Einstimmig für alle, alle für einstimmig?
Gefahren für die Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit der EU-Gerichte
Angesichts der Bestrebungen, das Bundesverfassungsgericht besser zu schützen, drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob auf europäischer Ebene ähnliche Maßnahmen erforderlich sind. Derzeit sind rechtspopulistische und potenziell unionsfeindliche Parteien europaweit im Aufwind (dazu Martin). Insbesondere das Verfahren zur Ernennung von Richter*innen des EuGH und des EuG weist Schwachstellen auf, die Feind*innen einer unabhängigen Gerichtsbarkeit ausnutzen könnten.
Verfahren zur Ernennung von Richter*innen
Der EuGH besteht gemäß Art. 19 Abs. 2 Satz 1, 2 EUV aus einem*r Richter*in je Mitgliedstaat, das EuG gemäß Art. 254 Abs. 1 Satz 1 AEUV i.V.m. Art. 48 c) EuGH-Satzung aus zwei Richter*innen je Mitgliedstaat. Das Verfahren zur Ernennung von Richter*innen des EuGH ist in Art. 253 AEUV festgelegt. Nicht unionsrechtlich geregelt ist hingegen das innerstaatliche Verfahren zur Auswahl eines*r Kandidat*in, das dem Verfahren auf europäischer Ebene vorgelagert ist. Vorgegeben ist, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten das Vorschlagsrecht haben. Ansonsten ist es den Mitgliedstaaten überlassen, wie sie ihre Kandidat*innen aussuchen.1) Dem Wortlaut des Art. 253, 254 AEUV sind lediglich persönliche und fachliche Anforderungen zu entnehmen, die bei der Auswahl eines*r Kandidat*in beachtet werden müssen. Insbesondere müssen sie „jede Gewähr für Unabhängigkeit“ bieten. Wird ein Vorschlag gemacht, müssen die Regierungen der Mitgliedstaaten gemäß Art. 253 Abs. 1 Hs. 2 AEUV einen in Art. 255 AEUV vorgesehenen Ausschuss anhören, der zur Eignung der Bewerber*innen Stellung bezieht. Anschließend setzt die Ernennung das Einvernehmen der im Rat vereinigten Vertreter*innen der Mitgliedstaaten voraus, Art. 19 Abs. 2 Satz 5 EUV, Art. 253 Abs. 1 Hs. 2 AEUV.2)
Die Ernennung von Richter*innen des EuG nach Art. 254 AEUV unterscheidet sich von dem Verfahren nach Art. 253 AEUV lediglich hinsichtlich reduzierter fachlicher Anforderungen, die die Kandidat*innen erfüllen müssen.
Die Intransparenz innerstaatlicher Auswahlverfahren
Das Verfahren zur Ernennung von europäischen Richter*innen steht bereits seit längerem in der Kritik.3) Dabei wird vielerorts auf die Intransparenz der innerstaatlichen Verfahren hingewiesen.4)
Wie bereits dargestellt überlassen die Verträge es weitestgehend den Mitgliedstaaten, wie sie ihre Kandidat*innen bestimmen. Zudem sind die persönlichen und fachlichen Anforderungen, die ein*e Kandidat*in erfüllen muss, „von hohem Abstraktionsgrad“.5) Zur Unabhängigkeit der Richter*innen des deutschen Bundesverfassungsgerichts trägt insbesondere die Tatsache bei, dass deren Wahl in der Regel einen Kompromiss von Regierung und Opposition erfordert (dazu Eichberger). Vergleichbares gibt das Unionsrecht für die Auswahl eines*r Kandidat*in für die EU-Gerichte nicht vor. Vielmehr erlaubt es den Regierungen der Mitgliedstaaten, ihre Kandidat*innen im Alleingang zu bestimmen, ohne sich dabei auch nur mit den Abgeordneten der Regierungsmehrheit abstimmen zu müssen. Folge des Fehlens unionsrechtlicher Vorgaben ist, dass die Auswahl in den meisten Mitgliedstaaten das Ergebnis informeller Absprachen zwischen Ministerien ist und parteipolitische Erwägungen eine „beträchtliche Rolle“ spielen.6) Schon für sich genommen dürfte dies der Unabhängigkeit der Richter*innen nicht zuträglich sein. Darüber hinaus wird das Auswahlverfahren aber wohl zumindest in einzelnen Mitgliedstaaten nicht nur von legitimen parteipolitischen, sondern auch von (illegitimen) sachfremden Erwägungen dominiert.7) So wurde beispielsweise berichtet, dass der aktuelle ungarische Richter am EuGH, ohne ein formales innerstaatliches Auswahlverfahren von der ungarischen Regierung vorgeschlagen wurde. Zuvor war er Richter am EuG. Bis zu seiner Ernennung zum EuG-Richter war Csehi in der ehemaligen Anwaltskanzlei des damaligen ungarischen Justizministers tätig.
Der Fall Valančius
Die Intransparenz der Kandidat*innenauswahl ist nicht nur Ziel von Kritik aus der Wissenschaft, sondern auch Thema in einem anhängigen Verfahren beim EuGH. Im Ausgangsverfahren der Rechtssache C-119/23 hat Virgilijus Valančius, ein ehemaliger litauischer Richter des EuG, dagegen geklagt, dass die litauische Regierung an seiner Stelle andere Personen als Richter des EuG vorgeschlagen hat. Das litauische Recht sieht vor, dass eine aus hochrangigen Politiker*innen und Jurist*innen bestehende Arbeitsgruppe Bewerber*innen anhand der unionsrechtlich festgelegten Kriterien bewertet und eine Rangliste erstellt. Valančius hatte sich auf eine Wiederernennung beworben und war als am besten geeigneter Kandidat eingestuft worden. Jedoch scheiterte seine Auswahl (wohl) am Widerstand des litauischen Präsidenten (LRT), der seine Gründe für die Ablehnung nicht offenlegte. Statt Valančius schlug die litauische Regierung die zweitplatzierte Person vor, die wiederum der Eignungsprüfungsausschuss nach Art. 255 AEUV für ungeeignet befand. Daraufhin wurde der drittbeste Bewerber vorgeschlagen, der schließlich zum Richter des EuG ernannt wurde. Das Gericht, bei dem Valančius geklagt hat, hat sich mit Vorlagefragen an den EuGH gewandt. Es möchte unter anderem wissen, ob Art. 19 Abs. 2 EUV und Art. 254 AEUV Verpflichtungen bzgl. des Auswahlverfahrens begründen, mit denen nicht zu vereinbaren ist, dass die litauische Regierung nicht den Bewerber vorgeschlagen hat, den die Arbeitsgruppe am besten bewertet hat. Zugrunde liegt die Frage, ob das Unionsrecht über den Wortlaut hinausgehende Vorgaben bzgl. des innerstaatlichen Verfahrens macht. So hat der EuGH nun selbst Gelegenheit, die Transparenz der Ernennungsverfahren zu steigern. In seinen Schlussanträgen vertritt Generalanwalt Emiliou die Ansicht, dass das Unionsrecht solche Pflichten begründet (Rn. 59 ff.). Allerdings seien diese im Fall Valančius nicht verletzt worden. Eine Verletzung sei nur dann gegeben, wenn das innerstaatliche Verfahren die Integrität des gesamten Verfahrens zur Ernennung des*r Richters*in infrage stellt (Rn. 67). Dafür nennt der Generalanwalt zwei Beispiele, die so extrem sind, dass ein Mitgliedstaat es schon bewusst darauf anlegen müsste, um seine Pflichten zu verletzen. So soll es unionsrechtswidrig sein, „wenn bei einem Aufruf zur Einreichung von Bewerbungen als Anforderung an die Bewerber die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei genannt wird oder wenn die Entscheidung auf einen Bewerber fällt, der (…) öffentlich erklärt hat, dass er im Interesse seines Heimatstaates oder nach den Anweisungen des Organs, das ihn ausgewählt hat, handeln wird“ (Rn. 62) – also dann, wenn entweder die Regierung von vornherein kundtut, nicht auf der Suche nach einem*r unabhängigen Kandidat*in zu sein oder wenn ein*e Kandidat*in selbst in der Öffentlichkeit preisgegeben hat, der Tätigkeit als Richter*in nicht unabhängig nachgehen zu wollen. Auch wenn der Generalanwalt diese Beispiele selbst als „extrem“ bezeichnet, zeigen sie dennoch, wie viel Raum für Einflussnahmen den Mitgliedstaaten nach seiner Auffassung verbleibt.
Sollten bei der Ernennung von Richter*innen der höchsten europäischen Gerichte, deren Rechtsprechung Einfluss auf 27 Mitgliedstaaten entfaltet, nicht strengere Anforderungen gelten? Es mag sein, dass sich die litauische Regierung aus legitimen Gründen gegen Valančius entschieden hat. Dennoch hinterlässt die Undurchsichtigkeit ihrer Entscheidung einen ungünstigen Eindruck.
Fehlende gegenseitige Kontrolle durch die Mitgliedstaaten
Da eine Ernennung stets Einvernehmen voraussetzt, könnten die Mitgliedstaaten die Kandidat*innen grundsätzlich effektiv kontrollieren. Allerdings hat sich diese zwischenstaatliche Entscheidung mit der Zeit „nahezu zu einer bloßen Formalie“ entwickelt: Die Kandidat*innen werden von den Vertreter*innen der Mitgliedstaaten „abgenickt“.8) Grundgedanke des Einvernehmlichkeitserfordernisses dürfte unter anderem gewesen sein, dass die Mitgliedstaaten sich gegenseitig kontrollieren, um eine größtmögliche Akzeptanz der Richter*innen in allen Mitgliedstaaten zu erreichen und sicherzustellen, dass sie geeignet und unabhängig sind.9)
Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die innerstaatlichen Auswahlverfahren in der Regel intransparent sind, ist es problematisch, dass die Mitgliedstaaten von ihrer Kontrollmöglichkeit keinen Gebrauch machen. Dies dürfte jedoch weniger an deren fehlendem Interesse als vielmehr an den vertraglichen Regelungen liegen. Denn aufgrund des Einvernehmlichkeitserfordernisses haben zwar alle die Möglichkeit, eine*n Kandidat*in zu blockieren, wenn sie an dessen Unabhängigkeit zweifeln. Jedoch stellt die Blockademöglichkeit auch ein starkes Erpressungsmittel dar, um eine*n Kandidat*in zu erzwingen. Wird der Vorschlag eines Mitgliedstaats abgelehnt, kann dieser seinerseits die Vorschläge aller anderen ablehnen. Folglich würden die anderen Mitgliedstaaten vor die Entscheidung gestellt, entweder die*den für ungeeignet befundene*n Kandidat*in zu akzeptieren oder eine dauerhafte Blockade der Ernennung neuer Richter*innen zu riskieren. Indem die Mitgliedstaaten stets den Kandidat*innen der anderen zustimmen, stellen sie sicher, dass auch ihre eigenen ernannt werden.
Sollte es irgendwann doch zu einer Blockade kommen, würde diese zwar nicht unmittelbar die Funktionsfähigkeit des Gerichtshofs beeinträchtigen, da Art. 5 Abs. 3 EuGH-Satzung vorsieht, dass Richter*innen bis zur Ernennung ihres*r Nachfolger*in im Amt verbleiben. Jedoch sind Regelungen, aufgrund derer Richter*innen über das Ende ihrer Mandatszeit hinaus im Amt verbleiben, missbrauchsanfällig (dazu Lübbe-Wolff). Sie ermöglichen es demjenigen, der über eine Blockademöglichkeit verfügt, im Hinblick auf anstehende Verfahren abzuwägen, ob es für seine Interessen vorteilhafter ist, dass das Gericht in seiner aktuellen Zusammensetzung verbleibt oder er eine Neubesetzung anstreben sollte. Hinzukommt, dass vor den europäischen Gerichten ein Recht auf ordnungsgemäße Zusammensetzung des Gerichts besteht (EuGH, Urteil vom 1. Juli 2008, verb. Rs. C-341/06 P und C-342/06 P, Chronopost/UFEX u.a., Rn. 47.) und die Richter*innen nach den Verträgen auf Zeit tätig sind. Je länger sie über das Ende ihrer Mandatszeit hinaus im Amt verbleiben, desto zweifelhafter dürfte werden, ob dieses Recht nicht verletzt wird. Folglich käme es der Unabhängigkeit der Richter*innen und dem Schutz der Funktionsfähigkeit des Gerichts zugute, wenn man das Zustimmungserfordernis für die Ernennung von Richter*innen auf ein qualifiziertes Mehrheitserfordernis herabsetzte und damit das Risiko einer Blockade senkte.
Das mit dem gegenwärtigen Verfahren Risiken für die Unabhängigkeit von Richter*innen einhergehen, ist keine neue Erkenntnis. Bereits im Rahmen des Europäischen Verfassungskonvents im Jahr 2003 präsentierte ein Arbeitskreis Verbesserungsvorschläge für das Ernennungsverfahren, auf deren Grundlage das Verfahren um die zwingende Einschaltung des Ausschusses nach Art. 253 Abs. 1 Hs. 2, 255 AEUV ergänzt wurde. Tatsächlich haben die Mitgliedstaaten bereits mehrfach vorgeschlagene Kandidat*innen aufgrund negativer Stellungnahmen des Ausschusses zurückgezogen.10) Dennoch erscheint zweifelhaft, ob die Eignungsprüfung durch den Ausschuss ausreichend ist, um die Unabhängigkeit der Richter*innen auf Dauer abzusichern. Denn der Ausschuss vermag die Intransparenz der mitgliedstaatlichen Entscheidungsfindung nicht zu beheben, sondern allenfalls eine*n Bewerber*in aus diesem Grund als ungeeignet einzustufen (GA Emiliou Rs. C-119/23 Valančius Rn. 55). Auch kommt den Stellungnahmen des Ausschusses nach weit überwiegender Ansicht kein verbindlicher Charakter zu.11) Folglich bietet er keine Lösung für Situationen, in denen Mitgliedstaaten versuchen, ihre*n Kandidat*in durch das Blockieren anderer Kandidat*innen durchzusetzen. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass das Besetzungsverfahren des Ausschusses selbst politisiert und dieser in der Folge dazu genutzt werden könnte, sich aufgrund „sachfremder Erwägungen missliebiger Kandidaten zu entledigen“.12)
Fazit
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Richterernennung an den europäischen Gerichten bisher vor allem deswegen funktioniert hat, weil die Mitgliedstaaten „mitspielen“ wollten. Sollte nur eine einzige unionsfeindliche Regierung zu dem Schluss gelangen, dass es ihren Zielen dienlicher ist, die Arbeit der europäischen Gerichte zu obstruieren, so böte das geltende Recht allenfalls schwachen Schutz. Denn bezüglich der innerstaatlichen Auswahlverfahren gelten praktisch keine Vorgaben. Eine Kontrolle der Kandidat*innen auf europäische