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01 July 2024

Peinigen statt Wegtragen

Unverhältnismäßigkeit von Schmerzgriffen gegen friedlich Protestierende

Die Berliner Polizei hat gegenüber Klimaaktivisten, die sich auf eine Straße gesetzt hatten, um diese zu blockieren, sogenannte Schmerzgriffe bzw. Nervendrucktechniken zunächst angedroht und sodann angewendet (s. z.B. hier). Beide polizeilichen Maßnahmen, also Androhung und Anwendung, verstoßen gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, weil das Wegtragen der Aktivisten ein milderes Mittel wäre. Je nach den Umständen des Einzelfalles kommt auch ein Verstoß gegen das Folterverbot in Betracht. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur befremdlich, dass die Berliner Polizei diese Maßnahmen überhaupt gegen die Sitzenden gerichtet, sondern auch, dass sie diese sodann öffentlich verteidigt hat (vgl. etwa hier). Es lässt sich mutmaßen, dass die Verantwortlichen hier eher auf den Rückhalt der autofahrenden Bevölkerung und weniger auf den Rückhalt durch die Verfassung gesetzt haben.

In Berlin vorgesehene Schmerzgriffe

Schmerzgriffe werden eingesetzt, um den Willen des Betroffenen zu beugen und ihn dazu zu bringen, die von der Polizei angeordnete Handlung auszuführen (eingehender dazu hier). In Schulungsunterlagen zum polizeilichen Einsatztraining des Berliner Polizeipräsidenten (Handbuch Einsatztraining) werden folgende Schmerzpunkte und Techniken genannt:

  • Mit den Fingern wird unterhalb des Ohres in den Nervenpunkt gedrückt.
  • Mit den Fingern/der Handkante wird von unten gegen die Nasenscheidewand gedrückt.
  • Mit den Fingern wird unterhalb des Kiefers auf die Lymphknoten gedrückt.
  • Mit den Fingern wird in den Genitalbereich gegriffen. Mit der Faust, dem Handballen, der flachen Hand oder dem Knie wird auf den Genitalbereich geschlagen/gestoßen.

Wenn man sich die illustrierten Schulungsunterlagen anschaut, kommt man allerdings nicht auf die Idee, dass die schmerzhaften Griffe dazu eingesetzt werden könnten, um Teilnehmer einer Sitzblockade dazu zu bewegen, von einer Straße aufzustehen und diese zu verlassen. Vielmehr vermitteln die abgedruckten Fotos den Eindruck als könnten und sollten die Griffe angewendet werden, um Attacken von körperlich gewalttätigen Personen zu beenden. Es leuchtet auch ein, dass Polizisten geschult werden, wie sie sich in Kampfsituationen verhalten können, insbesondere zum Zweck der Selbstverteidigung. Die Beendigung eines aktiven Angriffs ist aber etwas ganz anderes als ein Vorgehen gegen Personen, die auf einer Straße sitzen und dem polizeilichen Gebot, die Straße zu verlassen, nicht folgen.

Maßnahmen gegen Straßenblockaden grundsätzlich rechtmäßig

Das polizeiliche Einschreiten gegen eine Straßenblockade von Klimaaktivisten ist grundsätzlich rechtmäßig. Die Polizei kann nach Auflösung der Versammlung zur Abwehr einer Gefahr eine Person vorübergehend von einem Platz verweisen (§ 29 Abs. 1 Satz 1 BerlASOG). Eine Straßenblockade ist eine Störung der öffentlichen Sicherheit. Straßen sind straßenrechtlich dem Verkehr gewidmet. Darunter fällt zwar auch der kommunikative Verkehr, nicht jedoch eine Blockade der Straße. Straßenverkehrsrechtlich ist jeder Verkehrsteilnehmer nach der bekannten Grundregel des § 1 Abs. 2 StVO verpflichtet, sich so zu verhalten, dass kein Anderer mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindert wird. Auch die Berufung auf die Grundsätze des zivilen Ungehorsams ändert nichts am Vorliegen einer Störung der öffentlichen Sicherheit durch die widmungswidrige und straßenverkehrsrechtlich rechtswidrige Straßenblockade. Die Polizei kann also nach ihrem Ermessen Blockierer von der Straße verweisen.

Schmerzgriffe als Maßnahme unmittelbaren Zwangs?

Probleme wirft aber die Durchsetzung eines Platzverweises durch die Androhung und Anwendung von Schmerzgriffen auf. Die rechtliche Regelung der Vollstreckung des Platzverweises findet sich für die Berliner Polizei im Verwaltungsvollstreckungsgesetz des Bundes (§ 8 Abs. 1 Satz 1VwVfG Bln) sowie im Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Landes Berlin. Danach kann ein vollziehbarer Verwaltungsakt mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden (§ 6 Abs. 1 VwVG). Da weder eine Ersatzvornahme noch ein Zwangsgeld zur Durchsetzung eines Platzverweises gegenüber einem Straßenblockierer in Betracht kommen, bleibt nur die Möglichkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs.

Das OVG Lüneburg hat den Einsatz der Nervendrucktechnik als Maßnahme des unmittelbaren Zwangs angesehen. Der Grundsatz der Vorhersehbarkeit polizeilichen Handeln gebiete es aber, die bewusste und gewollte Zuführung von nicht lediglich unerheblichen Schmerzen durch die Anwendung einer Nervendrucktechnik im Rahmen des unmittelbaren Zwangs gesondert anzudrohen. Mit einer solchen schmerzhaften Behandlung müsse der Betroffene nicht unbedingt rechnen. Durch eine vorherige Androhung werde er in die Lage versetzt, die Zufügung von Schmerzen dadurch zu verhindern, dass er die geforderte Handlung vornehme (NJW 2017, 1626, Rn. 23). Demgegenüber wird in der Literatur die Auffassung vertreten, die Nervendrucktechnik sei kein zulässiges Zwangsmittel (Pflicht, NVwZ 2017, 862).

Zulässige Zwangsmittel sind die Ersatzvornahme, das Zwangsgeld und der unmittelbare Zwang (§ 9 Abs. 1 VwVG). Unmittelbarer Zwang ist die Einwirkung auf Personen durch körperliche Gewalt, durch Hilfsmittel der körperlichen Gewalt und durch Waffen. Körperliche Gewalt ist jede unmittelbare körperliche Einwirkung auf Personen. Ein Hilfsmittel der körperlichen Gewalt ist ein Wasserwerfer. Waffen sind nicht nur Schusswaffen, sondern auch Hiebwaffen wie Schlagstöcke (§ 2 UZwG Bln). Diese Definition des unmittelbaren Zwangs wird in der Literatur einschränkend dahin verstanden, „dass die Gewaltanwendung typischerweise ‚unmittelbar‘ den erstrebten Erfolg herbeiführen soll und nicht mittelbar, indem auf den Willen des Pflichtigen gewaltsam eingewirkt wird, um ihn zur Erfüllung seiner Verpflichtung zu bewegen. Mittelbarer Zwang darf lediglich in der Form des Zwangsgeldes (und sekundär der Zwangshaft) ausgeübt werden“ (Lemke, § 12 Rn. 1, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, Handkommentar, 5. Aufl. 2021). Dem steht allerdings entgegen, dass Wasserwerfer oder Schlagstöcke regelmäßig eingesetzt werden, um Pflichtige zur Erfüllung ihrer Verpflichtung zu bewegen. Gewaltanwendung soll also typischerweise, aber nicht ohne Ausnahme den von der Polizei mit der Anwendung unmittelbaren Zwangs erstrebten Erfolg herbeiführen. Unmittelbarer Zwang kann im Einzelfall auch durch die Gewaltanwendung in Form von Schmerzgriffen ausgeübt werden, wenn sich Polizisten etwa gegen einen Angriff wehren müssen.

Folterverbot und Verhältnismäßigkeitsprinzip

Di Fabio weist aber zu Recht auf die Schwierigkeit der Abgrenzung der in Art. 3 EMRK und Art. 4 EUGRCh geächteten Folter vom legitimen unmittelbaren Zwang, um eine Person zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen, im verwaltungsrechtlichen Zwangsvollstreckungsrecht hin: „Es kommt auf die entwürdigenden Gesamtumstände an“ (Art. 2 Abs. 2 Nr. 1, Rn. 78, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, 103. EL Januar 2024).

Dem Folterverbot kann im Recht der Vollstreckung einer polizeilichen Verfügung wie dem Platzverweis nur durch eine strikte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Rechnung getragen werden. Zwar mag die Anwendung äußerst schmerzhafter Nervendrucktechniken zur Durchsetzung des legitimen Zwecks eines Platzverweises wie der Räumung einer Straße geeignet sein. Erforderlich sind Schmerzgriffe jedoch regelmäßig nicht, weil der Polizei mildere Mittel zur Verfügung stehen. Klimaaktivisten, die sich auf eine Straße gesetzt haben, können von der Polizei zur Durchsetzung eines Platzverweises weggetragen werden. Das kann für die Polizei lästiger sein als die Anwendung der Nervendrucktechnik, greift aber weit weniger in die Grundrechte der Blockierer ein als Schmerzgriffe, die nach den gesamten Umständen durchaus entwürdigend sein können, wie ein Blick in die entsprechenden Aufnahmen im Internet zeigt. Im typischen Fall der gewaltfreien Blockade einer Straße durch Klimaaktivisten wird die Notwendigkeit des Einsatzes von Schmerzgriffen nicht zu begründen sein.

Androhung und Anwendung von Schmerzgriffen hier unzulässig

Das hat auch Konsequenzen für die Androhung solcher Griffe, wie sie das OVG Lüneburg zu Recht für erforderlich gehalten hat. Die Polizei darf nur solche Mittel des unmittelbaren Zwangs androhen, die sie in der konkreten Situation auch unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einsetzen darf.

Die Vollstreckung eines Platzverweises durch Schmerzzufügung in Form der Nervendrucktechnik darf nicht zur Sanktionierung der Straßenblockade eingesetzt werden. Zivilem Ungehorsam zum Schutze des Klimas, der die Grundrechte der blockierten Verkehrsteilnehmer beeinträchtigt, darf die Polizei im Rechtsstaat mit den Mitteln des Polizeirechts und des Vollstreckungsrechts begegnen. Dabei ist jedoch stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Eine entwürdigende Behandlung, die gegen das Folterverbot verstößt, ist kein Mittel des rechtsstaatlichen Polizeirechts – das gilt auch für ihre Androhung.


SUGGESTED CITATION  Wieland, Joachim: Peinigen statt Wegtragen: Unverhältnismäßigkeit von Schmerzgriffen gegen friedlich Protestierende, VerfBlog, 2024/7/01, https://verfassungsblog.de/schmerzgriffe-unverhaltnismasig-und-rechtswidrig-bei-sitzblockaden/, DOI: 10.59704/9cedd747cd8a9802.

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