Ist der Green Deal der EU nach der Wahl des Europaparlaments verzichtbar?
Eine Skizze im Lichte der strukturellen Koppelung von Politik, Wissenschaft und Recht
Im Zuge der Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) im Juni 2024 ist der Europäische Green Deal (EGD) in die Defensive geraten. Die Stimmungslage, die noch im Umfeld der Wahlen von 2019 herrschte, hat sich verändert. Damals wurde das Ergebnis der Wahlen als Plädoyer der Unionsbürger für eine ambitioniertere Klima- und Umweltpolitik verstanden und aufgegriffen. Aktuell sind andere berechtigte politische Anliegen wie Migration, Sicherheit und wirtschaftliche Stabilität in den Vordergrund gerückt. Nicht verändert hat sich demgegenüber die Klimalage. Nach wie vor drohen die von der Wissenschaft ermittelten planetaren Belastungsgrenzen überschritten zu werden, die nicht zuletzt durch das im internationalen Übereinkommen von Paris rechtsverbindlich verankerte 1,5 bis 2 Grad-Ziel verstärkt politische Relevanz entfaltet haben. Ihr Überschreiten droht ebenfalls mit Blick auf den Verlust von Biodiversität sowie die Verschmutzung und Zerstörung von Wäldern und Ozeanen. Ziel des Konzepts der planetaren Belastungsgrenzen ist es, das Erreichen von irreversiblen Kipppunkten zu vermeiden und einen „sicheren Handlungsraum“ für die Menschheit aufzuzeigen, in dem diese mit hoher Wahrscheinlichkeit stabile Bedingungen des Erdsystems vorfindet. Insoweit geht es um eine Kernaufgabe des Staates, die er in der globalisierten Welt nur noch im Verbund mit der EU erfüllen kann: Die Gewährleistung von Sicherheit, hier ganz konkret der ökologischen Sicherheit. In Konkretisierung der so skizzierten strukturellen Koppelung von Politik, Wissenschaft und Recht kommt dem EGD der EU eine zentrale Bedeutung zu.
Rechtliche Rahmenbedingungen
Der EGD ist zwar ein politisches Gesamtkonzept. Jedoch setzt er internationale Vorgaben um, die dem Pariser Klimaschutzabkommen oder dem Montrealer Rahmenabkommen zum Schutz der Biodiversität mit Blick auf die planetaren Belastungsgrenzen entspringen. Zugleich setzt er in europarechtlicher Hinsicht die Verpflichtung der EU aus Art. 11 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) um, wonach die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen einzubeziehen sind. Durch diese sog. Integrationsklausel ist die EU quasi verfassungsrechtlich verpflichtet, Umweltbelange in alle ihre Politiken zu integrieren und diese umweltverträglich auszugestalten. Dies hat konkret durch ein wirksames, langfristig angelegtes und in sich kohärentes Schutzkonzept in Form eines Leitgesetzes zu geschehen, dessen Umsetzung im Rahmen von Einzelmaßnahmen durch ein Monitoring zu gewährleisten ist.
Aus diesem Rechtsrahmen speist das politische Schutzkonzept des EGD nicht nur seine Impulse, sondern auch seine besondere Innovations- und Wirkkraft. Er stellt eine systematische Überprüfung des gesamten Rechtsbestandes der EU auf seine Übereinstimmung mit den Zielen des Umwelt- und Klimaschutzes dar. Insgesamt wurden im Zuge der einzelgesetzlichen Konkretisierung des EGD mehr als 50 Verordnungen und Richtlinien erlassen. Neben allgemeinen Zielen enthält er Maßnahmen, die vorrangig dem Klimaschutz oder dem Schutz der Biodiversität dienen. Sektoral adressiert der Grüne Deal vor allem die besonders wichtigen Bereiche der Energie, der Industrie, des Verkehrs und der Landwirtschaft.
Klimaschutz durch sektorübergreifendes Leitgesetz
Kern des EGD ist das sog. Europäische Klimagesetz vom Juni 2021, das die Senkung der Netto-Treibhausgasemissionen auf null bis 2050 als Ziel der EU und ihrer Mitgliedstaaten rechtsverbindlich vorschreibt. Dieses erfüllt – insoweit ähnlich dem deutschen Klimaschutzgesetz – die Funktion eines verfassungsrechtlich gebotenen Leitgesetzes, das die europäischen Klimaziele der EU festlegt und deren Einhaltung im Wege eines Monitoringprozesses gewährleistet. Als Zwischenschritt verpflichtet es die EU und ihre Mitgliedsstaaten auf eine Senkung der Netto-Treibhausgasemissionen um 55 Prozent bis 2030.
Um die Rechtsvorschriften der EU an dieses Zwischenziel anzupassen, hat die Kommission das Maßnahmenpaket „Fit für 55“ vorgeschlagen. Neben neuen Maßnahmen im Energie-, Gebäude- und Verkehrssektor enthält das Paket eine Anhebung der bestehenden Emissionssenkungsziele für energieintensive Industrien, die Stromerzeugung und die Luftfahrt im Rahmen des bestehenden EU-Emissionshandelssystems (EU-ETS). In dieses werden nunmehr auch die Emissionen der Schifffahrt einbezogen. Überdies wird ein neues, hiervon getrenntes Emissionshandelssystem für den Bereich Gebäude und Straßenverkehr etabliert. Die Einnahmen aus diesem neu eingeführten Emissionshandel fließen einem Klima-Sozialfonds zu, der die aus dem Emissionshandel folgenden Preissteigerungen für Brenn- und Kraftstoffe für finanziell schwächere Haushalte, Kleinstunternehmen und Verkehrsteilnehmer teilweise kompensieren wird. Mit Blick auf die globale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen ist die Einführung eines CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) hervorzuheben. Mit ihm soll verhindert werden, dass die neuen Klimaschutzmaßnahmen der EU eine Verlagerung von CO2-intensiver Produktion in Staaten außerhalb der EU bewirken.
Konkretisierung durch Instrumentenmix
Das Maßnahmenpaket „Fit für 55“ setzt evidenzbasiert, nach wissenschaftlicher Beratung der Kommission, auf einen Instrumentenmix, der sowohl marktbasierte Maßnahmen als auch hoheitliche Regulierung umfasst. Im Bereich Verkehr und Gebäude setzt die EU einerseits auf das ökonomische Instrument des Emissionshandels. Parallel wurden im Interesse der Planungssicherheit von Industrie und Konsumenten z.B. für den Verkehrssektor neue Flottengrenzwerte beschlossen. Ab 2035 soll eine Emissionsminderung um 100% wirksam werden, was trotz der Technologieoffenheit verkürzt als “Verbrennerverbot” bezeichnet wird. Zugleich legt eine neue Verordnung spezifische nationale Ziele für den Aufbau einer Infrastruktur für alternative Kraftstoffe fest. Durch die Initiativen „REFuelEU Aviation“ und „REFuelEU Maritime“ wird der Anteil nachhaltiger Kraftstoffe am Gesamtkraftstoffverbrauch im Luftverkehr und in der Schifffahrt erhöht.
Im Energiesektor ist im Rahmen des „Fit für 55“- Pakets vor allem eine Überarbeitung der Richtlinie über die Förderung von Energie aus erneuerbaren Quellen erfolgt. Auch die Richtlinie zur Energieeffizienz wurde überarbeitet. Gleichwohl bleibt auch im Energiesektor eine Beschleunigung der Emissionssenkungen erforderlich, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Problematisch ist allerdings, dass ein von der Kommission im Rahmen des EGD vorgelegter Vorschlag zur Harmonisierung der Energiebesteuerung in der EU, der die Kohärenz mit der europäischen Umwelt- und Klimapolitik stärken sollte, am anhaltenden Widerstand der Regierungen der Mitgliedsstaaten im Rat gescheitert ist.
Im Industriebereich ist vor allem der 2020 vorgestellte Neue Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft hervorzuheben. Dieser umfasst verschiedene Einzelmaßnahmen, um den Verbrauch von Primärmaterialien zu senken und den Lebenszyklus von Produkten nachhaltiger zu gestalten. In diesem Rahmen wurde nur wenige Tage vor den Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 die neue Ökodesign-Verordnung beschlossen, die unter anderem verpflichtende Vorgaben zur Haltbarkeit, Recycelbarkeit, Ressourceneffizienz und Umweltinformation für bestimmte Endprodukte enthält. Eine ähnliche Zielrichtung verfolgen in anderen Bereichen eine neue Verordnung über nachhaltige Verpackungen und über nachhaltige Batterien.
Im Landwirtschaftsbereich wird der EGD vor allem durch die 2020 vorgelegte Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ geprägt. Insoweit besteht eine Schnittmenge zur Biodiversitätsstrategie der EU. Diese sieht in Umsetzung des völkerrechtlichen Montrealer Global Diversity Frameworks als zentrale Elemente unter anderem Maßnahmen zum Schutz der Umweltmedien Boden, Wasser und Luft sowie die Wiederherstellung eines guten Zustandes von Meeresökosystemen und Wäldern vor. Ein Schlüsselelement der Biodiversitätsstrategie, das sog. Renaturierungsgesetz wurde im Zuge der Bauernproteste abgeschwächt und wurde nach Zustimmung des EP vom Rat der EU am 17. Juni mit knapper Mehrheit beschlossen.
Die Zukunft des EGD für die Zeit von 2024-2029
Mit dem EGD ist es der Kommission gelungen, im Einklang mit den Vorgaben des Art. 11 AEUV ein Schutzkonzept zur Verbesserung des Klimaschutzes, der Biodiversität und des Umweltschutzes vorzulegen. Zugleich sind die 2019 im Programm angekündigten Einzelmaßnahmen von der Kommission vorgeschlagen und zum großen Teil von EP und Rat beschlossen worden. Nunmehr kommt es aber entscheidend auf deren Umsetzung und Anwendung an. Das “law in the books” muss zum “law in action” werden. Insoweit sind primär die Mitgliedstaaten zuständig. Der Kommission obliegt zusammen mit dem Gerichtshof der EU als “Hüterin des Rechts” die Kontrolle, wobei sie seit Anfang der 1960er Jahre auf die Mobilisierung der Unionsbürger für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts im Verbund mit den nationalen Gerichten zählen kann.
Andererseits verfehlt die EU weiterhin ihre eigenen, verschärften klimapolitischen Ziele. An den heftigen und noch nachwirkenden Auseinandersetzungen um die Verschärfung der Flottengrenzwerte und das sog. „Verbrennerverbot“ zeigt sich, wie schwer es politisch sein kann, das rechtlich gebotene, langfristig angelegte Schutzkonzept des EKD im politischen Alltag der Interessenkonflikte umzusetzen. Nicht anders liegt es in den Schlüsselbereichen der Landwirtschaft und des Biodiversitätsschutzes. Vor diesem Hintergrund könnte auf europäischer Ebene die Einführung von Nachhaltigkeitsbeauftragten in den Generaldirektionen der Kommission und die Umformung des beratenden europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses in einen Europäischen Nachhaltigkeitsrat für ein besseres Monitoring des EGD sorgen.
Zugleich könnte es hilfreich sein, wenn die EU ihren Instrumentenmix im Sinne der Vorgaben des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips flexibler gestaltet. Einerseits könnten vermehrt ökonomische Instrumente zum Einsatz kommen, z.B. in Form einer kontinuierlich steigenden europaweit harmonisierten CO2-Steuer. Voraussetzung ihrer Wirksamkeit ist allerdings, dass die Preissignale den Unionsbürgern von der Politik transparent kommuniziert und dann auch durchgehalten werden, schlussendlich also nicht aus Sorge vor “Gelbwesten” zurückgenommen oder – wie im Falle eines allgemeinen Tankrabatts – konterkariert werden. Insoweit geht es um Glaubwürdigkeit und Planungssicherheit.
Diesem Ziel kann auch das Ordnungsrecht dienen. Damit dieses jedoch nicht zum Innovationshindernis wird, muss es um “kluge” Regulierung gehen. Zwischen den Extremen der gegenseitigen Anerkennung auf der Grundlage des Herkunftslandprinzips auf der einen Seite und der strikten Harmonisierung durch die Setzung von Standards auf der anderen Seite können verschiedene Formen der Rechtsetzung genutzt werden. So könnten europäische Rechtsakte entweder der nationalen Ebene eine Berücksichtigung alternativer, weniger belastender Lösungen erlauben oder sich stärker auf Ergebnisse konzentrieren, anstatt detailliert die Maßnahmen vorzugeben. Denkbar ist auch ein sog. Anfechtungsrecht, das es nationalen Behörden ermöglicht, bei der Kommission eine Ausnahme von einer existierenden Regel zu beantragen. In diesem Zusammenhang könnten “Benchmarking” und “Best Practice” zur Anwendung kommen, im Zuge derer eine vergleichende Bewertung und darauf basierend die Identifizierung des besten mitgliedstaatlichen Regulierungsansatzes ermöglicht wird, der dann zum europäischen Maßstab werden kann. Schließlich könnten europäische Rechtsakte, die komplexe und noch ungewisse Sachverhalte betreffen, mit sog. “Sunset Clauses” versehen werden, die einen neuen regulatorischen Ansatz ermöglichen, aber zu dessen Überprüfung und Bestätigung nach einem bestimmten Zeitraum verpflichten.
Im Ergebnis sollte der EGD künftig stärker als “living instrument” begriffen werden, das in einem lernenden Prozess angepasst und fortentwickelt wird. Zugleich ist der EGD aufgrund seiner strukturellen Koppelung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu den planetare Grenzen und den Vorgaben des Rechts, konkret der von EU und Mitgliedstaaten eingegangenen