Seht her: ein Verfassungsgericht!
Wir Unionsbürger haben ein Gericht, das uns vor der Polizei beschützt. Dort finden wir Zuflucht, wenn die Regierungen in Brüssel und den europäischen Hauptstädten ihr Überwachungs- und Repressionsinstrumentarium zu Lasten unserer Freiheit erweitern wollen. Dort gibt es Richter, die dazwischengehen, wenn die europäische Exekutive es nützlich findet, unser aller Kommunikationsprofile einfach mal komplett zu speichern, no matter what. Die eine Richtlinie, die das erlaubt bzw. vorschreibt, zack! für ungültig erklären. Und zwar ohne irgendwelche Kompromissangebote nach dem Motto: naja, kann man prinzipiell schon machen, aber bitte nicht so doll und mit ein paar mehr Vorsichtsmaßnamen hier und da. Die auch keine Übergangsfrist für nötig halten, während der erst mal alles so bleiben darf, wie es ist.
Mit einem Wort: Verfassungsrichter.
Und wo sind sie, diese Richter? In Luxemburg.
Tja. Hätte er mal vorgelegt damals, der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, als sich die Gelegenheit dazu wahrhaftig auf dem Silbertablett bot 2010. Aber das haben ja gottseidank die Kollegen aus Irland und Österreich übernommen. Es gibt eben eine Menge Player im europäischen Verfassungsgerichtsverbund, und zumindest heute werden wir uns alle einig sein, dass das eine gute Sache ist.
Na, wie auch immer: Das heutige Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung ist vom Moment seiner Verkündung an ein Klassiker. Und der 8. April 2014 ein großes Datum in der Verfassungsgeschichte der Europäischen Union.
So viel einstweilen. Später mehr.
Nachmittags:
Nach nochmaliger Lektüre und ein paar Gesprächen scheint mir der Befund, dass nicht nur die Richtlinie heute gekillt wurde, sondern im Wesentlichen die Vorratsdatenspeicherung insgesamt.
Wenn ich RNr. 58 des Urteils richtig lese, dann steht da, dass es kein “absolut notwendiger” Datenschutzeingriff sein kann, wenn die Richtlinie die Speicherung der Daten von Leuten erlaubt,
bei denen keinerlei Anhaltspunkt dafür besteht, dass ihr Verhalten in einem auch nur mittelbaren oder entfernten Zusammenhang mit schweren Straftaten stehen könnte.
Das gleiche gilt für eine Richtlinie, die zur Bekämpfung schwerer Kriminalität beitragen soll, aber
keinen Zusammenhang zwischen den Daten, deren Vorratsspeicherung vorgesehen ist, und einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit (verlangt); insbesondere beschränkt sie die Vorratsspeicherung weder auf die Daten eines bestimmten Zeitraums und/oder eines bestimmten geografischen Gebiets und/oder eines bestimmten Personenkreises, der in irgendeiner Weise in eine schwere Straftat verwickelt sein könnte, noch auf Personen, deren auf Vorrat gespeicherte Daten aus anderen Gründen zur Verhütung, Feststellung oder Verfolgung schwerer Straftaten beitragen könnten.
Das heißt doch wohl, dass ich im Fall “absoluter Notwendigkeit” zwar Daten speichern darf, aber eben nicht auf Vorrat, oder? Es muss einen, wenn auch entfernten, Zusammenhang zwischen der Person und ihren Daten und einer schweren Straftat geben, und dieser Zusammenhang ist gerichtlich anhand des Verhältnismäßigkeitsmaßstabs kontrollierbar.
Noch eine interessante Frage: Schweden ist ja sogar zu einer Strafzahlung verurteilt worden, weil sie die Vorratsdatenspeicherung immer nicht eingeführt haben. Wenn es von vornherein gar keine Pflicht dazu gab – kann Schweden das Geld jetzt von der Kommission zurückfordern?
“Also Ergebnis: Die Österreicher bringen solche Sachen. Aber wir nicht.”
(Zitat: Maximilian Steinbeis)
https://verfassungsblog.de/de/darf-ein-verfassungshter-ein-aufsichtsratsmandat-wahrnehmen/#.U0POdoXzJ4s
Bisher ist, wenn ich das richtig sehe, nur die PM verfügbar. Der aber entnehme ich jede Menge “Kompromissangebote nach dem Motto: naja, kann man prinzipiell schon machen, aber bitte nicht so doll und mit ein paar mehr Vorsichtsmaßnamen hier und da”. Zur Erinnerung: Das BVerfG hat das deutsche Gesetz ebenfalls komplett kassiert.
Ein link zum Urteil:
http://malte-spitz.de/wp-content/uploads/2014/04/C_0293_2012-DE-ARR.pdf
@Gerd Gosmann: Das BVerfG hat das deutsche Gesetz kassiert, die RL (um die es beim EuGH aber ging) jedoch unbeanstandet gelassen und deswegen nicht vorgelegt.
Äh ja, genau, nichts anderes habe ich gesagt. Mehr als das deutsche Gesetz kassieren kann das BVerfG aber auch gar nicht. Das BVerfG hat damit im Rahmen seiner Kompetenzen äquivalent zu dem entschieden, was nunmehr der EuGH im Rahmen seiner Kompetenzen entschieden hat. Der EuGH könnte ja ein mitgliedstaatliches Umsetzungsgesetz zu der RL auch nicht kassieren. Angesichts dessen und angesichts der Entscheidungsgründe beider Entscheidungen bietet dieser Fall nun wirklich keinen Anlass, in der Art nebenbei Richtung Karlsruhe zu treten, wie es der Blogpost unternimmt. Dass das BVerfG die RL nicht vorgelegt hat, kann man natürlich mit guten Gründen kritisieren.
@Gerd: Äh, nö. Ich erkläre den Punkt nochmals: Das BVerfG hätte die RL dem EuGH vorlegen können mit der Bitte um Kassation (vgl. Solange II/Honeywell/OMT). Hat das BVerfG aber nicht.
(Nur damit Gerd Gosman jetzt nicht postet, das BVerfG hätte die RL gar nicht geprüft) hier nochmal zur Erinnerung Leitsatz des Ersten Senates: “Eine sechsmonatige, vorsorglich anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten durch private Diensteanbieter, wie sie die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 (ABl L 105 vom 13. April 2006, S. 54; im Folgenden: Richtlinie 2006/24/EG) vorsieht, ist mit Art. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar; auf einen etwaigen Vorrang dieser Richtlinie kommt es daher nicht an.”
Wenn Sie ein aufmerksamer Leser sein wollen, dann versuchen Sie doch mal, Inhalt und Stoßrichtung von Kommentaren zu verstehen. Oder nennen Sie sich halt konsequent Nebenkriegsschauplatzeröffner oder Nebelkerzenwerfer.
In dem Blogpost wird ein Karlsruhe-Motz des Inhalts betrieben, das BVerfG habe sich nicht hinreichend deutlich gegen die VDS gestellt, während der EuGH als wahres Verfassungsgericht klar Schiff mache und die RL kippe. Darauf erwidere ich, dass der EuGH mitnichten klar Schiff macht, sondern in (wie ich nach Lektüre des Urteils ergänzen würde) außerordentlich unklarer Aneinanderreihung unterschiedlicher Gesichtspunkte andeutet, irgendwie gehe die VDS schon, aber nicht so offen wie bisher. Eine weitergehende verfassungsrechtliche Fundamentalkritik an der VDS als im BVerfG-Urteil sehe ich da nicht. Außerdem weise ich darauf hin, dass das BVerfG ja das deutsche Gesetz gekippt hat, also auch hinsichtlich des Entscheidungsausspruchs getan hat, was es konnte. Das BVerfG hätte auch nach einem denkbaren Vorabentscheidungsverfahren nicht weitergehend tenorieren können.
Dass man im Übrigen das Unterlassen einer Vorlage durch das BVerfG kritisch sehen kann, habe ich schon eingeräumt, das hat aber mit meiner Kritik an dem Blogpost nichts zu tun.
@Gerd: Der Blogpost liegt mit seiner Stoßrichtung völlig richtig. Sie verstehen die nur anscheinend noch immer nicht.
1) Der EuGH war nicht unklar, sondern hat die RL kassiert.
2) Das BVerfG war auch nicht unklar, sondern hat die RL als mit Art. 10 GG vereinbar bezeichnet.
3) Das BVerfG prüft RL und kann sie (ggf nach Vorlage an den EuGH) für im Geltungsbereich des GG unanwendbar erklären. Hat der Erste Senat im gegeben Fall aber nicht für nötig erachtet, weil er die RL nicht für problematisch hielt. Deswegen hat @Max völlig Recht, wenn er sagt: “Habemus Verfassungsgericht”.
Die von Ihnen vermutete Divergenz zwischen EuGH und BVerfG hinsichtlich der RL erklärt sich zwanglos daraus, dass der EuGH materielle Anforderungen bereits an die RL errichtet, die das BVerfG aus dem GG erst für das nationale Umsetzungsgesetz herleitet. Hierzu heißt es in dem VDS-Urteil des BVerfG:
“Der Inhalt der Richtlinie belässt der Bundesrepublik Deutschland für die Gestaltung der in ihr vorgeschriebenen Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten einen weiten Entscheidungsspielraum. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zwar dazu, Betreibern von öffentlich zugänglichen elektronischen Kommunikationsnetzen und Kommunikationsdiensten die Speicherung von praktisch allen Telekommunikationsverkehrsdaten für eine Dauer von mindestens sechs Monaten vorzuschreiben (Art. 1, 3, 5 und 6 Richtlinie 2006/24/EG). Ihre Regelungen sind dabei aber im Wesentlichen auf die Speicherungspflichten selbst beschränkt und regeln nicht den Zugang zu den Daten oder deren Verwendung durch die Behörden der Mitgliedstaaten. Insbesondere harmonisieren sie weder die Frage des Zugangs zu den Daten durch die zuständigen nationalen Strafverfolgungsbehörden noch die Frage der Verwendung und des Austausches dieser Daten zwischen diesen Behörden (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Februar 2009 – Rs. C-301/06 -, Rn. 83). Ausgehend von den Mindestanforderungen der Richtlinie (Art. 7 und 13 Richtlinie 2006/24/EG) liegt es ebenfalls bei den Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung von Datensicherheit, Transparenz und Rechtsschutz zu ergreifen.”
Für die Berechtigung der Stoßrichtung des Blogposts ist die formale Frage, ob die Regelungsverantwortung für die Grundrechtskonformität der VDS zwingend beim Richtliniengeber liegt oder ob der Richtliniengeber sie teilweise an die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber delegieren darf, wenig relevant. Diese Frage lässt sich so oder so beantworten, ohne dass über das insgesamt zu beachtende grundrechtliche Schutzniveau etwas ausgesagt wäre.
Interessant ist dagegen, ob beide Gerichte für die grundrechtliche Zulässigkeit einer VDS unterschiedliche Maßgaben errichten. Soweit sich die Aneinanderreihung von Problempunkten im EuGH-Urteil überhaupt interpretieren lässt, sehe ich das nicht.
Haben Sie es jetzt verstanden? Sonst gebe ich auf.
@Gerd: Dem Ersten Senat reichen die Spielräume, die die RL für die Umsetzung lässt. Der EuGH hält die RL trotz der Umsetzungsspielräume für grundrechtswidrig. You get the idea?
Nein, der EuGH hält die Rl nämlich maßgeblich *wegen* und nicht *trotz* der Umsetzungsspielräume für grundrechtswidrig. Got it now?
@Gerd: Hehe. Die anderen Leser werden verstehen.
@Gerd Gosman
Ich gebe Ihnen recht, daß der EuGH nicht klar Schiff gemacht hat. Seine sybillinische Art, Urteile zu schreiben, ist immer zum Haare raufen und hier besonders: Trotz der Komplexität der Fragen nehmen die rechtlichen Ausführungen nicht mehr als 10 DIN-A-4-Seiten ein.
Andererseits halte ich den Vorwurf “Karlsruhe-Motz” an Steinbeis für unberechtigt. Die Kritik am BVerfG, daß es nicht schon vor Jahren die RL vom EuGH prüfen ließ, ist berechtigt. Sie wird in einem aktuellen Aufsatz in der ZEuS schön ausgeführt:
Prof. Dr. Thomas Giegerich: Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt: Warum wird die Grundrechtskonformität der Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie {erst nach acht Jahren geklärt? (ZEuS 2014, 3)
http://www.zeus.nomos.de/fileadmin/zeus/doc/Aufsatz_ZEuS_14_01.pdf
Die damalige Entscheidung des BVerfG (http://dejure.org/2010,2) war zwar nach herkömmlicher Methodik richtig (die unionsrechtliche Vorfrage war nicht entscheidungserheblich), doch auf diese Weise kann ein “europäischer Verfassungsgerichtsverbund” nicht funktionieren. Der österreichische VfGH scheint das erkannt zu haben, das BVerfG nicht.
@Max Steinbeis “Nachmittags”
Das würde ich auch so sehen (und dann ginge das Urteil natürlich wirklich über das BVerfG-Urteil hinaus), wenn der EuGH dabei stehenbliebe. Es folgt aber eine breite Aufzählung unterschiedlicher Gesichtspunkte, die überwiegend gar keinen Sinn ergeben, wenn die VDS ohnehin nicht sein darf (Anforderungen an den Datenzugang, Datensicherheit usw.). Ich lese das Urteil darum so, dass an dieser Stelle zwar das besondere Eingriffsgewicht der VDS begründet wird, dass aber eine hinsichtlich der anderen Parameter beschränkte VDS eben doch grundrechtskonform sein könnte. In diesem Zusammenhang muss man m.E. auch berücksichtigen, dass bei den Unionsgrundrechten generell viele Fragen in die Erforderlichkeitsprüfung gepackt werden, die nach deutscher Grundrechtsdoktrin erst in der Angemessenheit zu erörtern wären.
Gerd, verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit der Überzeugung von AL. Das ist es nicht wert; es braucht nun keine größere Anstrengung, um Ihnen Recht geben zu müssen.
Ich würde aus RNr 58 keine absolute Unmöglichkeit der VDS ableiten, da auch dieser Punkt ein Umstand unter mehreren ist, der in die Verhältnismäßigkeitsprüfung eingestellt wird – theoretisch könnten alle anderen Umstände so fein ausgebaut sein (zB nur eine Woche Speicherung, Zugang nur für schwerste terroristische Verbrechen usw), dass auch mal das Speichern von Daten absolut nicht “kriminalitätsnaher” Personen zulässig wäre. Ist aber wohl eher theoretisch; näher ausgeführt habe ich das in meinem Blog: http://blog.lehofer.at/2014/04/noch-zwei-kurze-anmerkungen-zum.html
Dieses Urteil ist ein Big-Bang und gehört in eine Reihe mit Marbury v. Madison des SCOTUS (ein Urteil, das übrigens erst in der 2. Hälfte des 20. Jh., genauer gesagt: seit Cooper v. Aron große Bekanntheit erreicht hat), mit dem Statusstreit, mit dem Volkszählungsurteil des BVerfG oder mit der Entscheidung des französischen Conseil constitutionnel vom 16.7.1971.
Das ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung des EuGH von einem Föderal-Gericht (so ist übrigens auch der SCOTUS für das 19. Jh. zu charakterisieren) hin zu einem Bürgergericht. Mit der Entscheidung verbündet sich das Gericht akteurstheoretisch mit dem einfachen Bürger (der um die Privatheit seiner Daten besorgt ist) gegenüber den Institutionen EU-Kommission, EU-Rat und EU-Parlament und kann sich so als bürgernnäher gerieren …
Für gerade sensationell halte ich die Tatsache, dass der EuGH offenbar keinen Versuch unternimmt, die Richtlinie substanziell wenigstens teilweise zu retten, sei es durch eine teilweise Unvereinbarkeit mit der Charta, sei es durch Fristsetzungen o.ä., sondern ganz kategorisch die Nichtigkeit ex tunc erklärt. Das ist starker Tobak für die anderen Akteure auf europäischer Ebene, aber auch auf Ebene der Nationalstaaten.
Es bleibt abzuwarten, was dies mittelfristig institutionell für den EuGH und sein Verhältnis zu den anderen Akteuren in Brüssel, Straßburg und Luxemburg, aber auch zu den nationalen obersten Gerichten bedeutet – ich halte es für sehr gut möglich, dass der heutige Tag einen Wendepunkt markiert. Entscheidend wird freilich sein, was die Legislativen und Exekutiven tun, um ggf. die Entscheidung zu umgehen und ob die europäische(n) Öffentlichkeit(en) dies zulassen werden.
Mich erinnert die heutige Entscheidung auch an das schöne Cover des SPIEGEL nach der einstweiligen Anordnung des BVerfG zur Volkszählung im April 1983: “Der Spruch von Karlsruhe: Bonn ausgezählt”
http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1983-16.html
@Gerd Gosman: Dass Ihnen jetzt auch noch @Unaufmerksamer zustimmt haben Sie allerdings nicht verdient.
Sehen Sie, selbst ich kenne den Unterschied zwischen Kompetenz und Unfug.
Ich habe ein wenig das Gefühl, dass hier alle – Herr Steinbeiß im Bes. – erst fünf RedBull eingeschmissen und sich dann einen patriotischen Film angeschaut haben. Der EuGH hat eine Richtlinie gekippt – und jetzt? Der EuGH hat einmal in seinem Leben etwas für die Bürger getan und deswegen sind 60 Jahre Grundrechtsschutz durch das BVerfG ein unbedeutendes Gestern? Ein bürgerfreundliches Urteil und der EuGH hat das gleiche vollbracht, wie der Supreme Court, als der sich zur vierten Gewalt ernannte? Haben hier alle gekokst?
OK, das mit dem Koks war betrieben, aber sonst… Könnte mich jemand aufklären was an diesem Urteil außer der Tatsache, dass vorübergehend (niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass die VDS jetzt vom Tisch wäre, dafür ist sie zu verführerisch) die VSD-Richtlinie gekippt wurde hier so Besonderes passiert sein soll? Das Urteil freut mich persönlich, aber was soll sich denn hier gerade grundlegend verändert haben?
@Mittelaufmerksamer: Der EuGH guckt sehr viel sorgfältiger hin als der Grundrechtesenat des BVerfG. Das ist ganz wichtig, weil wir früher immer den Kindern erzählt haben, dass der EuGH schludert und Mist baut und nur das BVerfG die Weisheit in Marmor meißelt.
Hielte ich in dieser Absolutheit auch für übertrieben. Der EuGH findet die Richtlinie zu unbestimmt, während das BVerfG sich in Bezug auf die Richtlinie nur dahingehend geäußert hat, dass eine VSD als solche nicht von vornherein gegen Art. 10 verstößt. Sehe hier weiterhin keinen Grund, den EuGH zu hypen und als Rächer der Armen und Enterbten hinzustellen und so zu tun, als hätte das BVerfG die Bürgerrechte nicht 60 Jahre besser und weitaus umfassender geschützt.
Hier wird ein Urteil so hingestellt, als hätte der EuGH die Welt gerettet. Vielleicht wartet man erstmals ab, wie sich das Ganze in Zukunft entwickelt, bevor man dass BVerfG als unnötig auf den Schrottplatz der Rechtsgeschichte wirft…
@Mittelaufmerksamer: hier wird niemand auf den Schrittplatz geworfen. Aber das Hinspiel hat der EuGH soeben deutlich gewonnen. Das macht Eindruck auf die anderen Player in der Szene (nicht jeder, der hier schreibt, ist freilich Player).
Ich wundere mich über die teils euphorischen Schlussfolgerungen, die für die Rolle des EuGH gezogen werden.
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer – so siehts mE eher aus. Denn man muss doch den Kontext sehen: Die wahren Urteilsgründe liegen nicht im Willen der Richter, ernst zu machen mit Grundrechten als Abwehrrechten auch gegen die EU-Organe und einer Abkehr von der Funktion des EuGH als einem primär politischen Organ, sondern sind eine Reaktion auf den großen Widerstand, auf den die Vorratsdatenspeicherung gestoßen ist. Unter anderem auch eine Reaktion auf die Entscheidung des BVerfG (hätte es vorgelegt, wär’s vielleicht anders ausgegangen). Letztlich ist auch dieses Urteil von also nicht von aufrichtiger Grundrechtserkenntnis geprägt, sondern von der typischen politischen Logik, die die Spruchpraxis des EuGH prägt: Diesmal als publikumswirksames vordergründiges Signal genau mit dem Ziel, auch als “Bürgergericht” wahrgenommen zu werden, nur um ansonsten wieder “business as usual” betreiben zu können.
Woran liegt es, dass der EuGH kein Urteil mit abgestuften Rechtsfolgen gefällt hat? Ich schätze, irgendwann hat es ihm einfach gereicht:
– Verfassungsgerichte in Deutschland, Tschechien, Rumänien u. a. erklären die Umsetzungsgesetze für verfassungswidrig;
– Vertragsverletzungsverfahren gegen Schweden, Österreich und Deutschland;
– Klage von Irland wegen fehlender Rechtsetzungskompetenz;
– Ersuchen über die Gültigkeit von Gerichten aus Irland und Österreich;
– vielfältige Grundrechtsverstöße;
– fünfstellige Zahl an Beschwerdeführern je in Deutschland und Österreich.
Da würde ich mir als EuGH auch dreimal überlegen, ob ich mir ohne große Not die Mühe mache, noch irgendwie eine abgestufte Rechtsfolgenlösung zu finden, mit der ich im Zweifel weitere Gerichtsverfahren riskiere.
die meisten kommentare hier haben tendenziell recht mit ihrer skepsis, werden aber nicht fruchten. denn der blogeintrag und die kommentare des angeblich aufmerksamen lesers dürften sich weniger auf die reale rechtsprechung des EuGH beziehen, der in seiner Rolle als verfassungsgericht ja bestenfalls am anfang eines noch langen weges steht (und den er ohne gewisse karlsruher entscheidungen vermutlich nie begonnen hätte), als auf ein in der liberalen elite verbreitetes zerrbild, wonach alles prinzipiell fortschrittlich ist, wo irgendwie “europa” (in diesen kreisen, so verquer das auch ist, synonym mit “EU”) draufsteht. nur durch diese brille betrachtet konnten die differenzierten karlsruher “ja, aber”-entscheidungen als nationalistisch und rückwärtsgewandt bezeichnet werden.
@filtor: Ich habe hier noch nie den EuGH verteidigt. Gab es bisher auch wenig Grund zu. Gerade deswegen gibt die Entscheidung aber zu denken. Und nachdenken sollte man wohl gerade dann, wenn man sich (wie wir beide) an die glanzvollen Zeiten des BVerG und die Komplettausfälle des EuGH noch erinnern kann.