Die Richtlinien der Flüchtlingspolitik
Seit dem Spätsommer 2015 und der damaligen „Grenzöffnung“ für Zuflucht und Perspektiven auf ein besseres Leben suchende Menschen, von denen seitdem ein durchaus beachtlicher Teil in Deutschland internationalen Flüchtlings- oder subsidären Schutz erlangt hat, befindet sich das politische Berlin (und München) in einem latenten Modus krisenhafter Aufgeregtheit. Der Streit zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU (wo steht eigentlich die übertönte SPD als Koalitionspartner?) hat in den letzten Wochen die politische Eskalationsspirale immer weiter gedreht und in eine handfeste Regierungskrise getrieben. Die von den Medien begehrlich aufgesogene Rhetorik wirkt schrill, theatralisch, effekthascherisch und letztlich provinziell: „Schicksal“, „Endspiel“ – warum nicht gleich: Armageddon, Ragnarök, Apokalypse? Ob Wahlkampftaktik oder Entschlossenheit zum Befreiungsschlag: dem lautstarken politischen Großszenario liegen im Ausgangspunkt vor allem sehr technische Rechtsprobleme zugrunde:
Die mit einer Zurückweisung an der Grenze verbundenen Rechtsfragen sind verwickelt und bis heute umstritten geblieben. Die in ihrer Semantik nicht leicht verdauliche Dublin-III-Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 604/2013), die festlegt, welcher Staat für die Entscheidung über internationalen Flüchtlingsschutz zuständig ist, enthält keine eindeutigen Regelungen, ob und unter welchen Voraussetzungen jemand, der sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention beruft, an einer europäischen Binnengrenze zurückgewiesen werden darf. Neben der praktisch wichtigsten Zuständigkeit desjenigen Mitgliedstaats, dessen Grenze eine Person als erstes illegal (sprich: ohne gültiges Einreisevisum nach Maßgabe der EG-Grenzkodex-Verordnung) überschritten hat (Art. 13 Abs. 1), kennt die Verordnung filigran differenzierte abweichende Zuständigkeiten, insbesondere zum Schutz der Familieneinheit (Art. 8 ff.). Drohen in einem an sich zuständigen Mitgliedstaat aufgrund systemischer Mängel im dortigen Asylverfahren unmenschliche Zustände, ist eine Zurückweisung dorthin ebenfalls unzulässig (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2); dies korreliert ggf. Verpflichtungen zum Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, worauf Herr Kollege Mathias Hong hier zutreffend hingewiesen hat. Dass eine solche Situation gerade erst durch eine systematische Grenzschließung und den damit ausgelösten Rückstau entlang der Migrationsroute ausgelöst werden könnte, wird man bedenken müssen. In jedem Fall setzt eine Entscheidung über die Zuständigkeit die vorherige Registrierung einer Person bei der erstmaligen Einreise in den Schengen-Raum voraus.
Ob eine Entscheidung über die Zuständigkeit in einer summarischen Prüfung an der Grenze erfolgen kann oder nicht zur Durchführung eines Verwaltungsverfahrens zur Bestimmung der Zuständigkeit zunächst eine Einreise zu gestatten ist (wofür gute Argumente sprechen), ist bislang nicht geklärt. Dementsprechend ist auch unsicher, ob § 18 Abs. 2 AsylG, wonach eine Einreise aus einem sicheren Drittstaat an der Grenze verweigert werden soll, überhaupt anwendbar ist oder nicht von vorrangigem Unionsrecht verdrängt wird (wofür erneut viel spricht). Selbst wenn eine Zurückweisung an der Grenze rechtlich möglich sein sollte, bedeutet dies nicht, dass zugleich auch eine Verpflichtung zur Einreiseverweigerung besteht. Art. 17 Dublin-III-Verordnung sieht vielmehr einen – richtigerweise auch generellen – Selbsteintritt eines unzuständigen Mitgliedstaats in dessen Ermessen vor. Die Option eines Selbsteintritts wird kraft vorrangigen Unionsrechts eingeräumt und kann daher auch nicht durch nationales Recht (wie hier § 18 Abs. 2 AsylG) pauschal ermessensreduzierend ausgeschlossen werden, schon weil insoweit eine ermessensleitende Berücksichtigung der Ziele des Unionsrechts sowie der nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EU-Grundrechtecharta anwendbaren Unionsgrundrechte unzulässig unterlaufen würde.
Was in aufgeplusterter Rhetorik zur „Herrschaft des Unrechts“ erklärt wurde, entpuppt sich also als ein Knäuel diffiziler Rechtsfragen, über die sich ganze Dissertationen schreiben ließen. Für die Zulässigkeit wie für die Unzulässigkeit einer Zurückweisung von Schutzsuchenden an der deutschen Außengrenze lassen sich – wie meistens bei unerwarteten Szenarien – jeweils gute Argumente anführen. Schon dies sollte davor bewahren, das migrationspolitische Handeln der Bundesregierung seit dem Herbst 2015 vereinfachend als fortgesetzten Rechtsbruch zu diffamieren, aber auch (sachlich vorgetragene) rechtliche Kritik pauschal als Rechtspopulismus oder Ausdruck einer inhumanen Gesinnung abzuqualifizieren. Gefordert ist Nüchternheit und ein Quäntchen politische Weitsicht – auch über den 14. Oktober 2018 hinaus.
Zur Beantwortung der innerhalb der Bundesregierung umstrittenen Frage, wie künftig mit Menschen, die auf dem Landweg (und damit aus sicheren Drittstaaten) einreisen, umgegangen werden soll, ist also zunächst rechtlich zu klären, inwiefern eine Zurückweisung unionsrechtlich überhaupt zulässig ist. Ggf. muss zudem politisch geklärt werden, ob von einer Zurückweisung abgesehen werden und die Bundesrepublik Deutschland die Asylverfahren im Wege des Selbsteintritts übernehmen soll. Hierbei wären auch die möglichen Folgen der Handlungsalternativen sorgfältig abzuwägen. So mag eine Zurückweisung registrierter Migrantinnen und Migranten an der Grenze zwar kurzfristig deutsche Behörden und Gerichte entlasten, ohne europäische Koordination aber der Bereitschaft der stark belasteten Einreisestaaten (insbesondere Griechenland, Italien) abträglich sein, Einreisende überhaupt noch ordnungsgemäß zu registrieren.
Sollte eine politische Einigung hierüber nicht gelingen, stellt sich politisch die Koalitions-, rechtlich aber die Kompetenzfrage. Eine Antwort auf letztere bietet immerhin Art. 65 Satz 1 GG: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.“ Auch Koalitionsvereinbarungen können die verfassungsunmittelbare Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin nicht wirksam beschränken. Richtlinien der Politik sind nach allgemeiner Auffassung – in Abgrenzung zur Ressortverantwortung der einzelnen Ministerinnen und Minister – nur grundlegende Entscheidungen, die für die politische Regierungsarbeit richtungsweisend sind. Die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin schließt auch die für die Regierung als Kollegialorgan verbindliche Entscheidung von Rechtsfragen ein. Mit der Bindung der Bundesregierung an das geltende Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) geht nämlich die Verpflichtung einher, sich zunächst einmal überhaupt eine Rechtsauffassung zu bilden, sofern dies angezeigt ist. Etwaige Rechtsprechung ist jedenfalls zu berücksichtigen, nach § 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz bindende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind dem Regierungshandeln zugrunde zu legen. Gleiches gilt mit Blick auf die Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) auch für die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Bislang fehlen jedoch orientierungsstiftende Gerichtsentscheidungen zur umstrittenen Frage einer Zurückweisung an der Grenze weitestgehend. Die Bundesregierung muss sich daher in dem Minenfeld unions- und verfassungsrechtlicher Meinungsstreitigkeiten aus eigener Kompetenz positionieren, was nicht unüblich ist, wird doch typischerweise die Exekutive als erstes mit neuen rechtlichen Herausforderungen konfrontiert.
Dass es bei der Flüchtlingspolitik, der Öffnung der deutschen Außengrenzen für Schutzsuchende und der damit untrennbar verbundenen Verantwortung gegenüber unseren europäischen Nachbarstaaten spätestens seit dem Herbst 2015 um grundlegende sowie richtungsweisende Fragen der Bundespolitik geht, lässt sich nicht ernsthaft bestreiten. Die „Flüchtlingskrise“ ist jedenfalls eines der zentralen, hoch kontroversen und zudem emotional überladenen Themen der vergangenen Jahre. Die Flüchtlingspolitik hat die politische Landschaft der Berliner Republik folgenreich sowie voraussichtlich für längere Zeit umgepflügt. Insoweit könnte aus rein rechtlicher Sicht der gegenwärtige Streit einseitig nach Art. 65 Satz 1 GG durch die Bundeskanzlerin beendet werden, indem eine gemeinsame Rechtsauffassung der Bundesregierung (vorbehaltlich späterer gerichtlicher Entscheidungen) festgelegt und auf dieser Grundlage eine gemeinsame Handlungsstrategie vorgegeben wird. Der Verpflichtung zur Umsetzung könnte ein Minister nur entgehen, indem er seine Entlassung verlangt (§ 9 Abs. 2 Bundesministergesetz). Ein unmittelbarer Durchgriff der Bundeskanzlerin auf nachgeordnete Behörden und den administrativen Vollzug (namentlich Weisungen an die Bundespolizei, wie an der Grenze zu verfahren ist,) scheidet allerdings aus. Die Organisationsgewalt sowie die Dienst-, Rechts- und Fachaufsicht verbleiben nach Art. 65 Satz 2 GG beim Ressortminister (BVerfGE 134, 141, 195) und können diesem auch nicht isoliert (ohne Kabinettsumbildung) entzogen werden. Verweigerung der Gefolgschaft könnte also seitens der Bundeskanzlerin wiederum nur durch Entlassung eines rebellischen Ministers sanktioniert werden. Dass dann die die Regierung tragende Koalition politisch am Ende wäre, ist unschwer zu erkennen.
Die Richtlinien der Politik nach Art. 65 Satz 1 GG sind zunächst ein schwaches Instrument, das politisch nicht weiter reicht als die Autorität der Bundeskanzlerin, eine Regierung und die dahinter stehende Koalition zusammenzuhalten. Da ein Zerbrechen der Regierungskoalition freilich nicht das Ende der Kanzlerschaft bedeutet und Mehrheiten für ein konstruktives Misstrauensvotum nach Art. 67 GG nicht erkennbar sind, könnte eine Richtlinien-Entscheidung in einer instabilen Konfliktlage durchaus probates (letztes) Mittel sein. Sympathien eines sich vornehmlich nach Stabilität und guter Verwaltung sehnenden Wahlvolkes mit politischen Rebellen dürften sich spätestens dann wenden, wenn ein Beharren auf Prinzipien das Land ins Chaos stürzt. Staatspolitische Verantwortungslosigkeit würde voraussichtlich abgestraft. Es bleibt daher zu hoffen, dass am Ende niemand die politischen Risiken – zumal hier auch für das Funktionieren des repräsentativ-demokratischen Systems insgesamt – eingehen möchte.
In der zugrunde liegenden Sachfrage haben nationale Alleingänge ohnehin von vornherein keine Aussicht auf nachhaltige Erfolge. Eine Flüchtlingspolitik, die unserem humanitären Selbstverständnis, den realen Grenzen des administrativ zu Bewältigenden sowie den dem Staat entgegengebrachten Ordnungserwartungen gerecht wird, ist ohne gesamteuropäische Lösungen nicht ernsthaft möglich. Dazu müssen dann aber auch diejenigen Staaten an den Außengrenzen überzeugt werden, auf deren legitime Interessen wir lange Zeit nur wenig Rücksicht genommen haben.
interessant und konstruktiv.
ich würde nachfragen: wie begründet sich die These, die Festlegung einer verbindlichen rechtsauffassung sei Bestandteil der richtlinienkompetenz? unter der Bindung an Recht und Gesetz auch der Kanzlerin würde ich das eher der Regierung als kollektivorgan zuweisen und daher aus der richtlinienkompetenz herausnehmen.
Ich würde sagen, die ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Bindung an Recht und Gesetz mit der Richtlinienkompetenz: Die Bundesregierung (und die Kanzlerin) sind an Recht und Gesetz gebunden, damit muss sich auch die Regierungspolitik auf Recht und Gesetz stützen. Wenn die Bundeskanzlerin nun die Richtlinienkompetenz ausübt, muss dies – bei ungeklärten Rechtsfragen – notwendigerweise die Kompetenz mitbeinhalten, Rechtsfragen für die Bundesregierung verbindlich auszulegen, denn nur dann kann darauf die Regierungspolitik gestützt werden.
Ansonsten könnte die Kanzlerin aufgrund ihrer Rechtsauffassung eine gewisse Politik vorgeben, die aber ein Minister unterlaufen kann, in dem er eine Rechtsauffassung vertritt, mit der diese politische Richtung nicht denkbar wäre, weil sie rechtlich unzulässig wäre.
Herzlichen Dank für diesen abgewogenen und überzeugenden Beitrag. Erschreckend, dass sich außerhalb dieses Blogs eine nüchterne und informierte Perspektive auf dieses wichtige, im Vergleich zu anderen aber doch weniger existenzielle Thema kaum noch findet.
Lt. MDR reisen derzeit pro Monat 100 mit Einreisesperre belegte Ausländer wieder nach Deutschland ein. Auf welcher Rechtsgrundlage wurde die Wiedereinreise geduldet und wird zukünftig die Einreise geduldet? Wie ist das mit Art. 20 Abs.3 GG vereinbar?
Das BVerfG befand schon 1996 zum Asylkompromiss von 1993, dass eine Einreiseverweigerung auf Basis des GG und der darauf aufbauenden Gesetze nicht nur möglich ist sondern i.d.R. zu erfolgen hat.
Auf konkrete Nachfrage, welches europäische Recht eine Einreise erzwingt, antwortete Prof. Thym nur ausweichend und blieb die Antwort schuldig. Was den Schluss zulässt, dass keine europäische Regelung existiert, welche eine illegale Einreise aus einem sicheren EU-Land erzwingt.
Auch die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin kann nur im Rahmen Art. 20 Abs. 3 GG ausgeübt werden.
https://verfassungsblog.de/weshalb-man-asylsuchende-nicht-an-der-grenze-abweisen-kann/
https://verfassungsblog.de/weshalb-man-asylsuchende-nicht-an-der-grenze-abweisen-kann/#comment-761310
„Auf konkrete Nachfrage, welches europäische Recht eine Einreise erzwingt,“
Ich weiß jetzt nicht, was Herr Thym gesagt hat, aber Rechtsgrundlage wären Art. 20ff. Dublin III-Verordnung.
§ 18 Abs. 2 Asylgesetz, der die Zurückweisung (bzw. korrekt: Einreiseverweigerung) regelt, kommt nach dieser Auffassung – wegen des Vorrangs europäischen Rechts, das von vielen Stimmen so interpretiert wird, dass auch bei der Einreise von Asylbewerbern, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt haben – nicht zur Anwendung.
Außerdem müssen die nationalen Vorschriften wie § 18 Abs. 2 Asylgesetz europarechtskonform ausgelegt werden (effet utile), also auch etwa im Sinne der europäischen Rückführungsrichtlinie, die ebenfalls, so wird es ebenfalls vertreten, auch einer Zurückweisung entgegen steht.
„Das Grundgesetz garantiert jedem Menschen, der sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland befindet und ihrer Herrschaftsgewalt unterworfen ist, eine menschenwürdige Behandlung
(Art. 1 Abs. 1 GG). Das Grundgesetz
garantiert jedoch nicht den Schutz aller Menschen weltweit durch
faktische oder rechtliche
Einreiseerlaubnis.
Eine solche unbegrenzte Rechtspflicht besteht auch weder europarechtlich
noch völkerrechtlich. Entsprechende unbegrenzte Verpflichtungen dürfte der Bund auch nicht eingehen. Eine universell
verbürgte und unbegrenzte Schutzpflicht würde die Institution
demokratischer Selbstbestimmung und letztlich auch das
völkerrechtliche S