Die öffentlichen Verleumder
Gottfried Keller (1878/1883)
Ein Ungeziefer ruht
In Staub und trocknem Schlamme
Verborgen, wie die Flamme
In leichter Asche tut.
Ein Regen, Windeshauch
Erweckt das schlimme Leben,
Und aus dem Nichts erheben
Sich Seuchen, Glut und Rauch.
Aus dunkler Höhle fährt
Ein Schächer, um zu schweifen;
Nach Beuteln möcht’ er greifen
Und findet bessern Wert:
Er findet einen Streit
Um nichts, ein irres Wissen,
Ein Banner, das zerrissen,
Ein Volk in Blödigkeit.
Er findet, wo er geht,
Die Leere dürft’ger Zeiten,
Da kann er schamlos schreiten,
Nun wird er ein Prophet;
Auf einen Kehricht stellt
Er seine Schelmenfüße
Und zischelt seine Grüße
In die verblüffte Welt.
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Gehüllt in Niedertracht
Gleichwie in einer Wolke,
Ein Lügner vor dem Volke,
Ragt bald er groß an Macht
Mit seiner Helfer Zahl,
Die hoch und niedrig stehend,
Gelegenheit erspähend,
Sich bieten seiner Wahl.
Sie teilen aus sein Wort,
Wie einst die Gottesboten
Getan mit den fünf Broten,
Das klecket fort und fort!
Erst log allein der Hund,
Nun lügen ihrer Tausend;
Und wie ein Sturm erbrausend,
So wuchert jetzt sein Pfund.
Hoch schießt empor die Saat,
Verwandelt sind die Lande,
Die Menge lebt in Schande
Und lacht der Schofeltat!
Jetzt hat sich auch erwahrt,
Was erstlich war erfunden:
Die Guten sind verschwunden,
Die Schlechten stehn geschart!
Wenn einstmals diese Not
Lang wie ein Eis gebrochen,
Dann wird davon gesprochen,
Wie von dem schwarzen Tod;
Und einen Strohmann bau’n
Die Kinder auf der Haide,
Zu brennen Lust aus Leide
Und Licht aus altem Grau’n.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von MAXIMILIAN STEINBEIS:
Gottfried Keller hat sein Gedicht über die “öffentlichen Verleumder” aus Anlass einer Lügen- und Hetzkampagne gegen einen jüdischen Nervenarzt in Zürich verfasst. Als er es veröffentlichte, tobte in Berlin der Antisemitismusstreit, angefacht von dem Hofprediger Adolf Stöcker und dem Historiker Heinrich von Treitschke. Wie frappant gut das Gedicht des Schweizer Dichters auf Adolf Hitler passte, fiel dessen Zeitgenossen schnell auf; Erika Mann führte es in der “Pfeffermühle” auf und Hans Scholl las es 1942 am Geburtstag seiner Schwester Sophie der Weißen Rose vor. Jetzt, weitere 80 Jahre später, scheint es mir an der Zeit, sich erneut an dieses Gedicht zu erinnern und sich von seiner Wut und seiner Wucht anstecken, inspirieren und Kraft verleihen zu lassen.
Antisemitismus zu bekämpfen und das Existenzrecht Israels zu bekräftigen ist deutsche “Staatsräson”, heißt es überall, und so sehr diese merkwürdig vordemokratische Begriffswahl irritiert, so klar teilt der Verfassungsblog diese Ziele als solche. Wenn damit allerdings eine so missbrauchsanfällige und umstrittene Definition von Antisemitismus wie die IHRA-Arbeitsdefinition verknüpft und verbindlich gemacht wird, dann führt das in gravierende verfassungsrechtliche Probleme. Die führt eine Autor*in näher aus, die “aufgrund der im Text geschilderten Diskursverengung im Zusammenhang mit der durch das WissZeitVG bedingten akademischen Berufsunsicherheit” darum gebeten hat, ihren Text bei uns ausnahmsweise unter dem Pseudonym CLARA NEUMANN veröffentlichen zu können.
Hamas ist eine kriminelle Terrororganisation und keine Freiheitsbewegung, und sich gegen sie auch militärisch zu verteidigen, ist nach dem Völkerrecht erlaubt. Das ändert nichts an dem Dilemma, dass auch in einem erlaubten Krieg das humanitäre Völkerrecht zu beachten ist. STEFAN OETER untersucht, was das für Israel und Gaza bedeutet.
In Thüringen stellt sich in diesen Tagen heraus, ob die rot-rot-grüne Minderheitsregierung den Haushalt 2024 verabschiedet bekommt. Wenn nicht, dann könnte Ministerpräsident Bodo Ramelow die Vertrauensfrage stellen, um vorzeitige Neuwahlen herbeizuführen – was aber gar nicht so ohne weiteres möglich ist, wenn man die Landesverfassung beim Wort nimmt. Anders als Robert Böttner letzte Woche hält SEBASTIAN DETTE eine einschränkende Auslegung der Verfassung insoweit für möglich und geboten.
Bei den bevorstehenden Europawahlen werden auch in Ungarn Abgeordnete ins Europaparlament gewählt. Was kann der Europäische Gerichtshof tun, um freie und faire Wahlen zu gewährleisten? Können bzw. müssen die ungarischen Gerichte Problemfälle in Luxemburg vorlegen? Die Frage bejaht DÁNIEL G. SZABÓ.
Österreich wird von der Affäre um den kürzlich tot aufgefundenen ehemaligen Justiz-Sektionschef Christian Pilnacek heimgesucht. Es geht um die Unabhängigkeit der Justiz und die Möglichkeiten der Politik, Druck auszuüben und so Ermittlungen zu beeinflussen. PETER HILPOLD klärt auf, was es mit der Affäre auf sich hat und was das Europarecht zu dem Thema sagt.
Der jährliche “Rule-of-Law-Dialog“, mit dem der Rat die rechtsstaatlichen Probleme von Mitgliedstaaten zu bearbeiten vorgibt, soll derzeit evaluiert werden. BENEDETTA LOBINA verspricht sich nicht viel von diesem angeblichen Versuch, dieses im Wesentlichen zur Selbstbestätigung der Mitgliedstaaten geschaffene und in punkto Rechtsstaatlichkeit vollkommen zahn- und wirkungslose Instrument wiederzubeleben.
Wird es der neuen polnischen Regierung möglich sein, die Rechtsstaatlichkeit in Polen auf rechtsstaatlichem Weg wiederherzustellen? Der polnische Richter am Europäischen Gerichtshof MAREK SAFJAN hält das für sehr gut möglich, wenn die Verfassung jetzt wieder ernst genommen wird. Schließlich ist die jetzige Situation nicht schwerer als die von 1989.
In Spanien hat Premierminister Pedro Sánchez seine Mehrheit mit dem Versprechen einer Amnestie für die verurteilten katalanischen Separatistenführer*innen gesichert. GERMÁN M. TERUEL LOZANO hält diese Amnestie für verfassungs- und rechtsstaatswidrig.
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Die Regulierung von Künstlicher Intelligenz in Europa durch den AI Act steht kurz vor der Zielgeraden, aber Deutschland, Frankreich und Italien wollen sie unter dem Druck von BigTech verwässern. JASCHA BAREIS beschreibt, was auf dem Spiel steht. Warum es keine Lösung ist, BigTech auf materielle Werte zu verpflichten, statt sie zu regulieren, begründet MAXIMILIAN WAGNER.
Ruth Bader Ginsburg, die legendäre Richterin am US Supreme Court, wäre in diesem Jahr 90 geworden. MATEUSZ GROCHOWSKI denkt in einem Essay fernab unserer sonstigen gewohnten Pfade über die ihr gewidmete Musik und überhaupt das Verhältnis von Recht und Musik nach.
Das Bundesverfassungsgericht hält das deutsche Wahlrecht mehrheitlich nicht für zu unverständlich, um verfassungsmäßig zu sein. Anders sieht das aber eine Minderheit von immerhin drei der acht Richter*innen im Zweiten Senat. Wie ein Ausweg aus dem Dilemma zwischen Komplexität und Klarheit aussehen könnte, überlegen YANNIK BREUER und JANNIK KLEIN.
In Belgien hat ein Gericht die Klimapolitik der Regierungen des Bundes und der Regionen Flandern und Brüssel als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt. ALICE BRIEGLEB und ANTOINE DE SPIEGELEIR halten dieses Urteil für beispielhaft gut gemacht, in scharfem Kontrast zu dem beklagenswerten Zustand, in dem sich der belgische Föderalismus befindet. MATTHIAS PETEL und NORMAN VANDER PUTTEN fokussieren auf das Spannungsverhältnis zwischen dem rechtlich Nötigen und dem ethisch Wünschbaren.
Die Debatte rund um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vereinbarkeit der Klimainvestitionen mit der Schuldenbremse geht mit einem Beitrag von GÜNTER FRANKENBERG weiter: Dem Urteil, so dessen Kritik, fehle jene Begründungsstrenge, die es dem Gesetzgeber abverlangt.
Der Versuch, das deutsche Straßenverkehrsrecht wenigstens ein bisschen mehr den Anforderungen der Klimagerechtigkeit anzupassen, ist im Bundesrat gescheitert. Den Vorgang untersuchen TESSA HILLERMANN, CHARLOTTE JAWUREK, FRIEDERIKE PFEIFER, LUISA SCHNEIDER und JULIAN SENDERS.
Demonstrationen auf deutschen Autobahnen werden oft mit dem Argument verboten, dass dann die Autobahn für lange Zeit gesperrt werden müsste. Stimmt aber gar nicht, hat JANNIS KRÜßMANN herausgefunden.
Ob das deutsche BAföG-System noch dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes entspricht, ist eine Frage, auf die in nächster Zeit eine Antwort des BVerfG zu erwarten ist. SHARI GAFFRON und JULIAN SEIDL sehen dringenden Reformbedarf.
Wie die Reformen der Ampel-Koalition in der Sozial-, Migrations- und Familienpolitik sich zu einem Sozial(staats)regime verschränken, das nicht nur dem Schutz, sondern auch der Ausgrenzung und Disziplinierung dient, rekonstruiert LISA RIEDNER.
So viel für diese Woche. Ihnen alles Gute!
Ihr
Max Steinbeis