen wird, eine Art letzter Fixpunkt des Konsenses zu sein. Man hält sich an ihm fest und ist dafür dankbar. Dies ist auch deswegen erstaunlich, weil dieses Grundgesetz ja nicht sonderlich weit entfernt vom politischen Streit operiert. Es ist kein viel geliebtes Kulturgut wie die Bilder Caspar David Friedrichs oder die deutsche Nationalmannschaft in ihren besseren Zeiten, sondern das Medium in dem und um das gestritten wird. Tatsächlich gibt es viele Indizien dafür, dass es mit dem Konsens um das Grundgesetz nicht weit her ist.

Einig sind wir uns über wesentliche Elemente des Grundgesetzes nur auf einer semantischen Ebene. Niemand ist gegen die Menschenwürde, was sie bedeutet ist aber durchaus streitig. Dass Menschenrechte und andere Verfassungsgüter Formelkompromisse sind, ist nichts Neues, noch nicht einmal etwas Schlimmes. Nur deswegen war es möglich, dass säkulare Sozialdemokraten und naturrechtliche Christdemokraten dem Grundgesetz zustimmten. Nur so gelang es in der gleichen Epoche, dass die Vereinigten Staaten, China und die Sowjetunion sich auf die UN-Charta einigen konnten. Doch darf man nicht erwarten, dass solche Formeln Ausdruck einer tieferen Übereinstimmung wären. Ob die Menschenwürde uns verpflichtet, Ertrinkende im Mittelmeer zu retten, darüber gibt es keinen Konsens. Und dass die Meinungsfreiheit rassistische, sexistische und antisemitische Äußerungen vor Sanktionen schützt, wird heute eher ungern laut gesagt. Schlimmer noch: Manche sagen es nicht über sexistische, andere nicht über antisemitische Äußerungen, um bestimmte Communities nicht zu verprellen. Inhaltsneutraler Schutz, das Herz der Meinungsfreiheit, funktioniert als Grenze staatlichen Handelns aber nur, wenn diese einigermaßen gesellschaftlich akzeptiert wird.

Nun war die Vorstellung, wir bewegten uns auf einem „gemeinsamen Wertefundament“, immer schon ein Griff in die falsche Metaphernwelt. Verfassungen leben in erster Linie von der Konstitution von Ämtern und der Einrichtung von Verfahren, in denen der Dissens eine Form bekommt. Dass der Bundeskanzler vom Bundestag gewählt wird, ist heute weit weniger umstritten als die Bedeutung der Meinungsfreiheit. Ein politisches System wird von den Teilen getragen, die beweglich sind. Aber wenn dem so ist, muss man gerade am Verfassungstag auch anders über die Verfassung sprechen.

Das zeigt sich auch an der Frage des Verfassungsschutzes. Die Verfassung, die uns schützen soll, ihrerseits zu schützen, ist eine interessante, keineswegs selbstverständliche Idee. Vor allem ist es keine Idee, über die irgendein Konsens herrschen würde. Der Streit über die Anwendung des Parteiverbotsverfahrens oder über die Aufgaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz verläuft keineswegs entlang der Linie von vermeintlichen Verfassungsfeinden und Verfassungsfreunden, sondern klar innerhalb des liberal-demokratischen Lagers, das in dieser Frage eben kein Lager bilden kann. Wiederum ist der Dissens wenig erstaunlich. Die Einsicht, dass das Fundamentale auch das Umstrittene ist, muss sich in solchen Verfahren besonders zuspitzen. Denn in den Institutionen des Verfassungsschutzes liegen die Pflicht zum Schutz der Verfassung und deren schwere Verletzung hautnah beieinander. Selbst wenn eine politische Partei sich klar nicht mehr auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung befindet, reicht das alleine nicht hin, um sie zu verbieten. Wie oft im Rechtsstaat erweisen sich scheinbar klare Linien bei näherer Hinsicht als komplizierte Gebilde. Wenn man das einmal verstanden hätte, könnte mit dem Verschwinden falscher Konsenserwartungen vielleicht etwas von der Zivilität der Auseinandersetzung wiederkehren.

Was aber feiern wir eigentlich, wenn wir das Grundgesetz feiern? Wenn man der konsensbezogenen Lesart folgt, die, wenn ich es recht sehe, die Festartikel dominiert, dann feiern wir die rechtlichen Sicherungen vor einem gefährdeten und potentiell gefährlichen politischen Prozess, namentlich die Grundrechte und das Bundesverfassungsgericht. Das kann man so sehen. Das Bundesverfassungsgericht sollte man feiern, freilich hat es seinen eigenen Geburtstag im Jahre 1951. Symptomatisch erscheint dennoch, dass das Grundgesetz als Rechtsnorm gefeiert wird, nicht der politische Prozess, der mit ihm begründet wurde. Das zeigt sich auch in dem zu wenig Verwunderung erregenden Umstand, dass wir meistens den Geburtstag des Grundgesetzes, nicht den der Bundesrepublik Deutschland feiern, also nicht die politische Gemeinschaft, die das Grundgesetz verfasst hat.

Dagegen ist noch einmal daran zu erinnern, dass das Grundgesetz von Politikerinnen und Politikern geschaffen wurde, um Politik zu ermöglichen. Diese Politikerinnen und Politiker waren keine neutralen Sachwalter eines vernünftigen Wertekanons, sondern sie hatten gegensätzliche politische Überzeugungen, die sie im Grundgesetz verwirklichten. Vom Sozialstaatsprinzip und dem Streikrecht über den Schutz der Bekenntnisschulen und die Beibehaltung der Weimarer Kirchenkompromisses bis zur Bundesstaatlichkeit finden sich zahllose politische Ideologeme im Grundgesetz verwirklicht, nicht zuletzt im Grundrechtsteil. Diese Montage von parteipolitischem Anliegen zu einem stimmigen Text ist eine großartige Leistung. Aus Grundwerten hätte man sie nicht deduzieren können. Diese Verfassung ermöglichte einen hoch erfolgreichen und bemerkenswert stabilen politischen Prozess, der das eigentliche Wunder der Geschichte der Bundesrepublik darstellt. Und dieser politische Prozess ermöglichte es wiederum, rechtliche Absicherungen so zuverlässig auszugestalten. Gerne wird festgestellt, wie wichtig das Verfassungsrecht für die Stabilisierung des politischen Prozesses ist. Aber umgekehrt stimmt es eben auch. Die zentrale Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts ist nicht nur Ursache, sondern ebenso plausibel Ergebnis der Stabilität des politischen Systems der Bundesrepublik. Wenn das demokratische System in die Krise kommt, sind die rechtsstaatlichen Institutionen davon auf vielen Ebenen betroffen. Sie können sich nicht einfach aus dem politischen Kontext nehmen. Dass Politiker, wenn sie über das Grundgesetz sprechen, nicht über Politik sprechen, ist daher kein gutes Zeichen.

Schaut man sich die augenblickliche Bedrohungslage demokratischer Politik an, so geht es mittlerweile um Standards, für die man das Grundgesetz eigentlich gar nicht bräuchte. Wenn sich Bürgerinnen und Bürger, die sich politisch engagieren wollen, Sorgen um ihre körperliche Integrität machen müssen, dann geht es nicht um Werte des Grundgesetzes. Der strafrechtliche Schutz vor physischer Gewalt stellt auch in weniger elaborierten Verfassungsordnungen das institutionelle Minimum dar. Stellt der Staat das nicht bereit, liefert er einen Beitrag zur Zerstörung seiner Ordnung, liegt deren Lebensnerv doch in der Bereitschaft von Bürgerinnen und Bürger, sich politisch – und das heißt in dieser Ordnung maßgeblich parteipolitisch – zu betätigen. Auf der Seite der Bürgerschaft setzt dies doppelte Kompromissfähigkeit voraus: sich auf eine Partei einzulassen und sich als Teil dieser Parteien auf andere Parteien einzulassen, um demokratische Mehrheiten zu organisieren. Der Fluchtpunkt der Kompromisslosigkeit ist dagegen körperliche Gewalt. Die Werte des Grundgesetzes zu bewahren, was immer damit sonst gemeint sein mag, bedeutet heute vor allem, die demokratische Politikfähigkeit der Gesellschaft zu schützen.

 


SUGGESTED CITATION  Möllers, Christoph: Mythos Wertefundament: 75 Jahre Grundgesetz, VerfBlog, 2024/5/23, https://verfassungsblog.de/mythos-wertefundament/, DOI: 10.59704/9422299754bcf2e0.

14 Comments

  1. Rolf-Ulrich Kunze Thu 23 May 2024 at 11:39 - Reply

    In der Tat: das Politische wird in der deutschen politischen Mentalitätszeitgeschichte traditionell gern transponiert, zum Beispiel tiefer in die Ideologie- oder höher in die Werte-Tonart. Und auch die Hinnahmefähigkeit von Dissonanz ist traditionell schwach ausgeprägt: da kann man so schlecht mitsummen. Resonanz ist populärer, nicht nur bei H. Rosa, und Gedenkanlässe müssen wertmelodisch sein, sonst swingt das nicht. Die “demokratische Politikfähigkeit der Gesellschaft” ist jedoch eine Ressource, die nur sehr langfristig z. B. und u. a. in einer kritisch konturierten, historisch-politischen Bildung entstehen und geübt werden kann. Das braucht Zeit, Personal und gute Ausbildung. Bis das wieder greift, könnte die zivilisierte Verfassung vor einer sich in Blasen entzivilisierenden Gesellschaft geschützt werden müssen, was vielleicht auch mit “Werten” begründet werden will: wenns denn der Wahrheitsfindung dient …

    • Gerhard Roos Sun 26 May 2024 at 12:56 - Reply

      Innerhalb der Ampel sind Kompromisse – angesichts der politischen Mixtur – schwer zu finden, das braucht langfristige Prozesse. Scholz scheint das recht geduldig zu moderieren und wird dafür weidlich gescholten. Demokratie ist und bleibt ein Geduldsspiel und nur mit gegenseitiger Achtung zu leben. Alle politischen Schreihälse verschiedenster Färbung scheinen das vergessen zu haben und wiegeln – gut unterstützt durch allerlei Presseprodukte – die weniger politisch geübte Bevölkerung auf. Das ist tatsächlich genau das Gegenteil der Arbeit und Leistung der “Mütter und Väter des Grundgesetzes”.

    • cornelia gliem Mon 27 May 2024 at 14:45 - Reply

      … die Übung der Politikfähigkeit: vielleicht sollte man daher doch endlich den Bürgerräten eine Chance bieten.

  2. Andreas Bartholomäus Sat 25 May 2024 at 01:40 - Reply

    Naja das eigentliche gesellschaftliche Problem ist wohl eher, das bzgl. der Grundrechte eine vernünftige institutionelle Bildung mit demokratischen Charakter völlig fehlt. Wer weiß denn schon das Grundrechte Freiheits-, Schutz- und Abwehrrechte gegen staatlicher o. somit politischer Willkür sind? Das dürfte wohl auf die wenigsten Bürger zutreffen und somit wird das Grundrechtverständnis zu Gunsten einer abstrakter “Vaterstaat” Staatsgläubigkeit ausgetauscht, wo man der Überzeugung ist der Staat bzw. die Politik würde straight die Grundrechte der Bürger vertreten.

    So ist es dann für die Politik ein leichtes das übliche “Teile und Herrsche” Spiel zu spielen und ein verfassungswidriges Hartz4 System (Regelsatzberechnung u. Repressionspraxis – wenn es zuvor keine positive Sanktion erfolgt wozu eine Grundsicherung nicht zählt da Grundrecht, ist die negative Sanktion dann eher ein Instrument der politischen Unterdrückung und somit Repression – laut BVerfG nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren) öffentlich und entgegen der Kritik von Sozialverbänden mittels “Sozialschmarotzer Propaganda” durchzupeitschen (also Arbeiter gegen Arbeitslose aufbringen, wobei es genau so humbug ist das Transferleistungsempfänger dem Steuerzahler auf der Tasche liegen, das solche Transfersalden nach der Ausgabe bzw. dem verbrauchen wieder über die Steuerkanäle zurück zum Staat laufen) und ganz nebenbei wird auch noch die Berufsfreiheit ausgehebelt, weil der Staat sich raus nimmt darüber zu bestimmen was denn nun ein würdiger Beruf ist bzw. dieses schon durch die simple unabhängigkeit von Sozialleistungen gegeben wäre. Dazu sagt das Bundesverfassungsgericht im Mittbestimmungsurteil bzgl. der Berufsfreiheit vom 1. März 1979 :

    „Art. 12 Abs. 1 GG schützt die Freiheit des Bürgers in einem für die moderne arbeitsteilige Gesellschaft besonders wichtigen Bereich: Er gewährleistet dem Einzelnen das Recht, jede Arbeit, für die er sich geeignet glaubt, als ‚Beruf‘ zu ergreifen, d. h. zur Grundlage seiner Lebensführung zu machen. In dieser Deutung reicht Art. 12 Abs. 1 GG weiter als die – von ihm freilich umfasste – Gewerbefreiheit. Darüber hinaus unterscheidet er sich jedoch von ihr durch seinen personalen Grundzug: Der ‚Beruf‘ wird in seiner Beziehung zur Persönlichkeit des Menschen im Ganzen verstanden, die sich erst darin voll ausformt und vollendet, daß der Einzelne sich einer Tätigkeit widmet, die für ihn Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist und durch die er zugleich seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung erbringt. Das Grundrecht gewinnt so Bedeutung für alle sozialen Schichten; die Arbeit als ‚Beruf‘ hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde.“ – BVerfGE 50, 290 (362)

    Da Art. 12 Abs. 1 GG aber in erster Linie ein Abwehrrecht gegen den Staat ist, kann die Berufsfreiheit nicht als ein „soziales Recht“ im Sinne eines Leistungsanspruchs verstanden werden. Insbesondere garantiert Art. 12 Abs. 1 GG kein „Recht auf Arbeit“ und somit im Umkehrschluss ein “Recht auf keine Arbeit”.

    Da ist eine Recht aktuelle Diskussion über die Wiedereinführung von Totalsanktionen und darüber hinaus, die CDU mit ihrer Phantasie von Zwangsarbeit inkl. einer diesbezüglichen Verfassungsänderung (laut Hr. Spahn) doch irgendwie erstaunlich, fragt man sich doch wo denn bitte der Verfassungsschutz bleibt, bei so einer tatsächlich schon gelaufenen und wohlmöglich auch zukünftig verschärften aushebelung des Grundgesetzes? Auf einen diesbezüglichen Bürgerprotest braucht man, aus den oben genannten Grund, jedenfalls auch nicht zum 100. Geburtstag des Grundgesetzes zu hoffen.

    lg Andreas

  3. Oliver Jaster Sun 26 May 2024 at 10:28 - Reply

    “Die Einsicht, dass das Fundamentale auch das Umstrittene ist, muss sich in solchen Verfahren besonders zuspitzen.” Voilà. Mit der Einsicht, dass eine relativistische Gesellschaft sich letztendlich immer zwingend der Frage zu dem einen Absoluten stellen muss? Was auch immer das eine Absolute sei.

    “Der Fluchtpunkt der Kompromisslosigkeit ist dagegen körperliche Gewalt.” Voilà. Der Fluchtpunkt des einen Absoluten ist dagegen die Hoheit über körperliche Gewalt? Was auch immer das eine Absolute sei.

    Zarathustra, aber wohl bei weitem prominenter Jahwe lassen seit Menschengedenken grüßen.

    Aber was bedeutet es nun, die Werte des Grundgesetzes zu bewahren im Zeichen der Lissaboner Verträge und damit unserer Europäischen Idee? Was auch immer das eine Absolute sei.

    Herzliche Grüße

  4. Michael Köhler Sun 26 May 2024 at 11:23 - Reply

    Nach 75 Jahren GG politische Betätigung der Bürger auf Engagement in Parteien zu reduzieren und damit das zivilgesell-schaftliche Engagement nicht zu würdigen, ist wohl mit der juristischen Perspektive zu erklären, die der gesellschaftlichen Entwicklung der vergangenen 75 Jahre nicht gerecht wird – Gerhard Leibholz lässt grüßen. In diesem Kontext ist an Gertrude Lübbe-Wolff zu erinnern, die diese Perspektive in „Demophobie – Muss man die direkte Demokratie fürchten?“ schreibt: „Die grundsätzlichen Vorbehalte, die bis heute gern gegen direkt demokratisches Entscheiden mobilisiert werden, verallgemei-nern häufig Bedenken, die nur in Bezug auf bestimmte Ausgestaltungen direkter Demokratie berechtigt sind. Oft steht, wo solche Vorbehalte geltend gemacht werden, dahinter auch nur die Erwartung, dass direktdemokratisches Entscheiden, we-niger als repräsentativ-demokratisches Entscheiden die eigenen politischen Präferenzen bedienen würde. Und ganz über-wiegend handelt es sich um mitgeschleppte ideologische Rückstände einer Demophobie, die einst von jeder Demokratisie-rung Unheil erwartete. Direktdemokratische Institutionen sind kein Allheilmittel. In der richtigen Ausgestaltung begünstigen sie aber eine stärker an den Interessen der Bürger orientierte Politik, eine Steigerung des Niveaus politische Kommunikation, eine Zunahme von Bürgersinn und Bürgerkompetenz und größeres Vertrauen in die Institutionen und Akteure der repräsenta-tivdemokratischen Politik. Dieses Potenzial ungenutzt zu lassen, war in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie so riskant wie heute.“

  5. Karl-Heinz Breier Sun 26 May 2024 at 14:21 - Reply

    Ja, vielen Dank für die sehr aufschlussreiche Analyse. Unsere äußere Republik der Institutionen muss wirklich getragen werden von unserer inneren Republik, von unserer gewohnheitsgetragenen Verfasstheit! In “Hannah Arendt im Gepäck. Sieben Wege zum Politischen” bin ich auf die Grundlagen unserer Bürgerordnung eingegangen und für mich als politischen Bildner in der Lehramtsausbildung steht politische Bildung als republikorientierte Bürgerbildung im Zentrum.
    Da kann uns Hannah Arendt gut zur Seite stehen.
    Mit besten Grüßen
    Karl-Heinz Breier

  6. lieber anonym Sun 26 May 2024 at 14:42 - Reply

    Ihr kritischer Kommentar erwähnt zwar hier und da die Gesellschaft aus der das Grundgesetz erwuchs, allerdings geht er nicht auf die Zustände der Gesellschaft ein, die zu ihm führten.

    Das Grundgesetz wurde nicht aus heiterem Himmel geschaffen, sondern weil kurz zuvor eine immense Vernichtung von Menschenleben und Gütern stattfand. Dieses mal litten nicht nur die üblichen Verdächtigen aus den ärmeren Bevölkerungskreisen, sondern auch priviligiert Geborene starben und selbst Reiche mussten fürchten ihr Hab und Gut zu verlieren.

    Wie üblich dürfte es primär der Nachwirkung dieser Angst der begüterten Gesellschaftsteile zuzuschreiben sein, dass dem Rest der Gesellschaft Zugeständnisse gemacht wurden die in der vorigen Feudalgesellschaft bzw. während der Industrialisierung geradezu undenkbar waren.

    So interessant und Zustimmungsfähig das Grundgesetz auch sein mag, dieser Übergeordnete Zweck, die Aufstandsvorbeugung, sollte nicht übersehen werden. Immerhin hielt der Schock nach dem zweiten Weltkrieg nicht lange an. So arbeiten Unternehmer über ihre Interessenvertreter in den politischen Parteien und über diverse Pressekonzerne bzw. Lobbyisten nach Kräften daran die Sicherheit der Bevölkerung vor Armut nach Kräften zu unterlaufen um noch mehr Vermögen aus der Gesellschaft heraus zu pressen.

    Ich denke die Zustände in unserer Gesellschaft, sowoh für als auch gegen das Grundgesetz und dessen politischen Rahmen gerichtet, kann man nur verstehen, wenn man diesen übergeordneten Interessenwiderspruch mit in die Überlegungen einbezieht.

  7. Jörg Wiegand Sun 26 May 2024 at 17:55 - Reply

    Ohne es zu benennen spricht der Autor offenbar vom “Böckenförde-Diktum”, der demokratische Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Zu diesen Voraussetzungen gehört eine möglichst weit verbreitete Haltung von Toleranz und Kompromissfähigkeit, ohne die der demokratische politische Prozess nicht funktioniert. Indessen halte ich die Reduktion dieses Prozesse auf die parteipolitische und parlamentarische Ebene für kurzschlüssig. Das bürgerliche Engagement in zivilgesellschaftlichen Organisationen und Institutionen ist eben die Ebene auf der – jenseits der verfassungsrechtlichen Organe – die moralischen Voraussetzungen in der Gesellschaft gebildet werden, die der demokratische Rechtsstaat benötigt. Mit Albert Camus zu reden “Alles was ich im Leben über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe, verdanke ich dem Fußball.”

  8. Armin Schmidt Sun 26 May 2024 at 19:42 - Reply

    Ich stelle mir vor, es wäre vielleicht gut für das Grundgesetz, wenn vermittels Zweiparteiensystem via relatives Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen der Bürger mehr Einfluss auf Politik erhielte.
    Wenn wenige Stimmen eine Wahl entscheiden, fühlen sich die Wähler einflussreich und informieren sich und andere.

  9. Gustav Bade Sun 26 May 2024 at 23:01 - Reply

    Ein bemerkenswerter Artikel! Man wünscht sich auch nur die Hälfte dieser abgeklärten Vernunft in den (auch “Leit-“)Medien zu lesen.

  10. Doro Mon 27 May 2024 at 01:18 - Reply

    Es tut gut, diesen differenzierten Artikel zu lesen!
    Herr Möllers versteht: Viele Menschen haben Probleme mit dem Prozess des Werdens. Die riesige Grauzone beim Werden verunsichert.
    Viele Menschen wollen klare Definitionen: Jetzt war es noch nicht; jetzt ist es.
    Viele Menschen wollen eine sichere Einteilung in Gut und Böse; vermutlich ist das kulturell bedingt, in unseren Märchen und Mythen angelegt, die so schön in die sichere Welt der Kindheit zurückbringen.
    Das ist verständlich, aber der Prozess des Erwachsenwerdens erfordert, Grauzonen zuzulassen. Das heißt aber auch, dass man selber Verantwortung übernehmen und eigene Definitionen finden muss.
    Prozesse sind labil und viele Menschen sehnen sich nach Stabilität.
    Lösung? Habe ich nicht.
    Aber man kann versuchen, die Diskussionen aufzuteilen: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die sich mit intellektuellen Mitteln um Lösungen bemühen. Auf der anderen diejenigen, die emotionale Befriedigung suchen. Und die Intellektuellen haben die Verantwortung, den Emotionalen Wege zu zeigen.
    Ja, das ist arrogant. Aber ohne die Intellektuellen geht es nicht – genausowenig wie ohne die Masse der Emotionalen.
    Ich wünsche uns allen viel Erfolg dabei, einen Weg für beide Seiten zu finden!

  11. cornelia gliem Mon 27 May 2024 at 14:52 - Reply

    “Geburtstag des Grundgesetzes, nicht den der Bundesrepublik Deutschland feiern, also nicht die politische Gemeinschaft, die das Grundgesetz verfasst hat” = viellicht aber auch deswegen, weil nicht die BRD das GG verfasst hat :-), diese ist ja erst “danach” enstanden…
    und herauslesen aus der Tendenz, eher das GG als die BRD zu feiern, kann man erstens eine verständliche Scheu vor National(istisch)en Pathos und zweitens die folgende Einstellung:
    die BRD und die politische Gemeinschaft kann man ändern, das GG i.S. von den Grundrechten ….(sollte man) nicht.

  12. Raimund Vollmer Mon 27 May 2024 at 17:19 - Reply

    Um das Bundesverfassungsgericht mit seiner starken natürlichen Autorität mache ich mir als Bürger die geringsten Sorgen. Viel,viel mehr mache ich mir – wiederum als Bürger – um die Bedeutung unseres Parlaments, auch vor dem Hintergrund des neuen Wahlrechts, das meines Erachtens die Position der Parteien(spitze) stärkt. Bei den Staatsrechtlern habe ich den Eindruck, dass sie mehr den Rechtsstaat in ihrem Blick haben als die Demokratie. So müsste man doch eigentlich auch einmal über die Rolle des Bundesrates als unserer zweiten Kammer nachdenken. Sie wird im Unterschied zu anderen “Oberhäusern” nicht von uns direkt gewählt, sondern ist ein Relikt der Besatzungszeit. Überhaupt ist die Dominanz der Exekutive einer Diskussion wert. Aber das sind natürlich die Gedanken eines Nichtjuristen. Wenn die Verfassung eigentlich nur für die Politiker (und derten politische Prozesse) da wäre, dann wäre sie sehr ärmlich. Prozesse an sich sind keine Werte, sondern nur Verfahren, nur Methodik. Das wäre mir – als Bürger – zu wenig. Aber ich lasse mich gerne zu alledem eines Besseren belehren.

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