Die Fiktion der Souveränität in Transitzentren – Was ist eigentlich mit der Orbánisierung Europas gemeint?
Die Transitzentren sind der neueste Clou der Unionsfraktion zur angeblichen Steuerung der Fluchtmigration und zugleich ein alter Hut. Am Montag verständigten sich CDU und CSU darauf, Transitzentren an der bayerisch-österreichischen Grenze einzurichten, um ihre größte parteipolitische Krise abzuwenden. Die Transitzentren waren bereits im Herbst 2015 Bestandteil eines Ressortentwurfs des Bundesinnenministeriums, den die SPD im letzten Moment verhinderte. Man wolle „Massenlager im Niemandsland“ verhindern, wie der damalige Justizminister Heiko Maas sagte. Auf europäischer Ebene sind indes mit den „regionalen Ausschiffungsplattformen“, die in außereuropäischen Drittstaaten errichtet werden sollen, sowie mit den „kontrollierten Zentren“ auf europäischem Boden vergleichbare Lager geplant. Der Spiegel fasste die EU-Gipfel-Ergebnisse wie folgt zusammen: „Europa orbánisiert sich“. Die Überschrift erfasst tatsächlich den Kern des Problems. Hinter dem sog. Asylstreit der letzten Wochen steckt nicht nur ein parteipolitischer Konflikt zwischen Innenminister Horst Seehofer und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es geht im Kern darum, eine illiberale und anti-europäische Form des Rechtsstaats in Deutschland zu implementieren, die in Ungarn schon weit vorangeschritten ist. Auf lange Sicht ist es das Ziel von nationalistischen Akteuren, dass rechtsstaatliche Garantien nur noch formell auf dem Papier bestehen. Der autoritär transformierte Rechtsstaat ist dann nur noch eine Attrappe, weil Betroffene zu ihm faktisch keinen Zugang mehr haben.
Europarecht soll nationalistisch ausgehöhlt werden
Der autoritären Transformation stehen bislang noch die Reste der europarechtlichen Rechtsstaatlichkeit entgegen. Immer stärker werden sie zum Angriffsobjekt von nationalistischen Akteuren. Dabei war es zunächst obskur zu beobachten, dass nationalistische Akteure den Kern des Europarechts offenbar über viele Jahre ignoriert haben. Viele Politiker und selbst Rechtswissenschaftler vergessen in ihren Einlassungen und Gutachten zur Asyl- und Migrationspolitik den Kern des Europarechts: Der absolute Anwendungsvorrang des europäischen Rechts vor dem nationalen Recht, den es in dieser Form bereits seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Costa/Enel vom Juli 1964 gibt. Seitdem die EU mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) ab Anfang der 2000er Jahre im Bereich von Migration und Asyl ihre diesbezügliche Kompetenz in Verordnungen und Richtlinien auch gesetzgeberisch umgesetzt hat, ist das Asylrecht keine nationale Angelegenheit mehr. Die EU-Asylpolitik war dabei schon immer ambivalent: Sie setzte auf der einen Seite durch die Gründung der Grenzschutzagentur Frontex auf Abschottung und entwickelte auf der anderen Seite ein komplexes Schutzregime für Flüchtlinge, das durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in vielen Verfahren weiterentwickelt wurde. Von vielen nationalistischen Akteuren wurde offenbar nicht bemerkt, dass der deutsche Asylkompromiss vom Anfang der 1990er Jahre europarechtlich ausgehöhlt wurde und Art. 16a Grundgesetz kaum noch eine Bedeutung hat. Davon zeugen die bis heute erfolglosen Versuche der letzten Jahre, die Zurückweisungen an der deutschen Grenze unter Umgehung des Dubliner-Verfahrens politisch durchzusetzen. Auf dem Verfassungsblog haben mehrere Autor/innen dieser nationalistischen Fiktion wichtige Argumente entgegengesetzt: Dana Schmalz erläuterte, warum einseitige Zurückweisungen europarechtlich unzulässig sind; Constantin Hrschuka rekonstruierte die Komplexität des Dubliner-Verfahrens; und Christoph Tometten belegte, warum die Zurückweisungen an der französischen Grenze, auf die sich gerade CSU-Politiker dieser Tage gerne beziehen, menschenrechtswidrig sind.
Die nationalistischen Akteure stehen vor diesem Hintergrund vor einem Dilemma: Auf der einen Seite wollen sie im Asyl- und Migrationsrecht die längst erodierte nationalstaatliche Souveränität zur Geltung bringen, auf der anderen Seite können sie das Europarecht nicht vollständig ignorieren. Der Aufbau von Transitzentren an der bayerischen Grenze und in außereuropäischen Drittstaaten sind daher der Versuch, Teile des Europarecht zu umgehen.
Zur Rechtswidrigkeit der ungarischen Transitzone
Die geplanten Transitzentren an der bayerischen Grenze haben ein Vorbild, über das es sich zu reden lohnt: die Transitzone an der ungarisch-serbischen Grenze. Die Regierung unter Viktor Orbán ließ ab dem Sommer 2015 einen elektrischen Grenzzaun zu Serbien und später auch zu Rumänien bauen, der polizeilich überwacht wird. Zugleich wurde eine Transitzone in Röszke eingerichtet, die der einzige Ort ist, in dem Flüchtlinge einen Asylantrag stellen können. Seit kurzem darf nur ein Flüchtling pro Werktag in der Transitzone Asyl beantragen. Viele Flüchtlinge werden ohnehin brutal an der Grenze zurückgewiesen. Wer die zentralen Plätze im serbischen Belgrad besucht hat, sieht dort zahlreiche Flüchtlinge, die deutliche Verletzungen davongetragen haben, als sie versuchten, die ungarische Grenze zu überwinden. Wie wird die deutsche Bundespolizei reagieren, wenn Flüchtlinge sich weigern, in die geplanten Transitzentren zu gehen? In der ungarischen Transitzone dürfen sich Anwälte nicht frei bewegen und für viele Menschenrechtsorganisationen ist der Zugang vollständig verwehrt. Das jüngste sog. „Stop-Soros Gesetz“ sieht zudem Haftstrafen für diejenigen vor, die Flüchtlinge unterstützen. Insofern die CSU in den vergangenen Wochen eine offene Hetze gegen Asylrechtsanwält/innen unter dem Schlagwort „Abschiebeverhinderungsindustrie“ betrieb, zeigt sich, wohin die Reise geht, wenn dieser Kriminalisierungskampagne kein Einhalt geboten wird.
Die ungarische Transitzone wurde in ihrer jetzigen Form durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem Urteil Illias und Ahmed gegen Ungarn vom März 2017 in erster Instanz für unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eingeordnet. Die Festsetzung von Asylsuchenden in dem bewachten Gelände sei faktisch eine Inhaftierung im Sinne von Art. 5 EMRK, schließlich seien die Asylsuchenden dazu genötigt, dort zu bleiben, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, dass ihr Asylantrag zurückgenommen werde. Da sich die Beschwerdeführer bezüglich der Haftbedingungen nicht gerichtlich wehren konnten, verstoße die Transitzone zudem gegen das Recht auf wirksame Beschwerde (Art. 13 i.V.m. Art. 3 EMRK). Außerdem habe der ungarische Staat gegen das Verbot von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nach Art. 3 EMRK verstoßen, weil nicht sichergestellt worden sei, dass die Betroffenen vor einer Kettenabschiebung nach Griechenland geschützt würden. Transitzonen und pauschale Zurückweisungen sind also schon an der EU-Außengrenze rechtlich nicht möglich.
Die vergangenen Tage haben Scheindebatten darüber hervorgebracht, wie die Transitzentren in Deutschland „humanitär“ gestaltet sein könnten. Der Blick nach Ungarn lohnt sich, weil sie dort schon Realität sind und die CSU ohnehin die Politik von Viktor Orbán als nachahmenswertes Modell ansieht. Selbst wenn nicht alle Elemente der ungarischen Zone auf die Transitzone an der bayerischen Grenze übertragbar sind, so dürften einige Elemente übernommen werden: Geschlossene Einrichtungen, die man nur verlassen kann, wenn man seinen Asylantrag zurücknimmt; eine Absperrung der Grenze, damit die Bundespolizei überhaupt dazu in der Lage ist, die Menschen in die Lager zu bringen; eine faktische Aushebelung des Rechtsschutzes, weil die Betroffenen in den geplanten Schnellverfahren kaum Kontakte zu guten Asylrechtsanwält/innen bekommen werden – außer die Sektion Ausländerrecht des Deutschen Anwaltsvereins eröffnet eine ständige Außenstelle in der Nähe des Transitzentrums. Wie negative Entscheidungen von Betroffenen überhaupt gerichtlich angegriffen werden können, ist zudem eine offene Frage, die in keinem Papier diskutiert wird.
Der Unterschied zwischen Binnengrenzen und EU-Außengrenzen
Ein großer Unterschied besteht indes zwischen der Transitzone an der ungarisch-serbischen Grenze und der möglichen Zone zwischen Deutschland und Österreich: Die erste befindet sich an der EU-Außengrenze, die letzte wäre im europäischen Binnenraum angesiedelt, in dem grundsätzlich die Freizügigkeit gilt. Alleine aus diesem Grund ist die „Fiktion der Nichteinreise“, die CDU und CSU in ihrem Papier zu den Transitzentren vereinbart haben, bereits europarechtswidrig. Denn wenn sich Flüchtlinge innerhalb des europäischen Schengenraums bewegen, sind sie bereits in einem Europa der offenen Grenzen unterwegs. Alle EU-Mitgliedstaaten müssen also die Vorgaben der EU-Asylverfahrensrichtlinie und der Aufnahmerichtlinie beachten, die ein ordentliches Asylverfahren vorsehen und nur spezielle Gründe für Inhaftierungen erlauben. Eine Festsetzung zur Durchführung eines Asylverfahrens ist dabei nicht möglich (Art. 8 EU-Aufnahmerichtlinie). Überdies hatte schon Anna Lübbe 2016 auf dem Verfassungsblog überzeugend dargelegt, warum die Konstruktion von Transit-Räumen innerhalb von Europa praktisch nicht möglich ist. Dass Deutschland und andere Mitgliedstaaten immer noch Binnengrenzkontrollen durchführen, ist der eigentliche fortgesetzte Rechtsbruch, weil sie in dieser Form nach Art. 22ff des Schengener-Grenzkodexes nicht mehr begründbar sind. Wenn die Transitzonen nicht nur von kurzer Dauer sein sollen, dann werden Binnengrenzkontrollen wieder zur Normalität werden. Ob dann noch etwas von der Europäischen Union übrig bleibt? Nach der Veröffentlichung des Unionsvorschlags haben bereits mehrere EU-Staaten (darunter Österreich und Italien) erklärt, im Falle bayerischer Transitzonen ihrerseits dauerhafte Grenzkontrollen einzuführen.
Wenn Unterstützer des Unionsvorschlags nun auf das Flughafenasylverfahren verweisen, dass seit den 1990er Jahren in Deutschland praktiziert wird, so macht ihnen in diesem Fall erneut der EGMR einen Strich durch die Rechnung. Im Fall Amuur gegen Frankreich, den der EGMR schon 1996 entschieden hatte, entwickelte der Gerichtshof Grundsätze zur Inhaftierung von Asylsuchenden in Transitzonen (in diesem Fall für den Pariser Flughafen, ebenfalls dazu: der Beitrag von Hannah Birkenkötter auf dem Verfassungsblog). Schon damals stellte der Gerichtshof klar: Auch wenn im Gesetz von einer Fiktion der Nicht-Einreise ausgegangen wird, die auch der Unionsvorschlag vorsieht, hat die internationale Transitzone keinen extraterritorialen Status (Randnummer 52 des Urteils). Das bedeutet zugleich für die möglichen Transitzentren in Bayern, dass alle rechtsstaatlichen Garantien umfassend anwendbar sind. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder sagte hingegen in einem Interview mit dem ZDF, dass Asylsuchende gegen ihre Form der Unterbringung nicht rechtlich vorgehen könnten. Und auch wenn die CSU argumentiert, die Transitzonen seien keine Inhaftierung, so hat der EGMR auch hier eine andere Ansicht: Flüchtlinge in Transitzonen festzuhalten, sei gleichbedeutend mit einem Freiheitsentzug (Randnummer 49). Weiterhin schließe die bloße Tatsache, dass Flüchtlinge das Land, in das sie fliehen, wieder freiwillig verlassen könnten, eine Einschränkung der Freiheit nicht aus (Randnummer 48). Haft bleibt also Haft, selbst wenn Flüchtlinge die Transitzone in eine Richtung wieder verlassen können.
Möglicherweise versucht die Bundesregierung das Problem der Haft-Rechtsprechung noch zu umgehen. Angela Merkel sagte in einem Interview, in den Zentren müsse innerhalb von 48 Stunden entschieden werden, ansonsten seien sie unter den Bedingungen des Grundgesetzes nicht möglich. Sie bezieht sich dabei wohl auf Art. 104 GG, demzufolge eine richterliche Entscheidung über die Freiheitsentziehung innerhalb von einem Tag gefällt werden muss. Das schließt hingegen nicht aus, dass die Freiheitsentziehung selbst länger dauern kann, sofern ein Gesetz dies regelt. Die grundsätzliche Unvereinbarkeit der Transitzentren mit dem Europa- und Völkerrecht würde aber auch bei schnellen Verfahren bestehen bleiben.
Falsche Propheten regieren in Europa
Die Orbánisierung Europas zielt also darauf ab, rechtsstaatliche Grundsätze immer stärker auszuhöhlen. Dass die europäischen Gerichte auch in Zukunft dieser Entwicklung Einhalt gebieten, ist nicht sicher. Es gab schon dieses Jahr den Versuch, die Kompetenz des EGMR für das Asylrecht deutlich zu beschneiden (siehe hier). Die Rückabwicklung eines unabhängigen Justizwesens, das in Polen und Ungarn bereits im vollen Gange ist, werden die reaktionären Akteure auch auf der europäischen Ebene angehen, weil sie dort mittlerweile eine Mehrheit haben. Eine Verteidigung von rechtsstaatlichen Verfassungspositionen, wie sie der Staatsrechtler Wolfgang Abendroth immer anmahnte, ist also notwendig, um überhaupt noch demokratische Handlungsspielräume aufrechtzuerhalten. Zugleich müssten aber die Verteidiger/innen des Rechtsstaats ein politisches Projekt entwerfen, dass den gesellschaftlichen Ursachen für den aktuellen Rechtsruck die Grundlage entzieht. Das ist dann weniger eine rechtsstaatliche, sondern eine soziale und demokratische Frage.
Die us-amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown hat in ihrem Buch „Mauern: Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität“ geschrieben:
„Mauern, die um politische Gebilde herum errichtet werden, können nicht abwehren, ohne zugleich einzusperren, können nicht schützen, ohne Versicherheitlichung zur Lebensform zu machen, können kein äußeres ‚sie‘ definieren, ohne ein reaktionäres ‚wir‘ zu produzieren, obwohl sie die Grundlage für diese Unterscheidung selbst unterminieren. Psychologisch, gesellschaftlich und politisch betrachtet, verwandeln Mauern eine geschützte Lebensform unweigerlich in ein Sicherverkriechen und Zusammenkauern“ (S. 73f.).
Was Wendy Brown beschreibt sind die gesellschaftlichen Folgen des Mauer- und Lagerbaus: Gesellschaften entwickeln neue Formen der Sozialisierung, die menschenfeindliche Einstellungen hervorbringen. Deshalb verschwinden die autoritären Kräfte auch nicht, wenn sie es geschafft haben, Flüchtlinge an ihren Grenzen abzuwehren. Auch hier ist ein Blick auf Ungarn lohnenswert, weil Viktor Orbán seit vielen Jahren immer neue Feindbilder produziert. Am Anfang waren es die ungarischen Sozialisten, dann die angeblich „linksliberalen Medien“, schließlich Flüchtlinge und mittlerweile zivilgesellschaftliche Organisationen und die Europäische Union an sich. Die Kritischen Theoretiker Leo Löwenthal und Norbert Guterman haben schon 1949 in ihrer Studie „Falsche Propheten“ beschrieben, wie rechte Agitatoren apokalyptische Szenarien herbeireden und Feindbilder produzieren, um davon abzulenken, dass ihre Politik nicht in der Lage ist, die soziale und demokratische Frage zu lösen. Dass die CSU ihrerseits immer stärker in den Tonfall der Falschen Propheten einstimmt, ist eine überaus bedenkliche Entwicklung für den Rechtsstaat und die Demokratie.
Der Autor schreibt im Kontext des Forschungsprojekts Beyond-Summer15 u.a. an einer Studie über die ungarische Asylpolitik und hat zu diesem Zweck den Staat im Rahmen von drei Forschungsreisen besucht.