Kein Anlass zur Schonung
Das Bundesverfassungsgericht, genauer der Zweite Senat mit Peter M. Huber als Berichterstatter, hat mit seinem Beschluss zum Berliner Mietendeckel eine konservative Entscheidung gefällt. Konservativ ist sie nicht allein ihrer für Menschen mit Kapital erfreulichen und Menschen ohne Kapital verheerenden Folgen wegen, sondern auch und vor allem in ihrer Interpretation und Ausgestaltung der Verfassungsordnung: Das Land Berlin mag geglaubt haben, dass es mit seinem Gesetz den in den völligen Irrsinn spiralenden Berliner Immobilienmarkt reguliert, aber nichts da; in Wahrheit ist die Miethöhe allein eine Frage des privatautonomen bürgerlichen Verträgeschließens, die seit den Tagen des 19.-Jahrhundert-Liberalismus abschließend im Bürgerlichen Recht auf Bundesebene beantwortet wird, was als “Staatspraxis und Regelungstradition” auch für Gegenwart und Zukunft maßgeblich bleibt. Was ist konservativ, wenn nicht das?
Darf man das so offen sagen? Oder stellt man damit die Integrität des Bundesverfassungsgerichts in Frage?
Das Problem des BVerfG als politischer Akteur und der BVerfG-Kritik als politisches Instrument ist so alt wie das Gericht selbst. Das Gericht hat Streitigkeiten zwischen politischen Akteuren zu entscheiden, die sich im Spannungsfeld zwischen konservativ und progressiv abspielen, und dabei der einen oder der anderen Seite die Rolle des Siegers oder Verlierers zuzuweisen. Wie bei anderen Gerichten auch hängt seine Akzeptanz davon ab, wie gut es ihm gelingt, auch dem jeweiligen Verlierer davon zu überzeugen, dass es nur das Recht ist und nicht die Macht, dem er seine Niederlage verdankt. Das ist für Verfassungsgerichte noch anspruchsvoller als für reguläre Gerichte, weil vor ihnen um die Regeln und Verfahren gestritten wird, die in der Demokratie den Spannungsbogen zwischen konservativ und progressiv überhaupt erst möglich machen. Deswegen wird es sofort gefährlich für die Demokratie, wenn der Eindruck entsteht, das Gericht sei selbst eins von beiden.
Das ließ sich die längste Zeit dadurch vermeiden, dass man auf Proporz achtete: A-Länder und B-Länder, roter Erster und schwarzer Zweiter Senat und in beiden jeweils ein möglichst klares Übergewicht von beiderseits konsensfähigen Middle-of-the-Road-Richter_innen, grosso modo gleicht sich alles aus, you win some, you lose some. Diese Balance wird bekanntlich immer prekärer, und die Gründe dafür sind wohl bekannt: Die binäre Rot-Schwarz-Logik funktioniert nicht mehr; nach der SPD scheint es jetzt in der anbrechenden Post-Merkel-Ära auch der Union an den Kragen gehen, wenn sie ihren Anspruch auf das Kanzleramt und damit ihre eigentliche raison d’être verliert. Um das Vakuum zu füllen, wird sich dann womöglich auch hier irgendein charismatisches Fernsehgesicht finden, wie in so vielen anderen Ländern von den USA bis zur Ukraine auch, der sich erfolgreich als Hoffnung für Volk und Vaterland und als Einheitsstifter der gespaltenen Nation inszeniert (gebremst allerdings durch die Besonderheiten des deutschen Parteienrechts, das es Ein-Mann-Bewegungsparteien nach dem Macron-Muster schwerer macht). Spätestens dann werden auch wir eine Debatte über das Bundesverfassungsgericht als undemokratische Bastion alter Eliten bekommen, und wie schnell dann der Schlitten auf dem Weg bergab ins Tal des Autoritarismus Fahrt aufnehmen kann, habe ich in meinem Volkskanzler-Stück 2019 durchgespielt.
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Ist in dieser Situation das BVerfG der Schonung bedürftig? Schon im letzten Jahr, nach dem mindestens ebenso umstrittenen PSPP-Urteil, hielten viele, auch innerhalb des Gerichts, die Grenze verantwortbarer Kritik für überschritten. So derb auf das Gericht einzuprügeln, während drüben in Polen und in Ungarn die Verfassungsgerichte zu unterwürfigen Instrumenten der autoritär-populistischen Regierung deformiert werden, verbiete sich aus Respekt vor der Institution. Ich halte, wenig überraschend, das Gegenteil für richtig. Je weiter sich ein Verfassungsgericht in einer Entscheidung politisch raushängt, desto mehr gebietet es der Respekt vor der Institution, ihm dabei nichts durchgehen zu lassen.
Davon scharf zu unterscheiden ist aber eine andere Art von Verfassungsgerichts-“Kritik”, die in Wahrheit gar keine ist: die Unterstellung, das Gericht werde vom politischen Gegner gesteuert. Wenn beispielsweise Alexander Fischer, linker Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales, am Tag der Verkündung des Mietendeckel-Beschlusses in einem (mittlerweile gottlob reuevoll gelöschten) Tweet hervorhebt, dass zwei der acht Richter_innen im Zweiten Senat ehemalige CDU-Politiker sind, dann ist das keine Kritik an den konservativen Entscheidungsgründen, sondern ein Argument ad hominem, das anstelle der Überzeugungskraft der Gründe deren Motive in Zweifel zieht. Das ist deshalb so zerstörerisch, weil es als selbsterfüllende Prophezeiung wirkt: Ist das Gericht erstmal mit dem politischen Gegner identifiziert, dann folgt daraus mühelos die Notwendigkeit, den Gegner aus dieser Position zu verdrängen und sie selbst einzunehmen. So führt man exakt den Zustand herbei, den man beklagt.
Das Ergebnis kann man in Polen sehen, wo das sogenannte “Verfassungsgericht” sich schon längst zu gar nichts mehr zu schade ist, wenn es nur dem Willen der Regierungsparteien dient. In dieser Woche hat diese Institution ihre Nützlichkeit für die PiS-Regierung dadurch unter Beweis gestellt, dass sie ihr den Bürgerrechts-Kommissar Adam Bodnar vom Hals geschafft hat, die letzte unabhängige Säule der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Dessen Amtszeit war abgelaufen, und weil in der Zweiten Kammer des polnischen Parlaments die Regierung keine Mehrheit hat, konnte bisher keine Nachfolger_in gewählt werden. Jetzt hat das “Verfassungsgericht” kurzerhand geurteilt, dass die kommissarische Weiterführung des Amts durch Bodnar mit der Verfassung unvereinbar ist. Näheres zu der Entscheidung demnächst.
Damit aber nicht genug: Laut RuleofLaw.pl hat Premierminister Mateusz Morawiecki in dieser Woche beim “Verfassungsgericht” einen 129-seitigen Antrag eingereicht, um “endlich das Verhältnis zwischen EU-Recht und polnischem Verfassungsrecht zu klären”. Gemeint ist, dass alles im EU-Vertrag für verfassungswidrig und unbeachtlich erklärt werden soll, womit der EuGH die Unabhängigkeit der Justiz in Polen kontrollieren könnte. Einen solchen Umgang mit dem Vorrang des EU-Rechts wird auch die dialogfreudigste EU-Kommissar_in nicht mehr als Anlass zu schwerer Besorgnis, der genau beobachtet werden muss, verniedlichen können. Polexit, here we come.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Zunächst noch einmal der Hinweis auf unseren Call for Papers: Wir sammeln im Rahmen unseres BMBF-geförderten Projekts “Offener Zugang zu Öffentlichem Recht” (OZOR) Essays und Erfahrungsberichte, wie Rechtswissenschaftler_innen in der Corona-Krise ihren Zugang zu Publikationen und Publikationsmöglichkeiten erlebt haben. Näheres dazu hier.
Was den BVerfG-Beschluss zum Mietendeckel betrifft, so haben wir uns um konstruktive Kritik wahrhaftig redlich bemüht in dieser Woche. TIM WIHL macht aus seiner Wut über dieses formalistische „Fehlurteil“, das im Kern mit einer „wiederbelebten, aber schon immer falschen public private distinction“ operiere, keinen Hehl. SELMA GATHER und FLORIAN RÖDL, letzterer Verfahrensbevollmächtigter des Landes Berlin, legen noch einmal dar, warum aus ihrer Sicht das Gericht die “ungünstigste, verfassungspolitisch sowie praktisch folgenreichste Entscheidung” getroffen habe, “die in der Sache denkbar war”. JAN-ERIK SCHIRMER hingegen hält für denkbar, dass das Bundesverfassungsgericht in Wahrheit die Tür zu einem sozialen und nachhaltigen Privatrecht weiter aufgestoßen habe. Dazu jede Menge kontroverser Kommentare, worunter ich den von RALF MICHAELS besonders instruktiv fand.
Gleich zwei Gerichte haben am 24. März 2021 dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob das geltende, mehrheitlich biologistisch verstandene Abstammungsrecht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Es geht um die Frage, ob das Kind zweier verheirateter Frauen beide als Eltern haben kann. Die Verfahren könnten der Auftakt für ein grundlegendes Umdenken rechtlicher Elternschaft sein, meint BERIT VÖLZMANN.
Bundesverkehrsminister Scheuer sorgt für Ärger im Bundestag, weil er dem Ermittlungsbeauftragten des PKW-Maut-Untersuchungsausschusses keinen Einblick in seine Abgeordnetenmails gewährt. PAUL J. GLAUBEN analysiert die rechtlichen Hintergründe und kommt zu dem Schluss, dass das Recht in diesem Fall in der Tat auf der Seite des Ministers des Bundestagsabgeordneten Scheuer ist.
In der ersten Beratung des Bundestags zum Lobbyregistergesetz waren sich CDU-Abgeordnete und die Mehrzahl der Sachverständigen einig: Transparenz habe keinen Verfassungsrang. TASSILO SCHRÖCK und FILIPP RUZIN widersprechen. Die transparente Gestaltung von Lobby-Tätigkeit könne sich auf das Demokratieprinzip stützen.
In Hongkong wird gerade das Wahlrecht nach dem Willen Pekings umgestaltet. SIMON N. M. YOUNG hat Zweifel, ob die Reformen notwendig und verhältnismäßig sind, um die beabsichtigten Ziele zu erreichen.
Im Vereinigten Königreich zeigt sich nach vollzogenem Brexit, an welchen Stellen die traditionell so stabile britische Verfassungsordnung akut bedroht ist, aus den Fugen zu gehen – allen voran die Frage der Unabhängigkeit Schottlands, wo nächsten Monat gewählt wird. In der Analyse von COLM O’CINNEIDE spielt Premierminister Johnson ein hoch riskantes Spiel mit der britischen Verfassung, folgt dabei aber weniger dem populistischen Script als dem Drang, zu älteren Modellen des konstitutionellen Regierens zurückzukehren.
Dem Thema Rassismus in der britischen Gesellschaft widmet sich ein Regierungsbericht, der beim besten Willen keinen solchen erkennen kann. EDDIE BRUCE-JONES sieht den Bericht als Alarmsignal: Wenn man die Maßstäbe für Rassismus verändert, findet man auch keinen.
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In Kirgisistan wurde am 11. April praktisch eine neue Verfassung verabschiedet. Sie ist von einer Rückkehr zur „Tradition“ gekennzeichnet, was laut ASYLAI AKISHEVA viel weitreichendere Ambitionen kaschiert. Die Rechte der kirgisischen Frauen werden unter der neuen Verfassung besonders leiden.
Malaysia hat ein Anti-Fake-News Gesetz verabschiedet, um härter gegen Covid-19 Misinformation vorgehen zu können. Wie so oft, wird auf das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz verwiesen, um harte Eingriffe in die Meinungsfreiheit zu rechtfertigen. LASSE SCHULDT erklärt, wie es dazu kommen konnte.
Am vergangenen Donnerstag entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu Gunsten der Impfpflicht für Kinder in der Tschechischen Republik. ZUZANA VIKARSKÁ analysiert fünf Schwachstellen der Urteilsbegründung.
Eine wichtige Säule der australischen Reaktion auf die COVID-19-Krise war die Schließung der Grenzen. Da die australische Verfassung keinen ausdrücklichen Rechtekatalog enthält, haben sich die im Ausland gestrandeten Australier_innen nun als letzten Ausweg an die Vereinten Nationen gewandt. LIZ HICKS findet, dass Australien sich damit einmal mehr auf politische und nicht auf rechtebasierte Mechanismen verlässt.
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Unser Online-Symposium zur Verfassungsexpertise im politischen Raum haben wir mit zwei Artikeln aus der Schweiz abgeschlossen, von ODILE AMANN zu “Wissenschaftsfreiheit als Pflicht zur Ergebnisoffenheit” und von EVELINE SCHMID zur Äußerung von Rechtswissenschaftler_innen auf Twitter aus Anlass neuer Richtlinien der Uni Bern dazu.
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Soweit zu unserem Output diese Woche. In unserer Crowdfunding-Kampagne ist es uns immer noch nicht ganz gelungen, die Zielmarke von 4000 € zu überspringen. Bei 3.953,50 € liegen wir aktuell, um genau zu sein, dank der Unterstützung von gegenwärtig 651 Steady-Mitgliedern. Schaffen wir es diese Woche? Es fehlt nicht mehr viel. Das kriegen wir hin, oder?
Ihnen alles Gute, vielen Dank und bis bald,
Ihr
Max Steinbeis