Die große Illusion
Eine Wahl ist eine Bilanz, keine GuV. Sie ermittelt nicht jemandes Gewinn bzw. Verlust über eine bestimmte Zeitstrecke hinweg, sondern sie hat einen Stichtag: den ersten Dienstag im November alle vier Jahre, nach Jahrhunderte alter amerikanischer Verfassungstradition. Ermittelt wird, wer an diesem Tag für wen ist, egal ob die Person am Tag zuvor noch für jemand anderen war oder am Tag danach ihre Wahl bereut. Wer sich vorzeitig festlegen will, kann das tun, aber das ändert nichts daran, dass die Wahl einen Stichtag hat. Sie ist ein Punkt auf der Zeitachse, kein Strich.
Das bekommt man leicht aus dem Blick, schon bei den vergangenen Wahlen in den USA, aber bei dieser ganz besonders. Man sitzt vor dem Bildschirm, verfolgt die sich ständig aktualisierenden Ticker, hört die Experten kommentieren wie bei einem Sportereignis: Dauernd passiert was. Der eine “liegt vorne”, der andere “muss kämpfen”, es geht um Terraingewinn, es gibt eine Ziellinie, der eine rückt ihr näher, der andere holt auf – der Punkt streckt sich und zieht sich und wird zum Strich, zur Zeitspanne, wird spannend, polarisiert, ein Wettkampf. Dieser Wettkampf ist nichts als Illusion: Es geht um längst abgegebene Stimmen. Der vermeintlich dramatische Vorgang ist so undramatisch wie man nur denken kann – prüfen, zählen, tabellieren, addieren, nicht spannender als der Download Bar auf dem Computerbildschirm. Aber wir alle sitzen davor, bis spät in die Nacht, bis uns das Hirn brutzelt vor lauter Rot und Blau und Maricopa County und John King, und gehen nicht ins Bett, und wenn doch, dann können wir nicht schlafen.
In diesem Jahr nimmt der vermeintliche Wettkampf gar kein Ende, eher ein Cricket- als ein Footballmatch. Aber was für eine Spannung! Wie sich da die blauen und roten Spannungspole immer mehr einander und der magischen Zielmarke 270 annähern! Wie die Zeit sich immer weiter dehnt und zieht! Eine weißglühende Zeitspanne, gestreckt und bis zum Zerreißen gespannt wie unsere Nerven in der Pandemie. Sie lädt sich auf mit Spannung, die Zeit, und muss sich irgendwann doch entladen, und sei es durch einen Schiedsrichterentscheid. Denn ein Ende muss sie haben, die Zeitspanne, etwas anderes wäre ja gar nicht auszuhalten.
Diese Illusion, die totenöde Stimmauszählung mit Spannung aufzuladen, war nicht Donald Trumps Idee, genauso wenig wie die Pandemie, die diese Zeitspanne diesmal so in die Länge zieht. Aber sie fällt exakt in den sehr eng gefassten Bereich dessen, wovon Donald Trump wirklich etwas versteht. Das einzige, was an ihm keine Illusion ist, sind seine Fähigkeiten als Produzent von so genanntem “Reality TV”, i.e. von als Realität verkleideter, spannungsgeladener Illusion. Das ist, was er macht. Das ist, was er kann. Das, wenn auch sonst nichts, kann er wirklich. So stellt er sich vor die Kameras und macht einen weiteren, noch viel spannenderen Spannungsbogen auf, das Spiel hinter dem Spiel, die geheimen und verschwörerischen Machenschaften, die Briefwahlstimmen, die angeblich irgendwo “auftauchen” oder “verschwinden”, je nach dem, wo er grad noch vorne oder hinten liegt um ein paar Tausend Stimmen, auf dass aus dem illusionären Sportwettkampf ein illusionärer Kriminalfall werde. Ein Gerichtsdrama.
Aber sieh an: Die Geschichte verfängt nicht. Diesmal zieht das nicht so richtig. Bei seinen eigenen Leuten. Die mächtigen republikanischen Senatoren? Schweigen. Selbst auf Fox News ist man skeptisch. Wo sind die Beweise? Manche sagen, die werden schon noch kommen. Aber einstweilen gibt es keine. Also abwarten. Abwarten ist aber nicht spannend. Die Spannung entweicht aus Donald Trumps Geschichte. Die Illusion wird löchrig und fadenscheinig. Und dahinter wird ein weiterer Spannungsbogen sichtbar.
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Er überspannt mehr als 30 Jahre, dieser Spannungsbogen. Ende der 80er, in der Abendsonne der Reagan-Ära, haben die Republikaner begriffen, dass sich die Herrschaft der reichen weißen Männer durch das bloße Organisieren von Mehrheiten auf Dauer nicht verteidigen lassen wird. Die anderen werden immer mehr, das ist nicht zu ändern. Nein, die counter-majoritarian institutions sind der Schlüssel. Allen voran die Justiz. Dort müssen sie ihre Leute platzieren, keine neutralen Kompromisskandidaten, nein, ihre Leute, ihre Parteigänger mit einem klaren Auftrag, nämlich zu durchlöchern, zu blockieren und zu Fall zu bringen, was die demokratische Mehrheit an Reformen wider die immer eklatantere Ungerechtigkeit beschließen wird auf ihre, deren Profiteure Kosten. Diese Geschichte haben sich die Republikaner seit 30 Jahren erzählt und über die letzten vier Jahre der Trump-Administration in weitem Umfang in die Tat umgesetzt. Wenn Biden jetzt gewönne statt Trump, wäre das so schlimm? Was soll der demokratische Präsident gegen die Senatsmehrheit und den Obersten Gerichtshof schon ausrichten? Soll der gute alte Joe doch ruhig vier miserable Jahre lang einen Misserfolg nach dem anderen einfahren. Uns soll’s Recht sein, wir sind eh für small government. Biden mit Hilfe der Gerichte und Landesparlamente wegen Wahlfälschungen zu verhindern, die es gar nicht gibt, ist dagegen riskant und kostet eine Menge politisches Kapital, und warum sollten wir unser Pulver jetzt noch für den orangen Clown und seine vulgäre Nachkommenschaft verballern? Viel besser, jetzt erstmal ruhig ein Musterbild an institutioneller Verantwortung und Zurückhaltung abzugeben. Um so glaubwürdiger sind wir, wenn es nachher um die uns wirklich wichtigen Dinge geht.
Aber auch dieser Spannungsbogen ist am Ende nur eine Illusion mitsamt der ganzen vermeintlich so unschuldigen, vermeintlich so exzeptionellen Weißheit, die er verteidigen und reproduzieren soll. Unterdessen passieren da draußen Dinge. Menschen sterben. Wälder brennen. Ganz egal, was wir uns darüber erzählen. Ganz egal, ob wir das spannend finden. Das passiert, auf seiner eigenen, an unsere Aufmerksamkeitsspannen nicht angepassten Zeitskala. Das ist die Wirklichkeit.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Wie Trumps Strategie aussieht, sich mit Hilfe der Gerichte und der republikanischen Mehrheiten in den Parlamenten der maßgeblichen Bundesstaaten auch im Fall seiner Abwahl an der Macht zu halten, erläutert KIM LANE SCHEPPELE. Zu dem juristischen Showdown, der im Hintergrund der Auszählungsberichterstattung ablief, habe ich in unserem Podcast Corona Constitutional (Folge 50, tadah!) mit der Anwältin ANJA VON ROSENSTIEL aus Boston gesprochen, die in Joe Bidens Wahlkampfteam mitgearbeitet hat.
JUD MATHEWS berichtet von den Signalen aus dem Supreme Court im Vorfeld der Wahl, insbesondere einer Concurring Opinion des Richters Kavanaugh, die einen Eindruck vermittelt, wozu da so mancher auf der Richterbank bereit stünde. URSUS EIJKELENBERG beschäftigt sich mit den Folgen einer für Donald Trump günstigen Entscheidung: Nicht nur würde diese das Gericht selbst delegitimieren, sondern die USA auch in die Autokratie stürzen. Falls die Demokraten eines Tages doch noch einmal die dazu notwendigen Mehrheiten in die Hand bekommen sollten, hat CULLEN O’KEEFE einen Vorschlag für sie, wie durch Drohung mit Court Packing dafür sorgen können, die Drohung nicht umsetzen zu müssen.
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Der Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main lädt ein zum Frankfurter Kolloquium für Internetforschung 2021
Die nächsten Termine:
Do, 19.11.2020, 12-13.30 Uhr: Matthias Cornils (Mainz): Medienaufsichtliche Plattform- und Intermediärregulierung in Deutschland: Chance, Hybris oder Symbolpolitik?
Do, 17.12.2020, 12-13.30 Uhr: Julia Schütze (Stiftung Neue Verantwortung, Berlin): Cyberangriff auf die Demokratie: EU und USA in Gefahr?
Do, 21.1.2020, 12-13.30 Uhr: Maximilian Becker (Hannover): Freiheit zur Rechtswidrigkeit im Internet: Herausforderungen technischer Rechtsdurchsetzung
Do, 18.3.2021, 12-13.30 Uhr: Verena Haisch (DLA Piper und Deutscher Juristinnenbund e.V.): Die Rolle des Rechts im Kampf gegen digitale Gewalt gegen Frauen – Theorie vs. Praxis
Anmeldung an PD Dr. Matthias C. Kettemann: internetrecht@jur.uni-frankfurt.de
Informationen und weitere Termine: normativeorders.net/internetforschung
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In Deutschland ist wie überall sonst auch der Corona-“Lockdown” zurück, oder was man halt so nennt. THORSTEN KINGREEN missfällt, dass dem bayerischen Verordnungsgeber offenbar nicht aufgefallen ist, dass neben Religions- und Versammlungsfreiheit auch die Kunstfreiheit Verfassungsrang genießt. JOHANNES GALLON und ANNA KATHARINA MANGOLD mahnen, die Pflicht des Staates zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit in der öffentlichen Debatte nicht zu übersehen. ANDREA KIESSLING kritisiert die aktuellen Pläne der Bundesregierung, die Ermächtigungsgrundlage der Corona-Maßnahmen im Infektionsschutzgesetz gerichtsfester zu machen: Noch immer werde dem verfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt und dem Bestimmtheitsgebot nicht hinreichend Rechnung getragen.
NYASHA WEINBERG und JOELLE GROGAN listen acht Prinzipien rechtsstaatlicher Regierungskunst auf, die sich in der Corona-Krise in Europa bewährt haben. TOMER KENNETH analysiert einen Bericht von Freedom House, wonach die Pandemie von vielen Regierung dazu genutzt wird, Desinformation zu betreiben und demokratische Werte zu unterminieren.
Wie es in Polen weitergeht nach dem skandalösen Urteil des “Verfassungsgerichts” zur Abtreibung und den massiven Protesten dagegen, bleibt auch in dieser Woche ein Thema. ALEKSANDRA KUSTRA-ROGATKA zeigt, wie weit Populismus und Popularität in Polen gerade auseinander klaffen. JAN MUSZYŃSKI schildert, wie viel die Klemme, in der sich die PiS-Regierung jetzt befindet, mit der von ihr selbst so brutal herbeigeführten Politisierung des Gerichts zu tun hat.
Im Rule of Law-Podcast ging es diese Woche ebenfalls um Polen, aber auch um Ungarn, Irland und Deutschland. LENNART KOKOTT spricht mit ATTRACTA O’REGAN, ANNA KATHARINA MANGOLD, GÁBOR ATTILA TÓTH und JAKUB URBANIK über die juristische Ausbildung und wer kontrolliert, was die künftigen Richter_innen, Staats- und Rechtsanwält_innen und Staatsbeamt_innen alles an der Uni lernen.
Den umfangreichen Vorschlag der EU-Kommission zur Asylrechtsreform hat sich DANIEL THYM kritisch angeschaut, vor allem was die Verhinderung von sogenannter Sekundärmigration betrifft.
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Zwischen Armenien und Aserbaidschan wird gekämpft, und anders als beim Krim-Referendum 2014 beschränkt sich die internationale Gemeinschaft im Konflikt um Bergkarabach auf die Forderung nach einer Waffenruhe. POLINA KULISH und KRISTINA LIER führen den unterschiedlichen Umgang in den beiden Fällen auf verschiedene Doktrinen des internationalen Rechts auf Selbstbestimmung zurück.
In Chile wird nach erfolgreicher Volksabstimmung die aktuelle Verfassung aus Zeiten der Pinochet-Diktatur durch eine neue ersetzt. FRANCISCA MOYA und MARCO GOLDONI warnen angesichts der drängenden sozialen Fragen im Land vor Überkonstitutionalisierung.
In den USA können sich Republikaner und Demokraten so leicht auf nichts einigen im Moment, auf eins aber schon: dass das mit den Social-Media-Plattformen so nicht weitergeht. MIKE GODWIN warnt im Streit um die Verantwortung der Plattformbetreiber für die auf der Plattform verbreiteten Inhalte davor, falschen Dichotomien aufzusitzen und so die Dominanz von Facebook sogar noch zu zementieren: Die Plattformbetreiber seien weder mit der (haftungsbefreiten) Post noch mit den (haftenden) Verlagen zu vergleichen, sondern etwas dazwischen – vergleichbar mit Buchhandlungen.
Facebook spielt an Frauen andere Stellenanzeigen aus als an Männer, und nein, das kann man nicht einfach auf den Algorithmus schieben. WIEBKE FRÖHLICH, vor vielen Jahren unsere erste Praktikantin, kehrt jetzt mit einem Beitrag zu diskriminierendem Gendertargeting als Autorin zu uns zurück, was wir sehr toll finden.
RALF MÜLLER-TERPITZ untersucht, wie Deutschland mit der europarechtlichen Pflicht umgeht, Uploadfilter zum Schutz vor Urheberrechtsverletzungen einzuführen, und hält die gefundene Regelung für einen guten Kompromiss.
In Finnland hat ein Cyberangriff auf psychotherapeutische Patientendaten mit anschließender Lösegeldforderungen drastisch vor Augen geführt, wie verwundbar die digitale Infrastruktur im Gesundheitswesen sein kann. SUSANNA LINDROOS-HOVINHEIMO untersucht den Fall aus datenschutzrechtlicher Perspektive.
Mitarbeit: Jochen Schlenk
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Max Steinbeis
„Eine Wahl ist eine Bilanz, keine GuV. Sie ermittelt nicht jemandes Gewinn bzw. Verlust über eine bestimmte Zeitstrecke hinweg, sondern sie hat einen Stichtag:“
Das ist meines Erachtens schlicht unzutreffend. § 266 Abs. 3 Handelsgesetzbuch sieht das anders. Unter A. Eigenkapital wird V. die Position „Jahresüberschuß/Jahresfehlbetrag“ ausgewiesen. Der Betrag dieser Position stimmt mit dem Betrag der Position „Jahresüberschuß/Jahresfehlbetrag“ in der GuV überein (§ 275 Abs. 3 Nr. 16). In der Bilanz wird der Gewinn bzw. Verlust (Jahresüberschuß/Jahresfehlbetrag) durch Bestandsvergleich ermittelt.