22 July 2022

Schwach, aber (sehr) gefährlich

Das Bolsonaro-Paradox

Wer von Ihnen das politische Geschehen in Brasilien verfolgt, weiß wahrscheinlich, dass Präsident Jair Bolsonaro in den Umfragen für die bevorstehenden Wahlen im Oktober zurückliegt. Sie werden wahrscheinlich auch wissen, dass Bolsonaro seit 2021 immer wieder damit gedroht hat, eine Wahlniederlage nicht zu akzeptieren. Mitte Juli berief Bolsonaro sogar ein Treffen mit Dutzenden ausländischen Diplomaten zusammen, um sie davon zu überzeugen, dass das brasilianische Wahlsystem derzeit weder transparent noch zuverlässig ist – und dass das Ergebnis im Falle seiner Niederlage nicht rechtmäßig ist. Auch die Geschichten vom Wahlbetrug, die seit Jahren unter seinen Anhängern kursieren, wurden von ihm wieder aufgewärmt – Geschichten, die bereits zahlreich durch Richter, Behörden, Medien und der Zivilgesellschaft widerlegt wurden. Der Oberste Wahlgerichtshof gab nach dem Treffen eine offizielle Erklärung ab, in der alle Behauptungen Bolsonaros nochmals überprüft und entkräftet wurden. Laut Bolsonaro sind jedoch die Wahlrichter selbst an den Betrügereien beteiligt. Er erzählte den Diplomaten, dass die für Wahlen zuständigen Behörden und die Justiz den in den Umfragen führenden Lula begünstigen (Umfragen, an die der Präsident nicht glaubt). Tatsächlich ist Bolsonaro davon überzeugt, dass sich das Wahlsystem, die Wahlrichter, die Presse und die Meinungsforscher verschworen haben, um seine Wahl zu “stehlen”.

Ein Katastrophenfilm in Zeitlupe

Mit Ausnahme der Treffen mit ausländischen Diplomaten wiederholt Bolsonaro jenes Skript seit über einem Jahr im Wochentakt. In seinen Reden hat er eine direkte Verknüpfung zwischen einem Wahlsystem, dem zu misstrauen ist, und dem bewaffneten Widerstand seiner Anhänger gezogen (die Ausweitung des Zugangs zu Schusswaffen ist eine der wichtigsten Maßnahmen der Regierung). Dies ist ein nur allzu bekanntes Muster. Donald Trump streute bei den US-Wahlen 2020 Betrugsvorwürfe, um seine Anhänger dazu aufzustacheln, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Bolsonaros Rückgriff auf Trumps Drehbuch fühlt sich für die Brasilianer wie das Drehbuch zu einem Katastrophenfilm an; ein Film, den wir schon einmal gesehen haben. Dieses Mal jedoch sehen wir ihn in Zeitlupe – und sein Ende könnte noch viel schlimmer sein, wenn man sich bewusst macht, welche Rolle das Militär in unserer Geschichte und in der Regierung Bolsonaros spielt (dazu gleich mehr).

Trotz alledem ist die Zivilgesellschaft aber nicht gelähmt. Viele Akteure haben Druck auf nationale Institutionen und internationale Organisationen ausgeübt, um zu handeln. So hat beispielsweise eine Gruppe brasilianischer Rechts- und Politikwissenschaftler (“Demos”, der ich angehöre) eine Petition an den UN-Sonderberichterstatter für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten und an die Interamerikanische Menschenrechtskommission gerichtet, in der sie Bolsonaros Desinformation, die Aufstachelung zu politischer Gewalt und die direkte Einschüchterung von Wahlrichtern anprangern. Es gibt aber auch zahlreiche weitere Beispiele für derartige Reaktionen aus der Zivilgesellschaft. Denn die drohende Gefahr ist in Brasilien hinreichend sichtbar – und wird auch für internationale Beobachter immer deutlicher.

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Dennoch intensiviert Bolsonaro seine Drohungen sogar. Wie ist es möglich, dass sich so ein Verhalten der Kontrolle entzieht? Sollte ein Verfassungsstaat nicht über wirksame Mechanismen verfügen, um mit expliziten Drohungen eines Präsidenten, die an die Wurzel der Demokratie, den friedlichen Machtwechsel, gehen, umzugehen? Wie kann es sein, dass ein Präsident wiederholt und öffentlich derartige Absichten ankündigt und seine Anhänger auffordert, sich ihm bei einem schon terminierten Angriff auf die Wahlergebnisse anzuschließen? Und damit auch noch durchkommen?

Das Bolsonaro-Paradox

Die Frage stellt uns vor ein Paradox. Auf der einen Seite ist Bolsonaro ein schwacher Präsident. Das Problem liegt hier weder im “Hyperpräsidentialismus” noch in der “delegativen Demokratie” – zwei Konzepte, die zur Beschreibung lateinamerikanischer Systeme entwickelt wurden, in denen der Regierungschef in der Phase zwischen den Wahlen in seiner Regierungsgewalt weitgehend unkontrolliert ist. Tatsächlich ist die Lücke zwischen dem, was Bolsonaro erreichen will und dem, was er erreicht, groß – und während seiner Amtszeit hat sogar das Präsidentenamt selbst wichtige Haushaltsbefugnisse eingebüßt. Auf der anderen Seite ist Bolsonaro eine Bedrohung für die Demokratie. Er hat sie bereits auf vielen Ebenen beschädigt und Unsicherheit darüber gesät, ob Wahlen eine friedliche Machtübergabe ermöglichen werden.

Wie kann ein so schwacher Präsident so gefährlich sein?

Ich glaube, das Problem besteht darin, dass eine zu „einseitige“ Verantwortlichkeit des Präsidenten im horizontalen Verhältnis seine vertikale, die elektorale Verantwortlichkeit an der Urne im Oktober gefährden könnte. Auch wenn Bolsonaros formales Handeln erheblich eingeschränkt wurde, so wurde er doch nie persönlich für sein Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen – und wird es wahrscheinlich auch bis nach den Wahlen nicht. Es gibt kein Amtsenthebungsverfahren, kein Strafverfahren und keine Sanktionierungen mit Blick auf die Wahl, die für seine Handlungen relevante persönliche Konsequenzen oder Kosten nach sich ziehen würden (z. B. Amtsenthebung oder eine Wahlsperre für öffentliche Ämter). Zurzeit ist Bolsonaro frei in seinem Handeln und Reden, um Unterstützung zu mobilisieren, ganz wie es ihm gefällt – auch wenn seine Macht, politische Vorhaben und Gesetze auf den Weg zu bringen, stark eingeschränkt wurde.

Wissenschaftler haben versucht, die verschiedenen Mechanismen zu kartieren, mit denen ein Präsident ohne eine tragfähige legislative Koalition dennoch Einfluss auf einige Politikbereiche nehmen kann. Das Desaster, das heutzutage in Brasilien als „Umweltpolitik“ durchgeht, entspricht zum Beispiel sehr gut den Vorstellungen Bolsonaros. Es gibt viele andere ähnlicher solcher Projekte, auf die hier einzugehen ihnen aber nicht gerecht werden würde. Was ich als „einseitige horizontale Verantwortlichkeit“ bezeichne, ist nur ein Teil des Puzzles.

Tatsächlich wurden Bolsonaros formale Maßnahmen immer wieder durch Institutionen überprüft, insbesondere seit Beginn der Pandemie. Kein anderer Präsident seit der Demokratisierung hat so viele Niederlagen vor Gericht erlitten. So hat der Supreme Court mehrere seiner Dekrete, mit denen der Zugang der Bevölkerung zu Schusswaffen ausgeweitet werden sollte, suspendiert. Auch unterlag der Präsident in praktisch allen Fällen, in denen er eine ausdrückliche Position zur Covid-19-Pandemie vertrat. Der Supreme Court und der Oberste Wahlgerichtshof haben mehrere Anhänger Bolsonaros (darunter auch Mitglieder des Kongresses) sanktioniert, die in den sozialen Medien Richter angegriffen oder bedroht, eine Rückkehr des Militärs an die Macht verteidigt oder Desinformationen über das elektronische Wahlsystem verbreitet haben.

Im September 2021 lehnte der Kongress zudem eine Verfassungsänderung ab, die die Einführung einer individuellen, gedruckten “Quittung” für jede abgegebene Wahlstimme vorsah – ein unpraktischer, simplistischer Vorschlag, der direkt aus dem Lager Bolsonaros stammte und den der Präsident als unabdingbare Voraussetzung für die Wahlen im Jahr 2022 darstellte. Darüber hinaus hat der Kongress weder Bolsonaros Versuche unterstützt, Verfassungsrichter ihres Amtes zu entheben, noch die von den politischen Verbündeten des Präsidenten vorgeschlagenen Maßnahmen zur Schwächung der Justiz gebilligt. Ebenso wenig hat er seine verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Bolsonarista Abgeordneten zu schützen, die die Richter des Supreme Courts direkt angegriffen hatten.

Kontrolle ohne Verantwortlichkeit?

So viel die Richter auch tun (und das haben sie), es wird nicht ausreichen. Bolsonaro befindet sich außerhalb der Reichweite der Justiz. Es sind die Gerichte, die seine Maßnahmen kassieren, aber es ist der Kongress, der den Schlüssel für die persönliche Verantwortung des Präsidenten in der Hand hält. Sowohl ein Amtsenthebungsverfahren (über das der Senat entscheidet) als auch ein reguläres Strafverfahren (über das der Supreme Court entscheidet) müssten von einer 2/3-Mehrheit des Kongresses gebilligt werden – und Bolsonaro verfügt eindeutig über genügend Stimmen, um dies zu verhindern. Daneben kann eine Anklage gegen den Präsidenten nur von der Generalstaatsanwaltschaft erhoben werden. Der derzeitige Generalstaatsanwalt, Augusto Aras, wurde von Bolsonaro 2019 für eine zweijährige Amtszeit ernannt. Bolsonaro hat mehr als einmal angedeutet, dass Aras auf seiner Liste möglicher Kandidaten für den Supreme Court steht. Seit seiner Ernennung gilt Aras als so nachsichtig und passiv gegenüber Bolsonaros Verhalten (einschließlich seines geradezu kriminellen Umgangs mit der Pandemie), dass sogar ein ansonsten diskreter Richter des Supreme Courts ihn in einer Entscheidung als “Hauptzuschauer der Republik” kritisierte.

Und dennoch: Als Aras 2021 vor dem Senat zu seiner Bestätigung als Generalstaatsanwalt erschien, stimmten nur 10 der 81 Senatoren gegen ihn. Die meisten oppositionellen Senatoren stimmten dafür, ihn für weitere zwei Jahre zu bestätigen. Aras’ Unterstützung im Kongress, selbst bei der Opposition, war vor allem auf seine kritische Haltung zum “Car Wash”-Korruptionsskandal und den anschließenden strafrechtlichen Ermittlungen gegen Politiker zurückzuführen, die in Brasilien sehr umstritten waren. Unabhängig von den Motiven der Senatoren war es jedoch offensichtlich, dass die Wiederernennung von Aras Bolsonaro die Gewissheit gab, dass er während seiner Amtszeit nicht mit einem Strafverfahren rechnen muss.

Aus unterschiedlichen und widersprüchlichen Gründen scheint eine große Mehrheit des Kongresses damit zufrieden zu sein, dass keine Maßnahmen ergriffen werden, um Bolsonaro aus dem Amt zu entfernen. Der Kern seiner Koalition der Verteidiger ist eine amorphe Masse von Politikern des mittleren bis rechten Spektrums, die ihn vor einem Amtsenthebungsverfahren schützen, um im Gegenzug Kontrollrechte über den Haushalt und andere Regierungsbereiche zu erhalten. Klientelismus ist Teil von Politik. Aber indem jene Politiker die Schwäche eines Präsidenten ausbeuten, der für seinen Verbleib im Amt und seine Wiederwahl unbedingt auf ihre Unterstützung angewiesen ist, setzen sie die Demokratie aufs Spiel. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die zentrale Entscheidungsgewalt in Brasilien heute nicht bei Bolsonaro, sondern beim Parlamentssprecher Arthur Lira, liegt. Ebenso wie Aras hat auch in Lira Bolsonaros Mobilisierung von Widerstand gegen eine Wahlniederlage keinen Anlass für Maßnahmen gesehen. Sie tragen dazu bei, den Zug in Richtung Klippe zu steuern – mit offenen Augen, mit unkontrolliertem Ehrgeiz.

Die Opposition wiederum ist aus verschiedenen Gründen ob der unmittelbaren persönlichen Verantwortlichkeit Bolsonaros gespalten. Der Kandidat der Arbeiterpartei (PT), der ehemalige Präsident Lula, liegt in den Umfragen vorn. Eine Niederlage Bolsonaros bei den Wahlen wäre nicht nur für die PT ideal, sondern wohl auch für das Land selbst – denn dieselben Menschen, die ihn 2018 gewählt haben, sagen nun, dass er gehen soll. Je mehr die Opposition jedoch auf einen Wahlsieg Lulas setzt, umso stärker reagiert Bolsonaro mit seinen Attacken auf das Wahlsystem und die Wahlgerichte, die es am Laufen halten. Die Oppositionsstrategie geht davon aus, dass wir im Oktober Wahlen haben werden, dass diese nicht von politischer Gewalt beeinflusst werden, dass ihr Ergebnis anerkannt wird und dass die Macht im Januar 2023 friedlich übergeben wird. Während ich dies schreibe, mögen diese Annahmen immer noch eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich sein – aber in der Ära Bolsonaro sind sie alles andere als sicher.

Es sind also ganz unterschiedliche (und teils sogar gegensätzliche) politische Kalküle entlang des politischen Spektrums, die es unwahrscheinlich gemacht haben, dass sich der Präsident verantworten muss. Einige wollen, dass Lula gewählt wird, andere setzen auf die Urnen als Mittel der Rechenschaft, und wieder andere wollen gerade diesen schwachen, in Ungnade gefallenen Präsidenten als endlosen Lieferanten von Vorteilen und Macht. Auch wenn es sich bei den ersten beiden Positionen um legitime Positionen handelt – sie alle drei sind Teil eines Szenarios, in dem Bolsonaro weiterhin alle Grenzen überschreiten kann.

Bis zur Wahl ist Bolsonaro praktisch unantastbar – und er weiß das. Mit diesem Maß an Unantastbarkeit und Freiheit nutzt Bolsonaro seine Worte und sein Verhalten, um seine Absetzung im Falle einer Niederlage bei den Wahlen im Oktober zu verhindern. Er wird die Menschen weiterhin gegen das Wahlsystem mobilisieren, eine Niederlage nicht akzeptieren und nach Wegen suchen, um unabhängig von den Wahlen – oder sogar ohne sie – im Amt zu bleiben. Sich nur auf eine Verantwortlichkeit durch Wahlen zu konzentrieren, macht eine horizontale (persönliche) Verantwortlichkeit unwahrscheinlich; und umgekehrt gefährdet das Fehlen persönlicher Verantwortlichkeit wiederum die Verantwortlichkeit durch Wahlen.

Die Rolle des Militärs

Bolsonaros Pläne und Absichten sind ebenso klar wie seine Worte. Aber hat er auch die Mittel, um sie durchzusetzen? Sind seine Drohungen glaubwürdig? In den USA ist der Putschversuch von Trump gescheitert. Wird also auch Bolsonaro einfach behaupten, die Wahl sei gestohlen worden, um danach lediglich nach Hause zu gehen und seine Wunden zu lecken?

Hier unterscheidet sich Brasilien deutlich von den USA. Trump konnte sich nicht auf das Militär verlassen. Aber das brasilianische Militär war vom ersten Tag an fester Bestandteil von Bolsonaros Regierung (sein Vizepräsident ist beispielsweise ein pensionierter Armeegeneral) – und das in zunehmendem Maße. Die Zahl der Militärangehörigen in Kabinettspositionen oder bürokratischen Ämtern hat ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. In einer Demokratie wäre dies an sich schon beunruhigend, aber 2022 hat sich die Lage noch weiter zugespitzt. Die Militäroffiziere der Regierung Bolsonaro haben die Kampagne gegen die Wahleinrichtungen unterstützt. Der Oberste Wahlgerichtshof lud die Armee ein, um an einer Kommission für die Transparenz und Verbesserung des Wahlsystems teilzunehmen. In ihrer Zusammenarbeit mit der Kommission hat die Armee jedoch im Wesentlichen die Angriffe des Präsidenten auf das Wahlsystem wiederholt. Um nur einen von vielen solcher Vorfälle zu erwähnen: Vor ein paar Wochen erschien der Verteidigungsminister, ein Armeegeneral, vor dem Senat, nur um Bolsonaros Ansichten über das elektronische Wahlsystem zu wiederholen. Und auch viele hochrangige Armeeoffiziere haben Bolsonaros Angriffe auf das Wahlsystem öffentlich legitimiert.

Zwar waren dem Journalisten einer großen Zeitung zufolge einige Generäle im aktiven Dienst, die sich von einem Diskurs des Putsches distanzieren wollen, über das Treffen Bolsonaros mit ausländischen Diplomaten verärgert. Die Armee veröffentlichte jedoch alsbald eine Pressemitteilung, in der sie dies dementierte. Was auch immer in den Streitkräften vor sich geht, die brasilianische Demokratie kann sich in dieser Frage keine Zweideutigkeiten leisten. Das Militär muss aufhören, die Angriffe des Präsidenten auf das Wahlsystem zu unterstützen, selbst wenn dies bedeutet, dass es sich aus der Regierung selbst zurückzieht. Bolsonaro muss spüren, und die Öffentlichkeit sicher wissen, dass das Militär niemals den Versuch unterstützen oder ermöglichen wird, Wahlergebnisse zu missachten.

Zurzeit ist Bolsonaro schwach, aber im Genuss der Freiheit, offen die Unterstützung dafür zu mobilisieren, seine Wahlniederlage nicht zu akzeptieren. Es scheint zu spät dafür zu sein, dass die Politik ihren Fokus von der Verantwortlichkeit Bolsonaros an der Urne auf seine institutionelle Verantwortlichkeit als Präsident verschiebt. Wir können also nur hoffen, dass Bolsonaros Drohungen nicht glaubwürdig sind. Im Lichte der Verstrickung des Militärs mit Bolsonaro, aber auch der Rolle des Militärs bei mehreren Putschen in der brasilianischen Geschichte braucht es aber mehr als ein paar anonyme Zitate von angeblich rechtstreuen Offizieren. Bis dahin bleibt nur, die Drohungen Bolsonaros ernst zu nehmen.

Diego Werneck Arguelhes, 22. Juli 2022

Die Woche auf dem Verfassungsblog

SARAH GANTY und DIMITRY VLADIMIROVICH KOCHENOV üben scharfe Kritik an einem kürzlich ergangenen Urteil des EGMR zu den Rentenansprüchen von “Nichtstaatsangehörigen Lettlands”. Der Gerichtshof betreibt damit Victim Blaming und ändert seine bestehende Rechtssprechung. Dies geschah in einer Weise, die auch dem Gedanken der Nichtdiskriminierung als solchem widerspricht.

Nur zwei Wochen vor dem Rücktritt von Premierminister Boris Johnson hat die britische Regierung ihren Entwurf für eine Bill of Rights Bill veröffentlicht. Der Entwurf zielt auf die Aufhebung und Änderung des Menschenrechtsgesetzes von 1998 ab, mit dem die EMRK in das britische Recht inkorporiert wurde. Der Gesetzentwurf, so kritisiert GIULIA GENTILE, ist Ausdruck eines allgemeinen Trends in der britischen Politik, völkerrechtliche Verpflichtungen einseitig zu ändern (oder sogar zu umgehen).

Die polnische Ministerin für Klima und Umwelt, Anna Moskwa, hat beschlossen, den Verkauf minderwertiger Kohle für 60 Tage zu erlauben. Das bedeutet, dass die Haushalte Steinkohle mit einem höheren Schwefel- und Quecksilbergehalt sowie schädliche Bergbauabfälle kaufen können. Laut OLGA HAŁUB-KOWALCZYK sorgt diese Entscheidung für erhebliche Kontroversen, nicht nur unter Klimaaktivist:innen.

Vor einigen Tagen hat die georgische Regierung eine Verfassungsklage gegen die georgische Präsidentin vor dem Verfassungsgericht eingereicht. Viele in Georgien, und nicht nur dort, glauben, dass die Regierung versucht, die Befugnisse der Präsidenten zu beschneiden und sie für ihre pro-europäischen politischen Aktivitäten zu bestrafen. TINATIN ERKVANIA zeigt, warum die Rechtspositionen der Regierung stärker sind, als man meinen könnte.

Der srilankische Präsident Gotabhaya Rajapaksa ist am 14. Juli 2022 endgültig zurückgetreten. Dies ist ein enormer Sieg für das Volk, das seine Souveränität durch täglichen Aktivismus behauptet hat. Jetzt muss auf die schwere Wirtschaftskrise reagiert und mit den verschiedenen Demonstrant:innen in einem verfassungspolitischen Rahmen zusammengearbeitet werden. Dafür ist es unerlässlich, die Krise in Sri Lanka als verfassungsrechtlichen Moment zu erkennen und rechtspolitische Reformen einzuführen, meint BINENDRI PERERA.

Das Ministerkomitee des Europarats, das für die Überwachung der Einhaltung der EGMR-Urteile zuständig ist, wird nun darüber beraten, wie mit der nun gerichtlich bestätigten Nichtfreilassung Kavalas durch die Türkei umzugehen ist. Die Suspendierung der Mitgliedschaft der Türkei im Europarat ist eine Option, die zumindest theoretisch im Raum steht. Der Fall Kavala ist jedoch größer als Kavala selbst, schreibt CEM TECIMER.

Digitale Angebote haben längst den Medienmarkt erobert. Wenn man dem Verwaltungsgericht Berlin folgt, bewegen sich Online-Medien jedoch möglicherweise im grundrechtlichen Niemandsland, zumindest was die Medienfreiheiten und die sich daraus ergebenden Auskunftsansprüche gegenüber Behörden betrifft. DAVID WERDERMANN kritisiert die “Boomer-Vibes” des Verwaltungsgerichts, nach der Pressefreiheit nur für „Druckerzeugnisse“ gilt.

Dass die von Justizminister Marco Buschmann angekündigte Ergänzung des Katalogs der in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB aufgezählten Strafzumessungsgründe um die Merkmale der „geschlechtsspezifischen“ und „gegen die sexuelle Orientierung gerichteten“ Beweggründe auf verhaltene Reaktionen stößt, ist nicht verwunderlich. Dies zeigt, dass geschlechtsspezifische Gewalt in Deutschland nicht ernst genug genommen wird. DILKEN ÇELEBI begrüßt deshalb den Vorstoß des Ministers.

Die Journalistin Birte Meier kämpft seit Jahren dafür, den gleichen Lohn wie ihre männlichen Kollegen zu bekommen. Ihr Weg zur Entgeltgleichheit und (Geschlechter-)Gerechtigkeit gleicht einer Odyssee. JOHANNA WENCKEBACH bespricht die kürzlich erschienene Entscheidung des BVerfG: ein halber Sieg. Doch die seit 2015 geführten Verfahren, die noch immer nicht abgeschlossen sind, zeigen deutlich, dass es für allgemein durchsetzbare Entgeltgleichheit gesetzliche Reformen bedarf.

Diese Woche vor 24 Jahren wurde das Römische Statut des Internationalen Strafgerichthofs (IStGH) verabschiedet. Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch wird von vielen als mustergültige Umsetzung des Völkerstrafrechts auf nationalstaatlicher Ebene angesehen. TANJA ALTUNJAN und LEONIE STEINL weisen allerdings auf eine zentrale Schutzlücke des Völkerstrafgesetzbuches hin, nämlich bei den Straftaten gegen die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung.

Nach dem Rücktritt der Documenta-Geschäftsführerin soll nunmehr in Ruhe besprochen werden, was schief gelaufen ist auf der Kunstausstellung in Kassel. Findet die Kunstfreiheit tatsächlich ihre Grenzen in dem Schutz gegen Antisemitismus, wie Kulturstaatsministerin Claudia Roth zitiert wird? LOTHAR ZECHLIN erkärt, warum zumindest in dieser Pauschalität, diese Aussage nicht zutrifft.

Nach der Tötung von George Floyd in den USA und einer Vielzahl an deutschen Polizeiskandalen begann man auch in Deutschland verstärkt über Polizeigewalt, Racial Profiling und Rechtsextremismus in der Polizei zu diskutieren und die Öffentlichkeit drängte auf eine großangelegte Studie. Die Durchführung dieser sog. Rassismusstudie lehen nun allerdings die Hauptpersonalräte der Polizei in Baden-Württemberg und Hamburg ab. Warum das nicht geht, bespricht SARAH PRAUNSMÄNDEL.

Claudia Pechstein ist eine außergewöhnliche Sportlerin. Im Gerichtssaal hat sie Entschlossenheit gezeigt und sich geweigert, vor einem erbitterten und teuren Rechtsstreit zurückzuschrecken. Die jüngste Entscheidung in Claudia Pechsteins juristischer Odyssee, eine Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, ist über den deutschen Kontext hinaus interessant. Sie betrifft eines der aktivsten und zugleich am wenigsten erforschten Gerichte der Welt: ANTOINE DUVAL über den Internationalen Sportsgerichtshof.

Der Inlandsgeheimdienst stehe „vor den größten Änderungen seiner Geschichte“, schreibt Ronen Steinke unter Berufung auf Informationen aus dem Innenministerium. ANNA MICHEL begrüßt grundsätzlich die Reformideen, nach denen unter anderem der Unabhängige Kontrollrat gestärkt werden soll. Allerdings gehen die Pläne nicht weit genug.

Was tun, wenn nicht mehr jeder Mensch medizinisch bestmöglich behandelt werden kann, wenn es zur Triage kommt? TIM REIẞ kritisiert den aktuellen Entwurf eines  „Triage-Gesetzes“. Das auch nach dem Urteil des BVerfG ungeklärte Problem mittelbarer Diskriminierung behinderter Menschen wird durch sprachliche Tricks lediglich verschleiert.

Rückkehrprämien werden in asylgerichtlichen Entscheidungen immer häufiger bei der Bewertung der Gefahr einer humanitären Notlage im Heimatland berücksichtigt. Das Bundesverwaltungsgericht hat nun den Volltext einer Grundsatzentscheidung zu diesem Thema veröffentlicht, welche VALENTIN FENEBERG bespricht. Maßgeblich ist danach, ob Rückkehrhilfen eine „alsbaldige“ Verelendung verhinderten; eine nachhaltige Existenzsicherung im Heimatland sei unerheblich.

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SUGGESTED CITATION  Arguelhes, Diego Werneck: Schwach, aber (sehr) gefährlich: Das Bolsonaro-Paradox, VerfBlog, 2022/7/22, https://verfassungsblog.de/schwach-aber-sehr-gefahrlich/, DOI: 10.17176/20220723-061804-0.

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