22 May 2024

Rechtsaußen in Europa

Gespalten und doch widerstandsfähig

Die Alternative für Deutschland (AfD) ist nicht die einzige Rechtsaußen-Partei, die vor einem möglichen Wahlerfolg steht. In vielen europäischen Ländern erleben Parteien die sich vehement gegen Einwanderung, die vermeintliche „Elite“ und die Europäische Union (EU) wenden einen Popularitätsschub. Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass sie bei den kommenden Europawahlen im Juni 2024 bis zu einem Viertel der Sitze gewinnen könnten. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass es trotz ihrer augenscheinlichen Kameradschaft und gemeinsamen Ideologie bemerkenswerte Unterschiede zwischen diesen Kräften in den 27 EU-Mitgliedstaaten gibt. Vor allem der russische Angriff auf die Ukraine hat die Spannungen innerhalb der besagten Parteienfamilie verschärft.

Radikale und extreme Rechte

Im Allgemeinen verwenden Politikwissenschaftler:innen den Begriff „rechtsaußen“ als Überbegriff, um die zunehmenden Verbindungen zwischen „(populistischen) rechtsradikalen“ (illiberal-demokratischen) und „rechtsextremen“ (antidemokratischen) politischen Akteuren zu erfassen. Während sich die radikale Rechte generell an die Grundregeln der Demokratie hält, stehen einige ihrer Ideen im Widerspruch zu den Grundprinzipien der liberalen Demokratie, wie etwa dem Schutz von Minderheitenrechten und dem politischen Pluralismus. Rechtsextreme Gruppen lehnen das Wesen der Demokratie ab – sei es mit oder ohne Gewalt.

Während die radikale und die extreme Rechte theoretisch voneinander zu unterscheiden sind, verschwimmt der Unterschied in der Praxis zunehmend. Einige Parteien sind aufgrund ihrer Wandelbarkeit schwer fassbar. Darüber hinaus haben einige rechtsaußenorientierte Parteien einen janusköpfigen Charakter und vermitteln in ihren Wahlprogrammen und in der Öffentlichkeit ein anderes Bild als gegenüber ihren eigenen Anhängern.

Die semantische Trennung zwischen der radikalen und der extremen Rechten suggeriert, dass es wesentliche Unterschiede zwischen diesen beiden Strömungen gibt, und dass eine direkte Bedrohung für die Demokratie nur von der extremen Rechten ausgehen würde. Dies kann ungewollt zum Mainstreaming der äußeren Rechten beitragen.

Politikwissenschaftler wie Andrea Pirro plädieren daher für die systematische Verwendung des Begriffs „rechtsaußen“ (engl.: far right) und betonen, dass sich auch die stärker institutionalisierten rechtsradikalen Parteien auf eine breite “Produktionsstruktur” stützen – der so genannte Backstage. Sie tun dies zum Beispiel, indem sie aktive Verbindungen zu rechtsextremen sozialen Bewegungen und Netzwerken unterhalten, die eine direkte Bedrohung für den demokratischen Status quo darstellen. Durch die Verwendung des Begriffs „rechtsaußen“ schulen wir unseren Blick, um über die „institutionelle Bühne“ hinauszuschauen und frühe Anzeichen einer demokratischen Erosion zu erkennen.

Rechtsaußen in der Europäischen Union

In Zusammenarbeit mit der belgischen Nachrichtenwebsite Apache und mit Hilfe von 31 Expertinnen haben wir einen umfassenden Überblick über den aktuellen Stand der rechtsradikalen und -extremen Parteien und Bewegungen in allen 27 EU-Mitgliedstaaten erstellt. Dabei haben wir die Expertinnen gebeten, nicht nur die wichtigsten Parteien aufzulisten, sondern auch soziale Bewegungen und andere außerparlamentarische Akteure zu identifizieren.

Die Erkenntnisse der Expertinnen zeigen eine sehr heterogene Landschaft am rechten Rand des politischen Spektrums – eine Beobachtung, die durch frühere Analysen von Cas Mudde bestätigt wird.

Zunächst einmal sind Rechtsaußen-Parteien und Bewegungen zwar in fast allen EU-Mitgliedstaaten aktiv, das Ausmaß ihres Einflusses ist jedoch sehr unterschiedlich. In Italien und Ungarn stellen rechtsaußenorientierte Parteien beispielsweise den Ministerpräsidenten, während in Finnland, der Slowakei und Schweden jene Parteien derzeit an Regierungskonstellationen beteiligt. In den Niederlanden ging die Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders aus den Parlamentswahlen im November 2023 als stärkste Kraft hervor. Im Gegensatz dazu sind Rechtsaußen-Parteien in Kroatien und Zypern elektoral nur marginal vertreten, während in Litauen, Irland und Malta ähnliche Bewegungen weder im nationalen noch im Europäischen Parlament vertreten sind.

Thematisch finden Rechtsaußen-Parteien und Bewegungen Gemeinsamkeiten in ihrer Ablehnung der Migration und der Europäischen Union, wobei einwanderungsfeindliche Ansichten den wichtigsten gemeinsamen Nenner bilden. Ein bemerkenswerter Trend in diesem Politikbereich ist die Radikalisierung der etablierten Parteien. So führte die dänische Regierung eine harte Anti-Einwanderungspolitik ein, die von den Sozialdemokraten unterstützt wurde.

In vielen Ländern versuchen vor allem Mitte-Rechts-Parteien, dem Aufstieg der radikalen und extremen Rechten entgegenzuwirken, indem sie deren Positionen unterstützen oder sogar kopieren. Die Radikalisierung der etablierten Parteien macht die Grenzen zwischen der rechten Mitte und Rechtsaußen zunehmend durchlässig.

Zusätzlich zu ihren einwanderungsfeindlichen Standpunkten nehmen diese Parteien und Bewegungen in fast allen EU-Mitgliedstaaten zunehmend „anti-gender“ Positionen ein, ein Trend, der auch durch akademische Forschung belegt wird. Von Schweden bis Griechenland und von Irland bis Bulgarien wendet sich Rechtsaußen aktiv gegen die Gleichstellung der Geschlechter, die Rechte der Frauen sowie die Rechte von Transmenschen und Homosexuellen.

Seltsame Bettgenossen

Trotz ideologischer Gemeinsamkeiten gibt es auch andere auffällige Unterschiede zwischen den Rechtsaußen-Parteien in Europa, die eine enge Zusammenarbeit zwischen ihnen erschweren. Angesichts ihrer nativistischen Agenda ist es nicht sehr überraschend, dass jene Parteien und Bewegungen Schwierigkeiten haben, internationale Allianzen zu bilden. Trotz zahlreicher Initiativen ist es den Rechtsaußen-Parteien bisher nicht gelungen, eine stabile und kohärente Fraktion im Europäischen Parlament zu bilden.

Im Vorfeld der Europawahlen 2014 lehnte Nigel Farage, der damalige Vorsitzende der United Kingdom Independence Party (UKIP), ein Angebot von Marine Le Pen vom französischen Front National (jetzt Rassemblement National oder RN) zur Bildung eines Bündnisses im Europäischen Parlament ab und warf Letzteren anhaltende Vorurteile und Antisemitismus vor. Le Pen distanzierte sich vor Kurzem, nach monatelangen Auseinandersetzungen von der AfD, die ihrer Meinung nach zu radikal geworden ist.

Nichtsdestotrotz scheint allgemein die Abneigung dagegen, mit anderen Rechtsaußen-Parteien in Verbindung gesetzt zu werden, in den letzten Jahren abgenommen zu haben. Dies mag auf die Wahlerfolge dieser Parteien zurückzuführen sein, die dazu beigetragen haben, dass sie ihr “Stigma des Extremismus” verloren haben.

Gegenwärtig sind die Rechtsaußen-Parteien im Europäischen Parlament in zwei Hauptgruppen aufgeteilt, die zusammen 127 Sitze besetzen. Auf der einen Seite gibt es die Fraktion Identität & Demokratie (ID), zu der beispielsweise Matteo Salvinis‘ italienische Lega, der französische RN, die deutsche AfD und die niederländische PVV gehören (die übrigens derzeit keinen Sitz im Europäischen Parlament hat). Auf der anderen Seite gibt es die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR), die sich unter anderem aus den Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni, der polnischen PiS und der spanischen Vox zusammensetzt.

Russland als Streitpunkt

Der wichtigste Streitpunkt innerhalb der äußeren Rechten scheint derzeit die Positionierung gegenüber Russland zu sein. Diese Spannung wurde im April 2023 deutlich, als Abgeordnete der finnischen Partei Perussuomalaiset (Wahre Finnen) im Europäischen Parlament von der ID zur ECR wechselten, weil letztere stärker für die NATO und gegen Putin ist.

Die Spaltung von Rechtsaußen in Bezug auf Russland geht über das Europäische Parlament hinaus. Auch in einigen Mitgliedsstaaten sind in diesem Bezug Uneinigkeit innerhalb der Parteifamilie festzustellen. In Bulgarien beispielsweise hat sich die älteste und wichtigste Rechtsaußen-Partei Ataka (Angriff) traditionell mit Russland verbündet, während die VMRO (Bulgarische Nationale Bewegung) eher pro-amerikanisch eingestellt ist. In den Niederlanden sieht die PVV Russland als Aggressor, zögert aber, Kiew materiell und finanziell zu unterstützen, während die FvD die NATO-Mitgliedschaft in Frage stellt und die Aufhebung der russischen Sanktionen fordert.

Original statt Kopie

In den letzten Jahren wurden Ansichten und Positionen von Rechtsaußen in den EU-Mitgliedstaaten zunehmend normalisiert. Sowohl die Medien als auch die etablierten politischen Parteien spielen eine Schlüsselrolle in diesem Normalisierungsprozess. Gemeinsam fungieren sie als Türsteher, die den Zutritt zur politischen Arena kontrollieren.

Für Mitte-Rechts-Parteien scheint es besonders verlockend zu sein, zu versuchen, „besorgte Bürger“ zurückzugewinnen, indem sie Ansichten von Rechtsaußen übernehmen. Untersuchungen zeigen jedoch immer wieder, dass die Übernahme solcher Ansichten durch die etablierten Parteien in der Regel der äußeren Rechten in die Hände spielt.

Dennoch scheint diese Nachahmungsstrategie von der Mitte-Rechts-Partei Europäische Volkspartei (EVP) übernommen worden zu sein. Die EVP, die sich überwiegend aus christdemokratischen und konservativen Parteien zusammensetzt, ist derzeit die größte Fraktion im Europäischen Parlament. Auf ihrem Kongress im März dieses Jahres präsentierte die von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geführte Partei ihre Pläne, Asylbewerber in „sichere Drittstaaten“ abzuschieben – ein Vorschlag, der an den umstrittenen Ruanda-Deal des Vereinigten Königreichs erinnert. Die Wirksamkeit dieser Nachahmungsstrategie bleibt abzuwarten – auch wenn es höchst zweifelhaft ist, dass dies der Rechtsaußen-Parteien den Wind aus den Segeln nehmen wird.

Viel auf dem Spiel

Zwischen dem 6. und 9. Juni werden Millionen von Europäer:innen die Möglichkeit haben, ihre Stimme abzugeben, um ein neues Europäisches Parlament zu wählen – ein entscheidender Moment für die Gestaltung der europäischen politischen Landschaft. Die Europawahlen werden oft als „zweitrangig“ angesehen, geplagt von einer niedrigen Wahlbeteiligung – aber es steht viel auf dem Spiel. Der Ausgang dieser Wahlen könnte ein Wendepunkt mit weitreichenden Folgen sein.

 

 

Dieses Projekt wurde in Zusammenarbeit mit apache.be realisiert. Eine ausführlichere Version dieser Analyse wurde in der Maiausgabe der luxemburgischen Zeitschrift “Forum für Politik, Gesellschaft und Kultur” veröffentlicht. Wir möchten uns an dieser Stelle bei Mathilda Åkerlund, Valentina Ausserladscheider, Miranda Christou, Sarah Anne Dunne, Belén Fernández-García, Danica Fink Hafner, Caterina Froio, Rosita Garškaitė-Antonowicz, Gabriela Greilinger, Petra Guasti, Daphne Halikiopoulou, Anna-Sophie Heinze, Jennifer Orlando-Salling, Laura Jacobs, Mari-Liis Jakobson, Mariana Mendes, Anita Nissen, Pauliina Patana, Nina Paulovicova, Maria Pisani, Julia Rone, Iris Beau Segers, Věra Stojarová, Sorina Soare, Jogilė Ulinskaitė, Sabine Volk, Lisa Zanotti und den Expertinnen, die anonym bleiben wollten, herzlich bedanken. Wir haben nicht zufällig ausschließlich Expertinnen konsultiert. Ein möglicher Rechtsruck im Europäischen Parlament stellt ein besorgniserregendes Szenario für Frauenrechte dar. Zusätzlich sind Frauen – ebenso wie andere unterrepräsentierte Wissenschaftler:innen, wie LGBTQIA+Personen und People of Colour , die sich mit diesem Thema befassen, zunehmend Hass und Anfeindungen ausgesetzt. Dieses Projekt dient nicht nur als Anerkennung für weibliche Expertinnen, sondern auch als gemeinsamer Widerstand gegen die Hasskampagnen der radikalen- und extremen Rechten. 


SUGGESTED CITATION  de Jonge, Léonie: Rechtsaußen in Europa: Gespalten und doch widerstandsfähig, VerfBlog, 2024/5/22, https://verfassungsblog.de/rechtsausen-in-europa/, DOI: 10.59704/50363b0067b7e93c.

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