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06 October 2022

Auto fahren oder Klima retten?

Ziviler Widerstand und die Zweck-Mittel-Relation

Vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten finden zurzeit Prozesse gegen Aktivist:innen von Letzte Generation statt. Diese hatten sich an verschiedenen Straßen in Berlin festgeklebt, um auf die unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen aufmerksam zu machen (die BZ prägte deshalb auch den Begriff „Klima-Kleber“). Dadurch kam es teilweise zu Straßensperren und Staus. Die jüngst ergangenen Urteile werfen die Frage nach den strafrechtlichen Grenzen von zivilem Widerstand (non-violent resistance) bzw. zivilem Ungehorsam (civil disobedience) auf: Kann Klimaschutz ein strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund sein?

Festkleben als Nötigung?

Bislang hat das Amtsgericht Berlin-Tiergarten den 20-jährigen Nils R. wegen Nötigung nach § 240 StGB und den 22-jährigen Henning J. wegen versuchter Nötigung (in seinem Fall kam es nicht zu einem Stillstand des Verkehrs) nach §§ 240, 22, 23 I StGB verurteilt. Die Richter:innen brachten in beiden Fällen ihr Verständnis für das Anliegen der Aktivist:innen – auf den Klimawandel aufmerksam zu machen – zum Ausdruck, hielten das Festkleben aber nicht für ein „geeignetes Mittel“. Man könne, so der Richter im Fall von Nils R., nicht „die Rechte eines anderen einfach verletzen, nur weil man glaube, das Richtige zu tun“. Es stellt sich also in den aktuellen Prozessen die im Rahmen der Sitzblockaden bekannte Frage, ob das Blockieren von Straßen zu politischen Zwecken eine strafbare Nötigungshandlung ist.

Dabei lässt sich bereits anzweifeln, ob „Festkleben“ als „Gewalt“ im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB zu werten ist. Die extensive Auslegung des Gewaltbegriffs ist schon seit der „Laepple-Entscheidung“ umstritten (hierzu Fischer, StGB 2022, Rn. 11 ff. m.w.N.). Auch die aktuelle „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs ist nicht unbedingt überzeugend. In den aktuellen Prozessen drehte sich die Diskussion aber darum, ob der Klimaschutz einen Rechtfertigungsgrund darstellen kann. § 240 StGB ist ein sogenannter „offener Tatbestand“: Der Grundsatz, dass die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit der Tat indiziert, gilt hier nicht. Vielmehr muss die Rechtswidrigkeit positiv festgestellt werden.

Klimaschutz als allgemeiner Rechtfertigungsgrund?

Allerdings wäre die Tat nicht rechtswidrig, wenn man annimmt, dass es angesichts des bereits stattfindenden Klimawandels eine Klimanotwehr oder einen Klimanotstand gibt. Ähnliche Fragen werden in Bezug auf den Schutz von Tieren bereits diskutiert: In einer viel beachteten Entscheidung von 2018 hatte das Oberlandesgericht Naumburg eine Strafbarkeit von Tierschützer:innen, die in einen Schweinemastbetrieb eingedrungen waren, um die dortigen Missstände zu dokumentieren, wegen Hausfriedensbruch nach § 123 StGB verneint. Dabei hatten die Vorinstanzen angeregt, Tiere als „ein anderer“ im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB anzusehen. Das Oberlandesgericht Naumburg ließ dies in seinem Urteil offen, wies aber darauf hin, dass jedenfalls § 34 StGB im Lichte von Art. 20a GG auszulegen und der Tierschutz ein notstandsfähiges Rechtsgut sei.

Die sich aus Art. 20a GG ergebende Schutzpflicht bezieht sich nicht nur auf Tiere, sondern auch „in Verantwortung für künftige Generationen [auf] die natürlichen Lebensgrundlagen“. Nach dem Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021 stellt die Vereinbarkeit mit Art. 20a GG „eine Voraussetzung für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung staatlicher Eingriffe in Grundrechte“ dar, wobei „das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel“ zunimmt.

Eine strafrechtliche Verurteilung stellt einen der stärksten staatlichen Eingriffe dar, den man sich denken kann. Bereits die bloße Tatsache, einem Strafprozess ausgesetzt zu sein, bedeutet einen einschneidenden Eingriff in das Leben von Individuen. Insofern müssen auch die Normen des Strafgesetzbuches im Lichte von Art. 20a GG ausgelegt werden, zumindest solange, wie sich dies zugunsten der Beschuldigten auswirkt (zulasten der Beschuldigten verbietet das Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung).

Daher ließe sich überlegen, die Argumentation des Oberlandesgericht Naumburg und der Vorinstanzen auf das Klima zu übertragen und eine Klimanothilfe oder einen Klimanotstand als allgemeinen Rechtfertigungsgrund anzunehmen.

Eine solche erweiternde Auslegung der Nothilfe nach § 32 Abs. 2 StGB scheint aber mit dem Wortlaut („ein anderer“) kaum mehr vereinbar – zumindest solange nicht, wie man die Natur nicht als eigenes Rechtssubjekt anerkennt. Außerdem bestehen angesichts der „Schneidigkeit des Notwehrrechts“ (insbesondere: keine Verhältnismäßigkeitsprüfung der Notwehrhandlung) große Bedenken dagegen, eine Klimanothilfe anzunehmen. § 32 StGB lässt die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Abwägung zwischen Klimaschutz und anderen Verfassungsgütern nicht zu. Sinnvoller ist es daher, über einen möglichen Klimanotstand nach § 34 StGB nachzudenken. Hiernach könnte das Klima dem Wortlaut nach problemlos als „ein anderes Rechtsgut“ ein notstandsfähiges Rechtsgut darstellen. Auch beschränkt der Notstand zulässige Notstandshandlungen durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Allerdings ist nach § 34 StGB eine Notstandslage nur gegeben, wenn die Gefahr für das Rechtsgut gegenwärtig ist. Wie bestimmt sich also die Gegenwärtigkeit der Gefahr für das Klima? Hier würde wohl Unterschiedliches vertreten. Man könnte beispielsweise davon ausgehen, dass die Klimagefahr eine „Dauergefahr“ ist. Zu berücksichtigen ist jedenfalls der Leitsatz des Klimabeschlusses des Bundesverfassungsgerichts, wonach „das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel“ zunimmt. Damit würde also die Intensität der Klimagefahr kontinuierlich zunehmen. Diese zunehmende Intensität der Klimagefahr ist wiederum in die Verhältnismäßigkeitsprüfung der Notstandshandlung einzustellen. Diese ist in jedem Fall anhand der Umstände des konkreten Falles zu prüfen.

Verwerflichkeit vs. ziviler Widerstand

Selbst wenn man aber eine Rechtfertigung in unserem Fall nach § 34 StGB verneint, kommt als besonderer Rechtfertigungsgrund noch die Verwerflichkeitsklausel nach § 240 Abs. 2 StGB in Betracht. Hiernach ist eine Nötigungshandlung nur dann rechtswidrig, „wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist“. Zur Bestimmung der Verwerflichkeit sind „Nötigungsmittel und Nötigungszweck in ihrer Verknüpfung (sog. Zweck-Mittel-Relation) in einer Gesamtwürdigung in Beziehung zu setzen“ (Fischer, StGB 2022, § 240 Rn. 40 m.w.N.). Die Verwerflichkeitsklausel ist aufgrund der zunehmenden Ausweitung des Nötigungstatbestands 1943 als Korrektiv eingeführt worden, „um strafwürdiges von (noch) sozialadäquatem Verhalten abzugrenzen“ (Fischer, § 240 Rn. 38 m.w.N.). Die Abgrenzung von sozial gebilligtem und sozial missbilligtem Nötigungsverhalten ist auch in einem sozialstaatlichen System, das durch viele sichtbare und unsichtbare Abhängigkeitsverhältnisse strukturiert ist, schwer zu ziehen. Die Verwerflichkeit einer Nötigungshandlung muss daher immer im Einzelfall bestimmt werden, sowohl in der Variante des „Drohens“ (§ 240 Abs. 1 Var. 2 StGB) als auch der „Gewalt“ (§ 240 Abs. 1 Var. 1 StGB), insbesondere dann, wenn der Gewaltbegriff wie beim Festkleben weit ausgelegt wird. Die Verwerflichkeitsklausel funktioniert also als ein Einfallstor für gesellschaftliche Wertungen. Diese Wertungen sind heute allerdings durch die Verfassung bestimmt.

Nach der herrschenden Meinung ist eine Nötigung als verwerflich anzusehen, wenn sich der:die Täter:in „anmaßt, den Staat mit Nötigungsmitteln zu vertreten“ (Fischer, § 240 Rn. 41a). Dabei haben die Aktivist:innen von „Letzte Generation“, viele unter 25 Jahre alt, immer wieder betont, dass ihnen keine andere Möglichkeit bleibe, um auf die Belange der Umwelt aufmerksam zu machen, als sich Formen des zivilen Widerstands zu bedienen. Denn Klimademonstrationen gibt es schon seit über 50 Jahren. Geändert hat sich wenig. Es könnte hier also kein Fall der angemaßten, sondern der notwendigen Vertretung des Staates vorliegen: Die Aktivist:innen weisen gerade auf den aus ihrer Sicht bestehenden Missstand hin, dass der Staat sein Gewaltmonopol zu Unrecht nicht ausübt und nicht selbst die Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer:innen (zumindest in Städten wie Berlin) beschränkt. Ziviler Widerstand etwa in der Form von Sitzblockaden ist der Bruch des Rechts innerhalb des Rechts, laut Tim Wihl eine „Protestform von höchsten demokratischen Weihen“. Das Recht muss diesen Rechtsbruch notwendigerweise einpreisen Es geht also darum, zu bestimmen, welches Maß an zulässigem Widerstand das Recht noch verkraften kann und wo das staatliche Gewaltmonopol derart bedroht ist, dass der Staat, auch mit den Mitteln des Strafrechts, eingreifen muss, um die Geltung des bestehenden Rechts zu behaupten. Kurze Zwischenfrage: Ist „Klima-Kleben“ also ein plastisches Beispiel für das von Christoph Menke vorgeschlagene Gegenrechtskonzept?.

Fischers Fehlschluss

Thomas Fischer ist der Meinung, dass die Aktivist:innen es durch ihren Normbruch bewusst auf einen Strafprozess angelegt hätten. Wir sollten sie daher, so Fischer, „nicht wie Kinder behandeln“, sondern ernst nehmen und verurteilen. Richtig ist, dass es den Aktivist:innen tatsächlich um den Bruch der Normalität geht, denn es soll gerade ein Aufmerksamkeitsmoment erzeugt werden, aus dem eine revolutionäre Kraft erwachsen kann. Falsch ist aber die Annahme, dass kalkulierter Normbruch notwendigerweise kalkulierte Verurteilung bedeutet. Der Fehlschluss beruht darauf, dass Fischer das Stoppen des Klimawandels nach wie vor als bloßes „Fernziel“ ansieht, das im Kontrast zum „Tatziel“ (der Beeinträchtigung der Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer:innen) steht. Die Autofahrer:innen würden deshalb, so Fischer in Anlehnung an Kant, zu bloßen „Objekte[n] fremder (Täter)Interessen“ gemacht. An dieser Argumentation lässt sich so gut wie jeder Punkt anzweifeln: Werden die Autofahrer:innen zu „Objekten“, wenn sie für einen kurzen Zeitraum im Stau stehen? Handelt es sich wirklich um „fremde“ Interessen und wenn ja, um wessen Interessen geht es hier?

Es ist schon etwas pathetisch, zu behaupten, dass Autofahrer:innen, wenn sie für einen kurzen Zeitraum im Stau stehen, von Subjekten zu (willenlosen) Objekten werden. Die Fortbewegungsfreiheit von Autofahrer:innen (und nicht nur dieser) ist in einer Stadt wie Berlin ständig beeinträchtigt. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass das Tatziel – die Autofahrer:innen – nicht willkürlich gewählt wurden. Denn diese tragen ja durch ihr Autofahren zum Klimawandel ganz maßgeblich bei. Man könnte also genauso gut argumentieren, dass die Autofahrer:innen alle, insbesondere jüngere Menschen, die mit den Folgen des Klimawandels werden leben müssen, zum Objekt ihres Handelns machen. Es ist also die alte Frage der Rechtsform als Herrschaftsinstrument: Wer definiert, was die Norm ist und was ihr Bruch?

Es handelt sich beim Klimaschutz ferner, wie durch das Bundesverfassungsgericht nun ausdrücklich klargestellt, keinesfalls um „fremde (Täter)Interessen“, sondern um eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung des Staates auch in Bezug auf künftige Generationen.“

Klimaschutz stellt also nicht (mehr) ein Fernziel dar, das als politische Motivation der Aktivist:innen im Rahmen von § 240 Abs. 2 StGB nicht zu berücksichtigen ist (s. Fischer, § 240 Rn. 44). Es ist ein eigenes verfassungsrechtliches Schutzgut, das bei der Erfassung des „sozialen Sinngehalts sowohl des Nötigungsmittels als auch des abgenötigten Verhaltens“ (Fischer, § 240 Rn. 43a) einzustellen ist.

Die Zeiten ändern sich

Es gibt damit einen entscheidenden Unterschied zwischen den „Klima-Klebern“ von heute und früheren Sitzblockaden: Das gesellschaftliche Klima hat sich (mit der zunehmenden Veränderung des tatsächlichen Klimas) gewandelt. Das Bundesverfassungsgericht hat durch seinen Klimabeschluss für die in der politischen Philosophie und Rechtswissenschaft schon lange bestehenden Forderungen nach subjektiven Rechte für die Natur auch in der Rechtspraxis einen größerem Argumentationsspielraum eröffnet. Es kommt also bei der Frage der Strafbarkeit im Falle der vor Gericht stehenden Klimaaktivist:innen letztendlich auf genau die Abwägung an, die der Richter im Fall von Nils R. wohl auch so formuliert haben soll: „Was sei denn wichtiger: das Grundrecht auf Fortbewegung der Autofahrer [Art. 2 Abs. 1 GG, der unter einem weiten Schrankenvorbehalt steht, Anm. D.B.] oder das Recht der Letzten Generation, alle Möglichkeiten zu nutzen, um auf das Überlebensproblem der Erde hinzuweisen und sich einzusetzen im Sinne des Überlebens der Erde? [Art. 20a GG, dessen Gewicht bei fortschreitendem Klimawandel zunimmt, Anm. D.B.]“.

Ist das eine rhetorische Frage? So zugespitzt lässt sie sich eigentlich nur in eine Richtung beantworten. Sowohl im Fall von Nils R. als auch Henning J. wurde sie aber zugunsten der Autofahrer aufgelöst. Und dies, obwohl im Fall von Nils R. eine der drei Fahrspuren bereits nach 10 Minuten wieder befahrbar war und es im Fall von Henning J. noch nicht einmal zu einer Straßenblockade gekommen ist, weil die Polizei den Aktivisten vorher (auf eigene Kosten) entfernt hatte. Zudem ist zu berücksichtigen, dass es Teil des Protestkonzepts von „Letzte Generation“ ist, dass stets zwei Aktivist:innen anwesend sind, die sich nicht festkleben, um im Notfall Krankenwagen passieren zu lassen. Die deutlich besseren Gründe hätten also in beiden Fällen angesichts der Geringfügigkeit des Eingriffs in die Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer:innen (das vielleicht gar kein Grundrecht ist) gegen eine Verurteilung gesprochen.

Jetzt auch Kunst!

Die Aktivist:innen von Letzte Generation sind mittlerweile – in der prägnanten Terminologie der BZ – nicht mehr nur „Klima-Kleber“, sondern auch „Kunst-Kleber“. Die Aktivistinnen Lina E. und Maja W. klebten sich symbolisch an der „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ von Lucas Cranach dem Älteren (1472–1553) fest. Gegen die beiden Aktivistinnen wird nun wegen Hausfriedensbruch nach § 123 StGB und wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung nach § 304 StGB ermittelt. Diese Straftatbestände enthalten keine Verwerflichkeitsklausel. Hier wird dann spätestens zu entscheiden sein, ob der Klimaschutz auch einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund darstellen kann.

 

Ich danke Isa Bilgen, Julian Burhenne und Aziz Epik für wertvolle Anmerkungen.

Anm. d. Red. (7.2.2024): Nachträglich wurde eine begriffliche Konkretisierung des zivilen Widerstands/Ungehorsams im einleitenden Absatz vorgenommen.


SUGGESTED CITATION  Bayer, Daria: Auto fahren oder Klima retten?: Ziviler Widerstand und die Zweck-Mittel-Relation, VerfBlog, 2022/10/06, https://verfassungsblog.de/auto-fahren-oder-klima-retten/, DOI: 10.17176/20221006-230850-0.

6 Comments

  1. Stefan Vasovic Fri 7 Oct 2022 at 09:44 - Reply

    Der Beitrag offenbart ein bedenkliches Verständnis des Verhältnisses von Recht und Politik:

    Während die Autorin zutreffend darlegt, weshalb – auch mit Blick auf die Rechtsprechung von BGH und des OLG Naumburg – die in Art. 20a GG genannten Staatsziele notstandsfähige Rechtsgüter darstellen können, büßen Ihre Ausführungen hiernach massiv an Stringenz ein.

    Besonders zu kurz greifend, und daher bedenklich, ist zunächst die Annahme, niemand werde wirklich durch die Sitzblockaden oder den zivilen Widerstand der Aktivisten behelligt oder dass die Blockadefolgen keine hinreichenden Folgen aufweisen würden, um sie strafrechtlich zu ahnden; hier erliegt die Verfasserin gleich zwei Trugschlüssen:

    Zum einen dauern die Beeinträchtigungen für betroffene Autofahrer nur deswegen kurz an, weil die Polizei die Blockaden umgehend auflöst. Würde man der Verfasserin aber darin folgen, dass derartiges Verhalten der Aktivisten entweder gar keine Nötigung sei – da nicht verwerflich – oder zumindest gerechtfertigt sei, käme es gar nicht zu einer zeitnahen Auflösung der Blockade. Diese müssten vielmehr wie die sonstigen nachteiligen Nebenfolgen einer Versammlung so lange geduldet werden, wie sie noch sozial-adäquate Folgen der Versammlung sind. Dieser Punkt der Verfasserin ist daher zirkelschlüssig.

    Was ist des Weiteren mit dringenden Krankentransporten, Polizeieinsätzen und Ähnlichem, die durch blockierte Straßen verlaufen müssen, um rechtzeitig ans Ziel zu kommen um Schlimmstes zu verhindern? Dies war u.a. auch in den Gerichtsverfahren und in der öffentlichen Reaktiion einer der Hauptkritikpunkte an der gewählten Form zivilen Widerstandes. Zwar mag es sein, dass bei der dargestellten Blockadeform die Aktivisten versuchen, eine eventuelle Öffnung für derartige Dringlichkeitsfälle zu belassen. Dieser Punkt lässt aber den Umstand unberücksichtigt, dass angesichts des aus der Blockade folgenden Verkehsstaus die betroffenen Fahrzeuge oftmals gar nicht zur Blockade gelangen können, da die vor ihnen befindlichen Fahrzeuge nicht (rechtzeitig) Platz schaffen können – wäre man dann (noch) im Bereich von Fahrlässigkeitsdelikten oder gar bei der Abgrenzung zu dolus eventualis? Diese Frage blendet die Verfasserin vollends aus, obgleich ein ähnliches Problem auch ein wesentliches Argument des BGH in seiner Rechtsprechung zu Sitzblockaden war.

    Weiter handelt es sich lediglich um eine politische Sichtweise und um keinerlei juristische Argumentation mehr, wenn die Verfasserin gegen Ende unterstellt, der zivile Ungehorsam träfe mit Autofahrern die “Richtigen”, da diese ja maßgeblich mit den Klimawandel vorantreiben würden. Zunächst: Gilt dies auch für die Nutzer klimefreundlicher(er) E-Autos? Zudem: Hiermit ignoriert die Verfasserin vollends, dass es sich bei der fortbestehenden Nutzungsmöglichkeit von Verbrennungsmotoren um eine demokratisch getroffene Entscheidung des Gesetzgebers handelt, welche in ein Gesamtkonzept zur Bewältigung des Klimawandels eingebettet ist. Sie möchte mit Ihren Ausführungen statt dieser Entscheidung des Gesetzgebers gewissermaßen Ihre Überzeugungen zu nötigen Schritten zugunsten des Klimaschutzes über den Umweg eines Rechtfertigungsgrundes oder über die Verwerflichkeitsklausel der Nötigung durchsetzen.

    Damit bewegt sich die Autorin jedoch in keinster Weise mehr auf von Rechtsprechung und überwiegender Litertaur zu Recht anerkannten Pfaden: Gerade das OLG Naumburg betonte am Ende seiner Entscheidung in einem orbiter dictum die Reichweite von § 34 StGB mit Blick auf Art. 20a GG: Nur wenn Behörden unwillens seien, gegen gesetzeswidrige (!) Missstände und damit auch ihrerseits gegen strafbares Verhalten vorzugehen, komme § 34 StGB in Betracht. Ansonsten genieße das staatliche Gewaltmonopol zwingend den Vorrang und bewegen sich Aktivisten im Bereich der Selbstjustiz. Diese Einschätzung teilt auch die herrschende Literatur, wenn sie einen Vorrang des Staates bei der Abwehr von Gefahren für die in Art. 20a GG genannten Güter fordert. Da kein strafbares Verhalten von Autofahrern im Raum steht kann demnach auch nicht § 34 StGB greifen.

    Was die Verwerflichkeitsklausel angeht, erscheint es aus Gewaltenteilungsgesichtspunkten äußerst problematisch, Entscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers über den Umweg des § 240 II StGB durch den Strafrichter “korrigieren” zu lassen. Vielmehr ist dies die ausschließliche Aufgabe des BVerfG – was dieses mit seiner Klimaentscheidung durchaus getan hat, wenngleich es dem Gesetzgeber lediglich ein Ziel, nicht aber den Weg dorthin vorgegeben hat.

    • Daria Fri 7 Oct 2022 at 14:40 - Reply

      Vielen Dank für die Punkte!

      Nur kurz, um eventuelle Missverständnisse zu beheben:

      Die Polizei kann weiterhin präventiv nach Ordnungsrecht vorgehen; dazu habe ich in meinem Beitrag bewusst nichts ausgeführt, denn es geht dort nur um die repressive Strafbarkeit, die sich eben nicht mit einer ordnungsrechtlichen Verantwortlichkeit decken muss. Zudem habe ich auch nicht auf die Versammlungsfreiheit der Aktivist:innen abgestellt, sondern auf Art. 20 a GG.

      Das Passierenlassen von Krankenwägen ist ein essenzieller Punkt, auf den ich auch am Ende des Beitrags hinweise; in den beiden von mir betrachteten Fällen konnte aber keine der von Ihnen beschriebene Beeinträchtigung durch das Gericht festgestellt werden. Wäre das der Fall, wäre das sicherlich im Einzelfall in die strafrechtliche Bewertung mit einzubeziehen.

      Ich setze keineswegs “meine” Überzeugung an die Stelle einer gesetzliches Entscheidung, sondern begründe anhand des Klimabeschluss des BVerfG nur, weshalb aus meiner Sicht in den beiden von mir beschriebenen Fällen die besseren Gründe gegen eine Verurteilung gesprochen hätten; Sie sehen das anders. Es freut mich, wenn ich damit eine Diskussion angeregt habe.

      • Stefan Vasovic Tue 11 Oct 2022 at 13:56 - Reply

        Auch meinerseits vielen Dank für die Erwiderung und die Klarstellungen!

        Aus Ihrem Beitrag wurde nicht ersichtlich, dass dieser konkret auf die judizierten Einzelfälle abstellt. Vielmehr wirkte es so, dass es um allgemeine Ausführungen zu derartigen Protestformen geht. In den konkreten Fällen ist es zutreffend, dass keinerlei Behinderung etwa von Rettungskräften festgestellt werden konnte. Meines Erachtens beantwortet das aber nicht die Frage, ob allein die Gefahr einer derartigen Behinderung nicht im Rahmen der §§ 34, 240 II StGB zu berücksichtigen wäre.

        Dass wir divergierende Ansichten zu der Thematik haben ist für einen Diskurs sicherlich förderlich und freut mich auch; daher habe ich Ihren Beitrag auch mit Interesse gelesen. Leider fehlte mir – insbesondere mit Blick auf die Klimaentscheidung des BVerfG – der Brückenschlag zur Debatte in Rechtsprechung und Literatur über die Subsidiarität der Handlungen Einzelner mit Blick auf das staatliche Gewaltmonopol und die Aufgaben des Rechtsstaats. Sich hierbei ausschließlich auf die Klimaentscheidung des BVerfG zu stützen griff mir daher zu kurz.

        • Daria Fri 14 Oct 2022 at 00:30 - Reply

          Ausgangspunkt des Beitrags waren die beiden konkreten Prozesse, wie am Anfang und am Ende des Beitrags klargestellt. Natürlich berühren beide Prozesse auch grundsätzliche Fragen, denen der Beitrag (soweit dies im Rahmen eines Blogposts möglich ist) nachgeht. Allerdings ist der strafrechtliche Blickwinkel natürlich immer verengt auf den Einzelfall, da das Strafrecht eben die individuelle Verantwortlichkeit einer Person für eine Tat in den Blick nimmt. Eine vertiefte Argumentation zur Frage, ob § 34 StGB in solchen Fällen generell einen Rechtfertigungsgrund darstellen kann, findet sich etwa hier: https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/21-04/index.php?sz=6.

          Dahinter steht hier die Frage, bis zu welchem Grad ziviler Widerstand als rechtsimmanente Entsetzungsform zulässig ist und ab wann der Staat mit den Mitteln des Strafrechts eingreifen muss, um sein Gewaltmonopol zu behaupten. Denn das Gewaltmonopol des Rechts über die Individuen ist, wenn wir von demokratisch legitimierter staatlicher Herrschaft sprechen, nicht absolut, sondern ein fragiles Gebilde, das sich konstant immer wieder behaupten und legitimieren muss, und dessen Fundament der Gleichheitssatz bildet. Durch den drohenden Klimawandel kommt eine zusätzliche Dimension hinzu, eine zeitliche, denn die Existenz des Fundaments selbst ist bedroht; und dies wiederum für alle gleichermaßen, für Autofahrer:innen wie für Klima-Aktivist:innen. Die Demokratie erscheint damit als eine endliche Form. Insofern stellt der Klima-Beschluss des BVerfG klar, dass Klimaschutz kein Partikularinteresse ist, sondern ein Verassungsgut mit objektiv-rechtlicher Schutzpflicht, und damit die Frage des “ob” des Klimaschutzes dem demokratischen Diskurs entzoge wird, weil er die Voraussetzung der Möglichkeit eben dieses Diskurses ist.

          Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob das Festkleben an Straßen ein geeignetes Mittel sein kann, dieses Schutzgut zu verteidigen, und dafür kann es nur auf eine Abwägung anhand der Gesamtumstände des Einzelfalls ankommen, und hierbei ist die Eingriffsintensität ein entscheidender Punkt. Dass hierbei auch hypothetische Beeinträchtigungen zu berücksichtigen wären, wäre mE angesichts der dann noch weiteren Ausdehnung des Gewaltbegriffs (über die bereits bedenkliche 2.Reihe-Rechtsprechung hinaus) auf noch nichtmal in der Reihe stehende Fahrzeuge bedenklich und auch mit dem im Strafrecht geltenden Grundsatz in dubio pro reo nicht ohne Weiteres vereinbar.

          Sehr spannend finde ich übrigens Ihren Punkt mit den Elektroautos, die unter anderem auch Zielobjekte werden.

          Lassen Sie uns gerne an der Thematik dranbleiben, ich freue mich über den Austausch!

  2. Marx Glättli Mon 10 Oct 2022 at 17:21 - Reply

    Was dieser Beitrag m.E. übersieht (neben den einleuchtenden Bemerkungen des Kollegen Vasovic) ist das gleiche Problem, dass es immer im Umgang mit zivilem Ungehorsam gibt: Was wenn dies alle so machen würden? Beispielsweise hat das BVerfG ja bekanntlich in 2020 ein Urteil zum PSPP Programm der EZB gefällt, welches von vielen Personen (inkl. Juristen) als nicht umgesetzt betrachtet wird. Wäre es juristisch korrekt, wenn Anti-PSPP Aktivisten den Eingang der EZB besetzen würden und dann im anschliessenden Strafverfahren in Frankfurt einen Freispruch verlangen würden, weil ja der Staat ja auch in diesem Fall “sein Gewaltmonopol zu Unrecht nicht ausübt”? Wenn man Selbstjustiz durch gerichtliche Freisprüche legitimiert muss man sich nicht wundern, wenn bald jeder zu diesem Mittel greift mit durchaus sehr negativen Folgen für das gesamte politische und rechtliche Klima. Ich weiss, vielen sind die Anliegen der Klima-Aktivisten sympathisch. Aber denkt bitte mal darüber nach, was passiert, wenn Aktivisten eines Anliegens, dass sie nicht teilen – oder gar verachten, zu den gleichen Mitteln greifen. Was passiert, wenn Lastwagenfahrer das Hauptquartier von Greenpeace oder das Umweltministerium blockieren?

  3. Gordon Pankalla Fri 4 Nov 2022 at 17:39 - Reply

    Ich bin entsetzt !!! Wir sind beim Naturrecht angekommen. Wer sowas schreibt, der hat das Recht nicht verstanden. Eine Anhänger*in einer Ideologie, was man bereits am Schriftbild ausmachen kann. Wenn eine abstrakte Gefahr alles rechtfertigen kann, diskutieren wir bald über Marsmenschen. Ich halte diese Ausführung im Sinne des Rechts und der Verfassung für gefährlich.

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