Das Ende des Dornröschenschlafs
Warum jedes klimaschädliche Gesetz an Art. 20a GG gemessen werden sollte
Der Juli war wohl der heißeste Monat seit Beginn der Aufzeichnungen und der Spiegel konstatiert: „Die Erderwärmung zu bremsen ist die größte Herausforderung dieses Jahrhunderts.“ Der Fortschritt des Klimawandels ist rasant, dessen Folgen noch schlimmer als gedacht. Und dennoch wird national wie international nicht genug zur Bekämpfung der globalen Erderwärmung getan: „Das Tempo und der Umfang der bisherigen Maßnahmen sowie die aktuellen Pläne sind unzureichend, um den Klimawandel zu bekämpfen“, lautet das Resümee des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC).
Dieser Beitrag argumentiert, dass in derartigen Zeiten jedes klimaschädliche Gesetz unter grundgesetzlichem Rechtfertigungsdruck steht. Art. 20a GG verpflichtet nicht „nur“ den Gesetzgeber dazu, einen Emissionsminderungspfad zu normieren und die Gesamtheit der zugelassenen Emissionen in einem erträglichen Ausmaß zu halten. Vielmehr ist aufgrund der angespannten Lage jedes klimaschädliche Gesetz unter Rechtfertigungsdruck.
Klimaschutz und Grundgesetz
Nach Art. 20a GG „schützt“ die Bundesrepublik Deutschland bekanntermaßen „die natürlichen Lebensgrundlagen“. Diese Schutzbestimmung betont auch die „Verantwortung für die künftigen Generationen“, worin der Grundsatz des nachhaltigen Umgangs mit den Lebensgrundlagen zum Ausdruck kommt. Dass die Bundesrepublik die genannten Anliegen „schützt“, bedeutet rechtlich nichts anderes als eine Verpflichtung zum Inhalt dieser Schutzbestimmung.
Wissenschaftlich ist mittlerweile erwiesen, dass die rasante menschengemachte Erderwärmung u.a. zur Destabilisierung von Ökosystemen sowie zu Extremwetterereignissen mit all den bekannten negativen Folgen (Waldbränden, Überschwemmungen, Ernteausfällen, u.a.m.) führt. Die Berichte des IPCC lassen daran keinen wissenschaftlichen Zweifel.
Da die natürlichen Lebensgrundlagen nur im gebotenen Ausmaß geschützt werden können, wenn auch das Klima geschützt wird, ergibt sich aus dieser Schutzbestimmung eine Klimaschutzpflicht. Ohne Klimaschutz keine Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Artikel 20a GG trägt allen Staatsorganen eine klare Schutzverantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen auf. Das Bundesverfassungsgericht hat dieser Bestimmung nach langem Schattendasein auch erstmals im sog. „Klimabeschluss“ vom 24. März 2021 (BVerfGE 157, 30-177) Leben eingehaucht. Art. 20a GG verpflichtet den Gesetzgeber demnach dazu, einen Emissionsminderungspfad zu normieren, der mit dem 1,5-Grad-Limit in Einklang steht. Allerdings seien Art. 20a GG darüber hinaus keine konkreten Maßstäbe für einzelne Gesetze zu entnehmen. Das mag einer der Gründe sein, weshalb eine erste Zwischenbilanz der Auswirkungen dieses viel diskutierten Beschlusses äußerst nüchtern ausfällt. In der Tat, die Senkung der Treibhausgasemissionen in Deutschland (2022 um 1,9% laut Bundesumweltamt) reichen noch nicht aus, um das selbstgesetzte Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen. Und gegenwärtig ist im Klimaschutzgesetz-Entwurf anstatt einer Konkretisierung sogar eine Abschaffung der Sektorziele zu Gunsten einer „Jahresemissionsgesamtmenge“ geplant (§ 4 Abs. 1 und Anlage 2a des KSG-Entwurfs). Das zieht berechtige Kritik auf sich, denn „[s]chon jetzt scheitert das Erreichen der Sektorziele am Unwillen einzelner Ministerien.“
Warum jedes klimaschädliche Gesetz unter Rechtfertigungsdruck steht
Die Einordnung von Art. 20a GG in den Kanon der als Staatszielbestimmungen und Verfassungsprinzipien bezeichneten Grundpfeiler des Grundgesetzes war nicht von der Absicht getragen, die neu eingeführte Bestimmung ihrer normativen Kraft zu entledigen. Lediglich die Notwendigkeit, diese Schutzverantwortung in Einklang mit anderen Verfassungsgütern und -prinzipien zu bringen, sollte dadurch zum Ausdruck kommen (Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, BT-Drs. 12/6633 v. 20.1.1994, S. 6 f.).
Zwar steht im Grundgesetz nicht ausdrücklich, welche konkreten Klimaschutzmaßnahmen der Gesetzgeber zu treffen hat. Solche Konkretisierungen sind allerdings durchaus erkennbar, wenn man die Klimaschutzverpflichtung mit den traditionellen juristischen Auslegungsmethoden interpretiert.
Dies lässt sich – neben der schieren Notwendigkeit in der gegenwärtigen Misere – auch unter Bezugnahme auf die den Gesetzgebungsprozess begleitende Begründung zum Entwurf zu Art. 20a GG erhärten. Diese ist u.a. von der Absicht getragen, die „tatsächliche Durchsetzung“ des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen zu erwirken (Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, BT-Drs. 12/6633 v. 20.1.1994, S. 5). Des Weiteren entnimmt man der Begründung die Einsicht, dass es sich beim Umweltschutz „um ein existentielles, langfristiges Interesse des Menschen“ handelt. „Die sich daraus ergebende ökologische Herausforderung an den Staat“, sie war bei „der Schaffung des Grundgesetzes noch nicht absehbar“ (ibid., S. 6).
Während Art. 20a GG – parallel zu den überschaubaren Anstrengungen, Umweltbelange tatsächlich zum ernsthaften Staatsanliegen zu machen – lange ein Nischendasein fristete, wird er angesichts der Handlungsnotwendigkeit zu einer zentralen Verfassungsnorm. Der zukunftsweisende Art. 20a GG ist der verfassungsrechtliche Rahmen für die Bewältigung der Klimakatastrophe durch den Gesetzgeber. Dies hat Konsequenzen für die Prüfung der Grundgesetzkonformität von einzelnen Gesetzen. Aufgrund der klimaschutzrechtlichen Notlage stehen klimaschädliche Gesetze und die davon betroffenen Emissionen unter Rechtfertigungsdruck, weil sie zur Gefährdung der von Art. 20a GG geschützten natürlichen Lebensgrundlagen beitragen. Können keine guten Gründe oder substantiellen Grundrechte für die Klimaschädlichkeit angeführt werden, ist das jeweilige Gesetz im Lichte des Art. 20a GG verfassungswidrig. Solange die Bundesrepublik eindeutig nicht auf 1,5-Grad-konformem Weg ist, stehen alle klimaschädlichen Gesetze unter verfassungsrechtlichem Rechtfertigungsdruck: Wenn es keine Rechtfertigung dafür gibt, dass ein Gesetz klimaschädlich ist, dann verstößt es gegen die Klimaschutzverpflichtung.
Nun mag erwidert werden, dass dies nicht die Intention hinter Art. 20a GG war. Die Schutzverantwortung sei explizit so konzipiert, dass sie nur durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt bewerkstelligt werden darf. Mit anderen Worten, die Politik sollte die Umwelt schützen. Wie Sie das allerdings tut, könne nicht wirklich rechtlich überprüft werden, sondern ist dem politischen Gestaltungsspielraum überlassen. Das ist allerdings zu kurz gedacht. Denn diese Einschränkung ist Art. 20a GG nicht zu entnehmen. Sie entstammt der rechtswissenschaftlichen Dogmatik, und diese ist nicht unumstößlich.
Das Grundgesetz war ursprünglich ein Projekt mit Ablaufdatum. Und dennoch, oder gerade deswegen, hat es sich lange bewährt. Eine Reminiszenz dieser ursprünglich begrenzten Laufzeit war lange eine stärkere Ausrichtung auf die Vergangenheit – auf Kosten der Zukunft. Das änderte sich allerdings mit der deutschen Einigung und insbesondere mit Art. 5 des Einigungsvertrages. Das Grundgesetz wurde ergänzt und geändert und das Ablaufdatum aufgehoben. Anschaulich hierfür wurde die Rücksichtnahme auf zukünftige Generationen explizit mit Art. 20a GG 1994 ins Grundgesetz aufgenommen. Mit der deutschen Wiedervereinigung, so könnte argumentiert werden, wurde das Grundgesetz von der Übergangslösung endgültig zur originären Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und damit zukunftsfähig gemacht. Damit wurde der Blick nach vorne gerichtet. Eine Konsequenz dieser Horizonterweiterung ist eine verstärkte Interpretation für zukunftsgewandte Aufgaben. Dem Grundgesetz ist damit eine Dynamik eingeschrieben, die eine Anpassung an veränderte Lebensumstände in Deutschland und der Welt fördert. Gerade diese Fähigkeit hat das Bundesverfassungsgericht dem Grundgesetz auch schon mehrfach entnommen.
Ein Beispiel zur Illustration: Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen
Regelungen wie § 3 Abs. 3 Z. 2 lit. c) der Straßenverkehrsordnung, aus welcher hervorgeht, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit für Personenkraftwagen und Motorräder außerhalb geschlossener Ortschaften 100 km/h beträgt und auf Autobahnen gar nicht gilt, sind vor diesem Hintergrund verfassungswidrig. Denn der stark erhöhte CO2 Ausstoß bei hoher Geschwindigkeit ist längst wissenschaftlich erwiesen. Eine Rechtfertigung, diesen Emissionsausstoß gesetzlich zu erlauben, kann sich nicht auf Verfassungsgüter und -prinzipien stützen, die das Gewicht der Klimaschutzverpflichtung überwiegen würden.1)
Dem steht auch nicht die kürzlich abgewiesene Verfassungsbeschwerde (BVerfG, Beschluss v. 15.12.2022, Az. 1 BvR 2146/22) entgegen, mit welcher ein Anspruch auf ein Tempolimit vor dem Bundesverfassungsgericht eingeklagt werden sollte. Entscheidend für die Abweisung der Beschwerde war laut Bundesverfassungsgericht bloß die nicht hinreichend substantiierte Darlegung der Grundrechtsverletzung (näher siehe hier).
Mit zunehmender Manifestation der rasanten Erderwärmung steigt das Rechtfertigungserfordernis für klimaschädliche Praktiken, die von Gesetzen gedeckt sind. Entscheidend ist allerdings, dass sich Art. 20a GG nicht nur auf die Gesamtheit der zugelassenen Emissionen bezieht, weil nur diese, nicht aber punktuelles Tun oder Unterlassen des Staates die Reduktionlasten insgesamt unverhältnismäßig auf die Zukunft verschieben würden (so aber BVerfGE 157, 30, Rn. 124 f. und 134; BVerfG, Beschluss v. 18.1.2022, Az. 1 BvR 1565/21 u.a., Rn. 12). Ursächlich für die hohen Emissionen sind einzelne Praktiken und nicht eine Gesamtschau dieser Praktiken. Der politische Ermessensspielraum, welche Praktiken erlaubt werden und welche nicht, gilt nur so lange die Gesamtschau der Emissionen mit dem Staatsziel vereinbar ist. Ist dies nicht (mehr) der Fall, steht jede einzelne durch ein Gesetz gedeckte Praxis unter grundgesetzlichem Rechtfertigungsdruck. Zu überprüfen ist sodann jedes Gesetz. Gibt es für ein klimaschädliches Gesetz keine Rechtfertigung durch ein bestimmtes Verfassungsgut oder -prinzip, ist dieses grundgesetzwidrig.
Fazit
Das Grundgesetz verlangt Klimaschutz. Das ist in den Rechtswissenschaften weitgehend unumstritten. Wie weit die grundgesetzliche Klimaschutzverpflichtung reicht, allerdings nicht. Viele Jurist:innen verneinen konkrete Ableitungen aus Art. 20a GG für einzelne Gesetze. Hier wird hingegen argumentiert, dass die juristische Auslegung Konkretisierungsergebnisse hervorbringen kann, die durchaus Antworten liefern. Das ist im Grunde nichts Besonderes, kommt doch der Inhalt der meist knapp formulierten Bestimmungen im Grundgesetz fast immer erst nach methodisch sorgfältiger Interpretation ans Licht. Das Ergebnis der hier vorgenommenen Interpretation von Art. 20a GG lautet, dass die Klimaschutzverpflichtung wesentlich weiter reicht, als dies bislang auch in der Fachgemeinschaft (an)erkannt wurde. Eine Konsequenz dieser Auffassung ist, dass das nicht vorhandene Tempolimit auf deutschen Autobahnen grundgesetzwidrig ist. Es geht nicht darum, ob wir – zugegebenermaßen oftmals unangenehme – Maßnahmen zum Schutz des Klimas und zur Eindämmung der Erderwärmung gutheißen oder nicht, sondern welche der Maßnahmen besser oder schlechter, weniger oder stärker in gewichtige Rechtspositionen eingreifen als andere. Das ist für jedes klimaschädliche Gesetz zu beurteilen bis der Emissionsminderungspfad wieder mit dem 1,5-Grad-Limit in Einklang steht. Mit anderen Worten: der Gesetzgeber verliert seinen weiten Ermessenspielraum zur Umsetzung von Staatszielen solange die Staatsziele in der Gesamtschau akut gefährdet sind.
Für zahlreiche Gespräche, wichtige Hinweise und gemeinsame Arbeiten zu diesem Thema in Bezug auf Österreich (s. hier, hier und hier) danke ich Sebastian Krempelmeier.
Wo läge denn die Rechtfertigung, den mit einer Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h verbundenen Emissionsausstoß gesetzlich “zu erlauben”? Welche Verfassungsgüter und -prinzipien würden Sie anführen, um eine Autofahrt mit 80 km/h zu rechtfertigen? Und v.a.: Wie leiten Sie messerscharf aus dem Grundgesetz ab, ob das “Gewicht der Klimaschutzverpflichtung” nicht auch in diesen Konstellationen überwiegen würde?
So einfach ist es glücklicherweise nicht. Ein wenig mehr juristische Nüchternheit würde zudem offenbaren, dass zunächst nicht menschliche Handlungsweisen, sondern staatliche Verbote unter grundrechtlichem Rechtfertigungsdruck stehen. Das schließt staatliche Schutzpflichten selbstverständlich nicht aus; bis zu einer staatlichen Pflicht zum (bußgeldbewehrten!) Verbot spezifischer Verhaltensweisen (und erst recht von Verhaltensweisen, bei denen ein mögliches Missverhältnis zwischen Vor- und Nachteilen allenfalls graduell ausgelotet werden kann) ist es aber noch weit.
Die These, dass Art. 20a GG in Zeiten des Klimawandels nicht nur ein Lippenbekenntnis sein kann und sich hieraus im Einzelfall auch staatliche Handlungspflichten ergeben können, muss deswegen nicht falsch sein – die Ableitung konkreter Verbotspflichten unter Berufung auf ein, zwei dürre Sätze bleibt dennoch politische Agitation unter dem (dünnen) Deckmantel juristischer Dogmatik. Und das schadet “der guten Sache” jedenfalls mehr, als es nützt.
Ich stimme meinem Vorredner in den Kommentaren vorbehaltlos zu.
Ich würde lieber mit dem letzten Eisbären auf der letzten treibenden Eisscholle im atlantischen Ozean im Angesicht unseres baldigen Ertrinkens über die methodisch korrekte Interpretation des einstmals geltenden Grundgesetzes diskutieren als mich dem Morgensternschen Diktum des “nicht sein Könnens, was nicht sein darf” für die Uminterpretation einer Staatszielbestimmung
in ein Staatsstrukturprinzip hinzugeben.
Wie der Beitrag mit Recht anmerkt, ist Dogmatik nicht unumstößlich, allerdings sollte der Umstoß mehr als ein “es müsste doch
so sein” sein, wenn es doch nicht so ist. Bedürfnis erzeugt nicht Recht – wäre dem so, bräuchte es keinen Gesetzgeber. Wenn man einen rechtspolitischen Gedanken hat, sollte
man auch die Ehrlichkeit besitzen, diesen als solchen zu formulieren und keine Fantasiedogmatik betreiben.
Letztlich ist dieser Beitrag nichts anderes als Ronellenfitschs Vorschlag der 90er Jahre eines “Grundrechts auf Autofahren”
mit umgekehrter Polarität aber gleicher Argumentation. Überzeugt auch in die Gegenrichtung wegen hinkender Methodik nicht.
der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat nun aber dieses Jahr klar gesagt, das CO2 kein Klimafaktor ist. Art 20a ” Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen… etc” . Was natuerliche Lebensgrundlagen sind , sollte hier mal besser definiert werden. CO2 wird von Pflanzen benoetigt . Was ist aber mit den Aufkaeufern von Wasserquellen ? Oder preiswerte Vorhaltung von Wohnungen ? Wahrung unseres Lebensstandards unter Einbeziehung realer und wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sich hier auf den IPCC zu berufen halte ich fuer NICHT ergebnisoffen. Auch koennte dieser Artikel so verstanden werden, das AKWs nachhaltig und zukunftsorientiert sind.. Da sollte einiges ueberdacht werden betr. des Art GG 20a. Ich bin kein Jurist, komme aus den angewandten Naturwissenschaften.